Читать книгу Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick - Группа авторов - Страница 9
Die Arbeit am Cullmann-Archiv 1999–2009
ОглавлениеUnser Basler Symposium im Juni 2009, zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod, soll Rechenschaft ablegen über die bisherige Arbeit am Nachlass und Anregungen geben für die weitere Arbeit am wissenschaftlichen und geistigen Erbe des Lehrers und Freundes, die mit diesem Sommer in ein neues Stadium eintrat. Anlass ist die Überführung und Öffnung des Cullmann-Archivs in Basel, der wichtigsten akademischen Wirkungsstätte von Oscar Cullmann. Mit der Übernahme des Archivs durch die Universitätsbibliothek Basel ist Wirklichkeit geworden, was nachdenkliche und interessierte Zeitgenossen schon lange erhofft hatten: Die Cullmann-Papiere, einer der bedeutendsten theologischen Nachlässe des 20. Jahrhunderts, haben eine Heimat gefunden, in der sie der Bearbeitung und der Forschung in angemessener und verantwortlicher Weise zugänglich gemacht werden können. Schon während der letzten Lebensjahrzehnte ist dem grossen Gelehrten dieser Schritt immer wieder nahegelegt worden, und er hat darüber nachdenken müssen. In einem Brief vom 10. Januar 1989, den sein geschätzter Verleger Georg Siebeck nach einem meiner Besuche bei ihm in Tübingen an ihn schrieb, heisst es:1
«Beiläufig erzählte mir Herr Froehlich […] von Ihren Plänen einer Stiftung Villa Alsatia. Ohne daß ich die näheren Umstände kenne und nur, weil ich in letzter Zeit Zeuge der Schwierigkeiten beim Ordnen eines literarischen Nachlasses geworden bin (Max Weber,2 Rudolf Bultmann3), gebe ich meinen |12| spontanen Gedanken dazu Ausdruck. Daß das Haus in der sicher traumhaften Umgebung von Chamonix, das ich ja leider immer noch nicht kenne, auch später einmal für Theologen offenstehen soll, finde ich großartig. Zur Erholung wird dies sicher auch langfristig ein herrliches Domizil sein. Zum wissenschaftlichen Arbeiten wird die Eignung stark davon abhängen, wie weit dort allgemeine und theologische Fachliteratur zur Verfügung steht, und zwar eben auch neuere. Daß Ihr literarischer Nachlaß (Manuskripte, Korrespondenz) auch in Chamonix gesammelt werden soll, hat mich dagegen etwas beunruhigt. Wird es dort wirklich auf Dauer sichergestellt sein, daß er auch entsprechend verwaltet und zugänglich gehalten wird? Ist er dort nicht einfach zu weit von den sonstigen Zentren theologischer Forschung entfernt? – Spontan würde ich meinen, der literarische Nachlaß eines Gelehrten gehört auch in eine Universitätsstadt und da fällt mir bei Ihnen an erster Stelle Straßburg, an zweiter Stelle Basel und an dritter Stelle Paris ein.»
Um diese Zeit hatte Oscar Cullmann bereits anders entschieden. In seinem Testament vom 5. April 1988 hatte er die Fondation de France als Universalerbin eingesetzt und bestimmt, dass der gesamte wissenschaftliche Nachlass samt allen Büchern in sein geliebtes Landhaus – in der Tat «in der traumhaften Umgebung» am Montblanc gelegen – verbracht werden und den Grundstock eines dort einzurichtenden ökumenischen Arbeits- und Begegnungszentrums bilden sollte.4 Der Plan war kühn, grosszügig und genau durchdacht. Im Archiv existiert ein undatiertes zweiteiliges Dokument aus den letzten Lebensjahren, wahrscheinlich Ende 1995, welches das Traumprojekt in allen Einzelheiten beschreibt.5 Bei Cullmanns Vorstellungen standen offensichtlich seine Erfahrungen mit anderen theologischen Lebensgemeinschaften Pate: mit dem Thomasstift in Strassburg, dem Alumneum in Basel, dem Ökumenischen Institut in Tantur.6 In der herrlichen Bergwelt mit ihrer guten Luft, ihren Naturschönheiten und dem grossen Wald sollte nicht nur Erholung gesucht, sondern ökumenisch diskutiert, geforscht und geschrieben werden in einem Rahmen, in dem für alles gesorgt war. Tägliche Andachten und gemeinsame Mahlzeiten waren genauso vorgesehen wie Spaziergänge im Wald, Ausflüge und Klausurmöglichkeiten im Haus. Zum vorgesehenen Personal gehörten Köchin und Gärtner, Archivar und Programmdirektor, |13| und alles das war möglich, denn – so die optimistische Einschätzung – Geld genug war vorhanden.
Im Jahr 1999 befand sich dieses Dokument in den Händen einer Reihe jüngerer Theologen und Freunde Cullmanns, die er selber als Mitglieder einer zweiten Stiftung, der Fondation œcuménique Oscar Cullmann, benannt hatte.7 Cullmann wusste sehr wohl, dass die Fondation de France seine Pläne zwar wohlwollend zur Kenntnis nehmen würde, selber aber nicht kompetent war, sie auszuführen. So hatte er 1994 neben der Fondation Cullmann im Schoss der Fondation de France diese zweite Stiftung errichtet, die für die Verwirklichung seiner Pläne verantwortlich sein sollte. Seine Grundüberlegung war sehr einfach: Das Einkommen des von der Fondation de France verwalteten und, wie er meinte, stattlichen Vermögens sollte die finanziellen Mittel bereitstellen, mit deren Hilfe die zweite Stiftung sich um Programm und Pflege seines geistigen Erbes in Chamonix und darüber hinaus kümmern würde.
Der Siebeck-Brief von 1989 spricht bereits sehr deutlich die sachlichen Probleme dieses Konzepts an. Genügt eine Hausbibliothek als Arbeitsinstrument für wissenschaftliche Projekte? Kann der literarische Nachlass in Chamonix sicher aufbewahrt, sachgemäss erschlossen und der Forschung zugänglich gemacht werden? Die Erfahrung der vergangenen zehn Jahre hat die Berechtigung dieser Fragen bestätigt. Viel schwerer wiegend war freilich die Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Grundlage des utopischen Unternehmens. Im erwähnten Dokument erklärt Cullmann: «Die Unterhaltskosten des Anwesens (Haus und Wald) seit 1951 sind im Durchschnitt unendlich viel geringer als die Zinsen des Kapitals […], das die Fondation de France erben wird.»8 Die Wirklichkeit sah anders aus. Von Anfang an verschlangen die zur Instandhaltung der Villa erforderlichen Kosten fast vollständig die jährlichen Erträge des der Fondation Cullmann im Schoss der Fondation de France zur Verfügung stehenden Vermögens, und schon in der Frühphase |14| der gegenwärtigen Finanzkrise im Herbst 2008 war der Gesamtwert des Restvermögens auf weniger als 800 000 Euro geschrumpft. Die Fondation de France hat immer wieder versucht, im Bewusstsein ihrer eigenen Verantwortung, die Bemühungen der Fondation œcuménique Oscar Cullmann zur Pflege des geistigen Erbes Oscar Cullmanns zu unterstützen und hat auch zur Ausrichtung dieses Symposiums finanziell beigetragen. Aber es ist nicht zu leugnen, dass sie unter den gegenwärtigen Umständen nicht auch noch das Haus halten kann, wenn sie in erster Linie sachliche Cullmann-Projekte fördern soll.
Bis vor wenigen Jahren hat die Fondation œcuménique unter ihrem ersten Präsidenten Matthieu Arnold und seit Januar 2005 unter meiner Leitung versucht, den Gedanken vom Cullmann-Zentrum in Chamonix wenigstens als Zukunftsplan aufrechtzuerhalten, hat sich aber in Ermangelung finanzierbarer Alternativen auf die Erschliessung des Nachlasses konzentriert. Die Anfänge gehen auf den Sommer 1999 zurück, als mich während eines kurzen Europa-Aufenthalts ein Anruf aus Basel erreichte mit der Bitte, der Fondation de France bei der Schätzung der Cullmann-Papiere zu helfen. Beim ersten Termin in der Wohnung an der Birmannsgasse9 wurde deutlich, dass die Vertreterin der Pariser Stiftung nur eine sehr ungenaue Vorstellung von der Art dieses der Fondation de France zugefallenen Erbes hatte. Ich musste ihr erklären, was ein «Theologe» ist und tut. Als der Anblick eines überfüllten Bücherregals sie zur Frage veranlasste: «Ist schon so viel über ihn publiziert worden?», war die Überraschung gross, als ich ihr sagte: «nicht über ihn, sondern von ihm!», und auch die handschriftlichen Widmungen von drei Päpsten in einigen prächtigen Geschenkbänden verfehlten ihre Wirkung nicht.10 Was die Dame eigentlich wissen wollte, war der Geldwert des Ganzen und der Umfang dessen, was zu behalten und was als Altpapier auszuscheiden sei. Nach drei Tagen, in denen ich mir einen Überblick über das Vorhandene verschaffte, war die Antwort klar: Einen Geldwert habe der Papierberg nicht, erklärte ich, aber die gelehrte Welt würde es der Fondation de France nie verzeihen, wenn auch nur ein Blatt weggeworfen würde. Es handle sich um einen bedeutenden Gelehrtennachlass, wie man ihn nur selten zu Gesicht bekommt, und der müsse erhalten bleiben. Das Argument hatte die gewünschte Wirkung. Meine Stichproben hatten mich überzeugt, dass praktisch alles Schriftliche aus Cullmanns langem Leben aufbewahrt |15| worden war und es damit eine das gesamte 20. Jahrhundert umspannende einzigartige Quelle der Theologie- und Kulturgeschichte zu retten galt.
Im Herbst 1999 verpackten Armin Mettler und ich, unterstützt von Mathieu Arnold und der langjährigen Cullmann-Freundin Ingalisa Reicke,11 den gesamten vorhandenen Bestand an Papieren, Büchern und Dokumenten grob sortiert in 133 Kartons, die mitten im Winter von einer Basler Transportfirma nach Chamonix transportiert und im Keller der Villa Alsatia aufgestapelt wurden. Im Haus bestand die erste Aufgabe darin, dem Archiv den nötigen Platz zu schaffen. Im Oberstock richteten wir die ehemalige Zweitküche mit geschenkten und billig beim Althändler erstandenen Registraturkästen als Archivraum ein. Das vorher kaum benutzte Familienzimmer daneben, ausgestattet mit den Möbeln aus der Basler Studierstube und dem Strassburger Familientisch als Zentrum, diente als Arbeitsraum. Das Auspacken begann mit den Bücherkartons. Die Sammlung der Veröffentlichungen Oscar Cullmanns füllte den grossen Bücherschrank im Arbeitsraum. Ausgehend von den gedruckten Bibliographien von Willy Rordorf (1962), Heiko Heck (1972), und Matthieu Arnold (1992 und 1999) stellte ich in einer elektronischen Datei eine neue Gesamtbibliographie zusammen, die heute 833 Nummern umfasst.12 Jedes Buch und jeder einzelne Aufsatz, gleich in welcher Sprache, erhielt eine annähernd chronologisch bestimmte Ordnungszahl, die wir auf die vorhandenen Archivexemplare aufklebten. Der Hausherr hatte im Hinblick auf den Plan eines Cullmann-Zentrums in der Villa Alsatia schon zu seinen Lebzeiten in den meisten Zimmern Bücherregale einbauen lassen. Auf diesen stellte ich die Arbeitsbibliothek, von der leider kein Katalog existiert, nach Sachgebieten geordnet auf, soweit Platz vorhanden war. Einige Kategorien wie die patristische Literatur und vor allem die Sammlung der (grob geschätzt) 10 000 Sonderdrucke blieben bis zum Schluss ungeordnet in ihren ursprünglichen Kartons. Mit der Aufstellung der Veröffentlichungen und der Bibliothek im Haus war das wichtigste Arbeitsinstrument geschaffen, an der sich die Aufarbeitung des Archivmaterials orientieren musste.
Die eigentliche Arbeit an den Papieren begann im Frühjahr 2000. Es muss hier daran erinnert werden, dass diese Arbeit unter alles andere als idealen Bedingungen geleistet wurde. Die Hauptlast fiel mir als «Ruheständler» zu, aber angesichts vielfältiger anderer Verpflichtungen und Projekte in Europa und den USA, wo ich meinen eigentlichen Wirkungskreis hatte und |16| noch habe, konnte ich immer nur ab und zu Zeit für das enorme Projekt frei machen. Über die Jahre waren es in der Regel zwei oder drei Blöcke von zwei bis vier Wochen pro Jahr, die ich im Archiv verbringen konnte. Natürlich hatte ich wertvolle Hilfe. Im Sommer 2001 kam Willy Rordorf für vier bis fünf Tage und verzeichnete eine Reihe von Manuskripten. Im gleichen Jahr war Matthieu Arnold für zehn Tage im Haus und arbeitete an den Briefen des Kartons 73. Seit 2006 kümmerte sich Armin Mettler in eigener Verantwortung um die Erschliessung des Materials zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Armin Mettler war es auch, der sich von Anfang an getreulich und kompetent der praktischen Seiten unseres Arbeitslebens in der Villa annahm. Wenn er da war, sorgte er für eine anständige Küche, reparierte das Nötige und hielt Haus und Garten in Ordnung. Er hielt die Verbindung zu den örtlichen Bekannten, verhandelte mit den Handwerkern und schaufelte bei Schneefall den Pfad zur Strasse frei. Ohne ihn wäre nichts gelaufen, auch nicht die Verpackung und der Transport des Archivs nach Basel im Frühjahr 2009. Es kamen andere Erschwernisse hinzu. Für die Arbeit benutzten wir unsere eigenen Computer, Drucker und Büromaterialien. Ein Scanner oder eine Kopiermaschine waren nicht vorhanden, und zur Erledigung von E-Mail und Recherchen im Internet mussten wir in den Ort gehen, wo das Touristenbüro freien Internetzugang anbot.
Die Systematik der Bearbeitung des Nachlasses war anfangs denkbar einfach. Wir öffneten einen Karton nach dem andern und versuchten, seinen jeweiligen Inhalt zu sortieren und dann elektronisch in Computerdateien zu verzeichnen. Ich hatte schon früh eine vorläufige Liste von 45 Sachkategorien zusammengestellt, die alle in den Glasschränken des Arbeitsraums ihren Platz erhielten und sich langsam füllten. Das Problem war, dass in der Basler Wohnung nur einiges wenige geordnet vorlag. Das meiste Material fand sich überall verstreut und sorgte beim Auspacken immer wieder für Überraschungen. Es ist mir eine gewisse Genugtuung, dass die vorläufige Einteilung sich im Ganzen bewährt hat. Das von der Universitätsbibliothek jetzt eingerichtete «Findbuch», das nach den Regeln moderner Nachlassbearbeitung mit der ihr eigenen Systematik angelegt ist und die Benutzung der Materialien ermöglicht, liess sich aufgrund dieser intuitiven Vorarbeit ohne grosse Schwierigkeiten herstellen.13
Als eine genügende Anzahl von Kartons geöffnet und ihr Inhalt auf die entsprechenden Stösse von Papieren verteilt war, ging es an die Analyse des Materials. Es war uns klar, dass die wichtigsten und umfangreichsten Kategorien die Manuskripte und die Korrespondenz sein würden. Wir fassten |17| den Begriff «Manuskripte» sehr weit und ordneten hier alles von Oscar Cullmann selbst Geschriebene ein, vom Einzelblatt bis zum vollständigen Buch- oder Vorlesungsmanuskript. Auch alle seine erhaltenen Briefentwürfe und -kopien gehörten ursprünglich hier hin. Anfangs begnügten wir uns mit sehr kurzen Inhaltsangaben in einer sich ständig erweiternden Computerdatei. Die Durchsicht der ersten Vorlesungsmanuskripte zwang aber schon bald zu einer sehr viel eingehenderen Beschreibung, und am Schluss bestand die Datei aus etwa 700 chronologisch geordneten Einträgen, die auf zwei Zeilen Datum, Sprache, Schriftform (Handschrift oder Maschinenschrift), Umfang, Genre und Titel angeben und dann mehr oder wenig ausführliche Anmerkungen zum Inhalt bieten. Die Originale liegen in Mappen, deren Etiketten die ersten zwei Datenzeilen kopieren und in die ein Beschreibungsblatt mit diesen Angaben und den Anmerkungen eingelegt ist. Als in den letzten Jahren deutlich wurde, dass doch mehr Briefkopien und -entwürfe von Cullmanns Hand vorhanden sind, als wir annahmen, wurden die Briefmanuskripte Oscar Cullmanns als Sondergruppe unter die Korrespondenz eingereiht.14 Diese Sondergruppe könnte noch beträchtlich wachsen, wenn, wie es dankenswerterweise schon anlässlich des Symposiums zum 100. Geburtstag im Jahr 2002 der Fall war, möglichst viele Freunde und Bekannte ihre an sie gerichteten Cullmann-Briefe im Original oder in Fotokopien dem Archiv zur Verfügung stellen würden.
Die Gesamtkategorie «Korrespondenz» selbst ist ausserordentlich umfangreich. Zwar schrieb Cullmann alle Korrespondenz von Hand15 und in der Regel eben ohne Kopie oder Durchschlag, so dass das Archiv weitgehend ohne die eine Seite des Briefwechsels auskommen muss. Trotzdem sind die Briefe seiner Korrespondenten fast vollständig vorhanden. Cullmann warf praktisch keine erhaltene Post fort. Wir fanden viele Briefe geöffnet in ihren ursprünglichen Umschlägen, freilich meist ohne die Briefmarken, welche die Cullmanns für ihre Sammlungen auszuschneiden pflegten. Ihre Briefmarkensammlungen, einschliesslich der vom Schwager Fritz Klein16 geerbten, hat die Fondation de France schon 1999 verkauft. Es existieren vier Gruppen von Mappen mit Korrespondenz. Abgesehen von der bereits erwähnten Sondergruppe der Briefe Cullmanns besteht die Hauptgruppe aus etwa 1700 |18| alphabetisch geordneten Mappen von Korrespondenten, in denen jeweils gesammelt ist, was als von diesen Personen an Cullmann geschrieben identifiziert werden konnte.17 Bis in die letzten Monate der Archivarbeit tauchten immer wieder neue Briefpakete und Einzelbriefe auf, wenn andere Kategorien bearbeitet wurden. Aus diesem Grund ist der Inhalt dieser Mappen noch nicht im Einzelnen beschrieben, etwa nach der Anzahl der vorhandenen Schriftstücke, die von zwei Stücken bis zu Dutzenden von Briefen betragen kann, oder nach dem Datum. Meiner Schätzung nach handelt es sich im Ganzen um etwa 30 000 Briefe. Eine dritte Gruppe sind alphabetische Sammelmappen, in denen sich Einzelbriefe von etwa 1500 Personen finden.18 Eine vierte Gruppe umfasst die Korrespondenz mit Päpsten, d. h. mit Paul VI. und Johannes Paul II., sowie mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Valéry Giscard d’Estaing, Jacques Chirac und Teddy Kollek, dem Bürgermeister von Jerusalem.19 Die Korrespondenz mit Benedikt XVI., von dem sich auch eine Reihe von Veröffentlichungen mit handschriftlicher Widmung im Archiv befindet, liegt zur Zeit noch in der Korrespondenzmappe «Ratzinger, Joseph», dem Namen, unter dem Cullmann den Theologen und Kardinal seit den sechziger Jahren kannte.20
Unsere Anfangsentscheidung, die alphabetischen Korrespondenzmappen zur Aufnahme möglichst alles mit dieser bestimmten Person zusammenhängenden Materials zu verwenden, bedeutet freilich nicht, dass keine Korrespondenz anderswo zu finden wäre, also in anderen Sachkategorien. Das ist etwa der Fall in einigen Dossiers der Kategorie «Biographie».21 Das Dossier 07, «Berufung nach Basel 1938»,22 enthält beispielsweise 37 Briefe von Karl Ludwig Schmidt, der den Strassburger Kollegen in den entscheidenden Monaten oft drei- oder viermal wöchentlich anschrieb, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Nicht in einer Korrespondenzmappe, sondern in den Mohr-Siebeck-Mappen der Kategorie «Verlage und Verleger»23 finden sich die zahlreichen Briefe, die Hans Georg Siebeck und sein Sohn Georg an Cullmann gerichtet haben,24 und die Verlagsmappe «Delachaux & Niestlé» enthält nicht nur alle Briefe der Verlegerin Agnès Delachaux, sondern auch |19| den grössten Teil der Briefe von Jean Jacques von Allmen, der dort von 1954 bis 1968 die Theologische Abteilung leitete.25 Für Roger Mehl, den Strassburger Kollegen und Freund, existiert nicht nur eine umfangreiche Korrespondenzmappe.26 Briefe von ihm finden sich auch in den Dossiers «Affäre Viot»,27 «Fondation Pasteur Boegner»,28 «Vorschlag Ökumenische Kollekte»29 und «Gesammeltes Reaktionsmaterial zu einzelnen Veröffentlichungen».30 Ich habe mich bemüht, in solchen Fällen Verweisblätter in die Korrespondenzmappen einzulegen.
Die Inhaltsbeschreibung und Analyse der einzelnen Archivkategorien ist zurzeit von der Oberfläche ausgehend in ganz verschiedene Tiefen vorgedrungen. Dazu einige Beispiele: Die von Oscar Cullmann selbst zusammengestellte Gruppe der Papiere zum Zweiten Vatikanischen Konzil hat Armin Mettler bereits recht genau analysiert. Wenn Interessenten zur Arbeit an den Originalen nach Basel kommen, werden sie in Zukunft Mettlers eingehende Beschreibungen und zum Teil sogar Umschriften vorhandener Dokumente einsehen und benutzen können. Das gleiche gilt etwa für das umfangreiche Reaktionsmaterial zum Vorschlag einer ökumenischen Kollekte, den Cullmann zuerst an der ETH Zürich im Januar 1957 formulierte und der in den folgenden Jahren für vielfältige Aktivitäten, Initiativen, Diskussionen, und Meinungsäusserungen sorgte.31 Meine detaillierten Aufzeichnungen der hierhin gehörenden Materialien nach Datum, Verfasser und Inhalt können bei Benutzung des Archivs in Basel eingesehen werden.
Dagegen entbehrt die Analyse einer ganzen Anzahl von Kategorien noch der nötigen Tiefe. Die anscheinend recht vollständig vorhandenen Finanzpapiere ebenso wie die einmalige Sammlung von Sonderdrucken liegen noch ungeordnet in den Kartons von 1999.32 Die Kategorie der Familienpapiere,33 der Inhalt von zwei Kartons mit der Bezeichnung «Louise Cullmann»34 |20| und eine Reihe von Dossiers in der Kategorie «Universität Basel»35 sind zwar verzeichnet, aber noch nicht im Einzelnen analysiert. Die wichtigen Papiere zum Thema «Tantur»,36 welche die gesamte Geschichte dieser ökumenischen Institution von Anfang an dokumentieren und welche Cullmann als einer der Hauptinitianten in zwei grossen Mappen gesammelt hatte, sind zwar chronologisch geordnet, müssten aber noch nach Korrespondenten und Inhalt beschrieben werden.
Wie in fast allen neueren Gelehrtennachlässen stellen die vorhandenen Fotografien ein besonders dorniges Problem dar. Das Cullmann-Archiv besitzt Hunderte von losen Fotos. Nur ganz wenige von ihnen sind auf der Rückseite identifiziert. Immerhin befinden sich im Archiv auch etwa 40 thematisch geordnete und grösstenteils datierbare Fotoalben, zum Teil aus dem Besitz der Schwestern Louise und Frédérique, sowie mehrere Dutzend thematischer Couverts mit Fotos, deren Inhalt durch die Aufschriften wenigstens teilweise klar ist. Dazu kommt ein unerwarteter Glücksfall. Unter meinen persönlichen Papieren in Princeton fand ich 2002 zufällig einen Block mit Notizen, den ich völlig vergessen hatte. Er enthielt unter anderem auf 13 Seiten Erklärungen von nummerierten Bildern im Album «Jeunesse, Gymnase, Strasbourg, Paris»37 und vom Inhalt vieler der Couverts.38 Ich erinnerte mich, dass ich bei zwei Aufenthalten in Chamonix, wahrscheinlich im Sommer 1982 und 1983, vorgeschlagen hatte, gemeinsam mit den Cullmann-Geschwistern abends nach dem Essen Fotoalben anzuschauen und Personen zu identifizieren. Meine Erklärungen sind rasch und flüchtig geschrieben, wohl weil beim Anschauen Cullmann zwar sagte, was und wer auf den Bildern zu sehen war, aber nicht viel Geduld hatte. Trotzdem stellen diese Identifikationen eine äusserst wertvolle Quelle für die bildliche Illustration der schriftlichen Materialien im Archiv dar. Sie könnten auch als Vergleichshilfen beim Betrachten vieler nicht identifizierter Fotos Dienste leisten. Vielleicht gibt es ja Menschen, deren visuelles Gedächtnis für solche Vergleiche besser geeignet ist als meines. Allerdings träume ich noch von einer andere Möglichkeit, die in unserem rasant fortschreitenden technologischen Zeitalter einen neuen Horizont eröffnen könnte: Bei jeder Einreise in die USA wird neuerdings eine Porträtaufnahme von mir elektronisch mit einer zentralen Datenbank von Verbrechern und mutmasslichen Terroristen wahrscheinlich in Washington verglichen. Wäre es nicht denkbar, dass ein Scanner |21| das identifizierte Bild einer Person im Album mit einem losen Foto vergleichen und die gleiche Person dort identifizieren könnte? Vielleicht gibt es bereits eine solche Software?
Meine Ausführungen werden deutlich gemacht haben, dass in Bezug auf die Arbeit am Cullmann-Archiv seit 1999 manches geschehen und vieles erreicht worden ist, dass aber noch genug zu tun bleibt, zu planen und sogar zu träumen. Die Fondation œcuménique Oscar Cullmann ist von der Fondation de France als Sachwalterin des Cullmann-Nachlasses in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Basel eingesetzt worden und wird sich auch weiterhin an seiner Erschliessung und Benutzung beteiligen. Das Symposium von 2009 sollte zum einen im Rückblick Rechenschaft geben über die Bemühungen der letzten zehn Jahre, hat aber im Ausblick hoffentlich auch Anregungen zur Weiter- und Mitarbeit gegeben, damit dieser einzigartige Schatz gehoben wird, der nun in Basel zugänglich sein wird.
|22|