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Die Arbeit am Cullmann-Archiv 1999–2009

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Unser Basler Symposium im Juni 2009, zehn Jahre nach Oscar Cull­manns Tod, soll Rechenschaft ablegen über die bisherige Arbeit am Nachlass und Anregungen geben für die weitere Arbeit am wissenschaft­lichen und geisti­gen Erbe des Lehrers und Freundes, die mit diesem Sommer in ein neues Stadium eintrat. Anlass ist die Überführung und Öffnung des Cull­mann-Archivs in Basel, der wichtigsten akademischen Wirkungsstätte von Oscar Cullmann. Mit der Übernahme des Archivs durch die Universitäts­bibliothek Basel ist Wirklichkeit geworden, was nachdenkliche und inter­essierte Zeitge­nossen schon lange erhofft hatten: Die Cullmann-Papiere, einer der bedeu­tendsten theologischen Nachlässe des 20. Jahrhunderts, haben eine Heimat gefunden, in der sie der Bearbeitung und der Forschung in ange­messener und verantwortlicher Weise zugänglich gemacht werden können. Schon wäh­rend der letzten Lebensjahrzehnte ist dem grossen Ge­lehrten dieser Schritt immer wieder nahegelegt worden, und er hat dar­über nach­denken müssen. In einem Brief vom 10. Januar 1989, den sein geschätzter Verleger Georg Siebeck nach einem meiner Besuche bei ihm in Tübingen an ihn schrieb, heisst es:1

«Beiläufig erzählte mir Herr Froehlich […] von Ihren Plänen einer Stif­tung Villa Alsatia. Ohne daß ich die näheren Umstände kenne und nur, weil ich in letzter Zeit Zeuge der Schwierigkeiten beim Ordnen eines literarischen Nachlasses geworden bin (Max Weber,2 Rudolf Bultmann3), gebe ich meinen |12| spontanen Gedanken dazu Ausdruck. Daß das Haus in der sicher traumhaf­ten Umgebung von Chamonix, das ich ja leider immer noch nicht kenne, auch später einmal für Theologen offenstehen soll, finde ich großartig. Zur Erholung wird dies sicher auch langfristig ein herrliches Domizil sein. Zum wissenschaftlichen Arbeiten wird die Eignung stark davon abhängen, wie weit dort allgemeine und theologische Fachliteratur zur Verfügung steht, und zwar eben auch neuere. Daß Ihr literarischer Nachlaß (Manuskripte, Korrespondenz) auch in Chamonix gesammelt werden soll, hat mich dage­gen etwas beunruhigt. Wird es dort wirklich auf Dauer sichergestellt sein, daß er auch entsprechend verwaltet und zugänglich gehalten wird? Ist er dort nicht einfach zu weit von den sonstigen Zentren theologischer For­schung entfernt? – Spontan würde ich meinen, der literarische Nachlaß eines Gelehrten gehört auch in eine Universitätsstadt und da fällt mir bei Ihnen an erster Stelle Straßburg, an zweiter Stelle Basel und an dritter Stelle Paris ein.»

Um diese Zeit hatte Oscar Cullmann bereits anders entschieden. In seinem Tes­tament vom 5. April 1988 hatte er die Fondation de France als Uni­versalerbin einge­setzt und bestimmt, dass der gesamte wissenschaftliche Nachlass samt allen Büchern in sein geliebtes Landhaus – in der Tat «in der traumhaften Umgebung» am Mont­blanc gelegen – verbracht werden und den Grundstock eines dort einzurichten­den ökumenischen Arbeits- und Begegnungszentrums bilden sollte.4 Der Plan war kühn, grosszügig und genau durchdacht. Im Archiv existiert ein undatiertes zweitei­liges Dokument aus den letzten Lebensjahren, wahrscheinlich Ende 1995, welches das Traum­projekt in allen Einzelheiten beschreibt.5 Bei Cullmanns Vorstellungen standen offensichtlich seine Erfahrungen mit anderen theologischen Lebens­gemein­schaften Pate: mit dem Thomasstift in Strassburg, dem Alumneum in Basel, dem Ökume­nischen Institut in Tantur.6 In der herrlichen Bergwelt mit ihrer guten Luft, ihren Naturschönheiten und dem grossen Wald sollte nicht nur Erholung gesucht, sondern ökumenisch diskutiert, geforscht und ge­schrieben werden in einem Rahmen, in dem für alles gesorgt war. Tägliche Andachten und gemeinsame Mahlzeiten waren ge­nauso vorgesehen wie Spaziergänge im Wald, Ausflüge und Klausurmöglichkeiten im Haus. Zum vorgesehenen Personal gehörten Köchin und Gärtner, Archivar und Pro­grammdirektor, |13| und alles das war möglich, denn – so die optimistische Einschät­zung – Geld genug war vorhanden.

Im Jahr 1999 befand sich dieses Dokument in den Händen einer Reihe jüngerer Theologen und Freunde Cullmanns, die er selber als Mitglieder einer zweiten Stif­tung, der Fondation œcuménique Oscar Cullmann, benannt hatte.7 Cullmann wusste sehr wohl, dass die Fondation de France seine Pläne zwar wohlwollend zur Kennt­nis nehmen würde, selber aber nicht kompetent war, sie auszuführen. So hatte er 1994 neben der Fondation Cullmann im Schoss der Fondation de France diese zweite Stiftung errichtet, die für die Ver­wirklichung seiner Pläne verantwortlich sein sollte. Seine Grundüberlegung war sehr einfach: Das Einkommen des von der Fondation de France verwalte­ten und, wie er meinte, stattlichen Vermögens sollte die finanziellen Mittel bereitstellen, mit deren Hilfe die zweite Stiftung sich um Pro­gramm und Pflege seines geistigen Erbes in Chamonix und darüber hinaus kümmern würde.

Der Siebeck-Brief von 1989 spricht bereits sehr deutlich die sachlichen Probleme dieses Konzepts an. Genügt eine Hausbibliothek als Arbeits­instru­ment für wissen­schaftliche Projekte? Kann der literarische Nachlass in Chamonix sicher aufbewahrt, sachgemäss erschlossen und der Forschung zugänglich gemacht werden? Die Erfah­rung der vergangenen zehn Jahre hat die Berechtigung dieser Fragen bestätigt. Viel schwerer wiegend war freilich die Fehleinschätzung der wirtschaft­lichen Grundlage des utopischen Unter­nehmens. Im erwähnten Dokument erklärt Cullmann: «Die Unterhalts­kosten des Anwesens (Haus und Wald) seit 1951 sind im Durchschnitt unendlich viel geringer als die Zinsen des Kapitals […], das die Fondation de France erben wird.»8 Die Wirklichkeit sah anders aus. Von Anfang an verschlangen die zur Instandhaltung der Villa erforderlichen Kosten fast vollständig die jährlichen Erträge des der Fondation Cullmann im Schoss der Fondation de France zur Verfügung stehenden Vermögens, und schon in der Frühphase |14| der gegenwärtigen Finanzkrise im Herbst 2008 war der Gesamt­wert des Restvermögens auf weniger als 800 000 Euro geschrumpft. Die Fondation de France hat immer wieder versucht, im Bewusstsein ihrer eigenen Verantwor­tung, die Bemühungen der Fondation œcuménique Oscar Cullmann zur Pflege des geistigen Erbes Oscar Cullmanns zu unterstützen und hat auch zur Ausrichtung dieses Symposiums finanziell beigetragen. Aber es ist nicht zu leugnen, dass sie unter den gegenwärtigen Umständen nicht auch noch das Haus halten kann, wenn sie in erster Linie sachliche Cullmann-Projekte fördern soll.

Bis vor wenigen Jahren hat die Fondation œcuménique unter ihrem ersten Präsi­denten Matthieu Arnold und seit Januar 2005 unter meiner Leitung versucht, den Gedanken vom Cullmann-Zentrum in Chamonix wenigstens als Zukunftsplan auf­rechtzuerhalten, hat sich aber in Ermangelung finanzier­barer Alternativen auf die Erschliessung des Nachlasses konzentriert. Die Anfänge gehen auf den Sommer 1999 zurück, als mich während eines kurzen Europa-Aufenthalts ein Anruf aus Basel erreichte mit der Bitte, der Fondation de France bei der Schätzung der Cullmann-Papiere zu helfen. Beim ersten Termin in der Wohnung an der Birmannsgasse9 wurde deutlich, dass die Vertreterin der Pariser Stiftung nur eine sehr ungenaue Vorstellung von der Art dieses der Fondation de France zugefallenen Erbes hatte. Ich musste ihr erklären, was ein «Theologe» ist und tut. Als der Anblick eines überfüllten Bücher­regals sie zur Frage veranlasste: «Ist schon so viel über ihn publiziert worden?», war die Überraschung gross, als ich ihr sagte: «nicht über ihn, sondern von ihm!», und auch die hand­schriftlichen Widmungen von drei Päpsten in einigen prächtigen Ge­schenkbänden verfehlten ihre Wirkung nicht.10 Was die Dame eigentlich wissen wollte, war der Geldwert des Gan­zen und der Umfang dessen, was zu behalten und was als Altpapier aus­zuscheiden sei. Nach drei Tagen, in denen ich mir einen Über­blick über das Vorhandene verschaffte, war die Antwort klar: Einen Geldwert habe der Papierberg nicht, erklärte ich, aber die gelehrte Welt würde es der Fondation de France nie verzeihen, wenn auch nur ein Blatt weggeworfen würde. Es handle sich um einen bedeu­tenden Gelehrtennachlass, wie man ihn nur selten zu Gesicht be­kommt, und der müsse erhalten bleiben. Das Argument hatte die gewünschte Wir­kung. Meine Stichproben hatten mich überzeugt, dass praktisch alles Schriftliche aus Cullmanns langem Leben aufbewahrt |15| worden war und es damit eine das gesamte 20. Jahrhundert umspannende einzigartige Quelle der Theologie- und Kulturgeschichte zu retten galt.

Im Herbst 1999 verpackten Armin Mettler und ich, unterstützt von Mathieu Ar­nold und der langjährigen Cullmann-Freundin Ingalisa Reicke,11 den gesamten vorhan­denen Bestand an Papieren, Büchern und Dokumenten grob sortiert in 133 Kartons, die mitten im Winter von einer Basler Trans­portfirma nach Chamonix transportiert und im Keller der Villa Alsatia auf­gestapelt wurden. Im Haus bestand die erste Aufgabe darin, dem Archiv den nötigen Platz zu schaffen. Im Oberstock richteten wir die ehemalige Zweit­küche mit geschenkten und billig beim Althändler erstandenen Re­gistra­turkästen als Archivraum ein. Das vorher kaum benutzte Fami­lien­zimmer daneben, ausgestattet mit den Möbeln aus der Basler Studierstube und dem Strassburger Familientisch als Zentrum, diente als Arbeitsraum. Das Aus­packen begann mit den Bücherkartons. Die Sammlung der Veröffentli­chungen Oscar Cull­manns füllte den grossen Bücherschrank im Arbeitsraum. Ausgehend von den ge­druckten Bibliographien von Willy Rordorf (1962), Heiko Heck (1972), und Matt­hieu Arnold (1992 und 1999) stellte ich in einer elektronischen Datei eine neue Gesamtbibliographie zusammen, die heute 833 Nummern umfasst.12 Jedes Buch und jeder einzelne Aufsatz, gleich in welcher Sprache, erhielt eine annähernd chronolo­gisch bestimmte Ord­nungszahl, die wir auf die vorhandenen Archivexemplare auf­klebten. Der Hausherr hatte im Hinblick auf den Plan eines Cullmann-Zentrums in der Villa Alsatia schon zu seinen Lebzeiten in den meisten Zimmern Bücher­regale einbauen lassen. Auf diesen stellte ich die Arbeits­bibliothek, von der leider kein Katalog existiert, nach Sachgebieten geordnet auf, soweit Platz vorhanden war. Einige Kategorien wie die patristische Literatur und vor allem die Sammlung der (grob geschätzt) 10 000 Sonder­drucke blieben bis zum Schluss ungeordnet in ihren ursprünglichen Kartons. Mit der Auf­stellung der Veröffentlichungen und der Biblio­thek im Haus war das wich­tigste Arbeitsinstrument geschaffen, an der sich die Auf­arbeitung des Ar­chivmaterials orientieren musste.

Die eigentliche Arbeit an den Papieren begann im Frühjahr 2000. Es muss hier daran erinnert werden, dass diese Arbeit unter alles andere als idealen Bedingungen geleistet wurde. Die Hauptlast fiel mir als «Ruhe­ständ­ler» zu, aber angesichts viel­fältiger anderer Verpflichtungen und Projekte in Europa und den USA, wo ich mei­nen eigentlichen Wirkungskreis hatte und |16| noch habe, konnte ich immer nur ab und zu Zeit für das enorme Projekt frei machen. Über die Jahre waren es in der Regel zwei oder drei Blöcke von zwei bis vier Wochen pro Jahr, die ich im Archiv verbringen konnte. Natürlich hatte ich wertvolle Hilfe. Im Sommer 2001 kam Willy Rordorf für vier bis fünf Tage und verzeichnete eine Reihe von Manuskripten. Im gleichen Jahr war Matthieu Arnold für zehn Tage im Haus und arbeitete an den Briefen des Kar­tons 73. Seit 2006 kümmerte sich Armin Mettler in eigener Verant­wortung um die Erschliessung des Materials zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Armin Mettler war es auch, der sich von Anfang an getreulich und kom­petent der praktischen Seiten unseres Arbeitslebens in der Villa annahm. Wenn er da war, sorgte er für eine anständige Küche, reparierte das Nötige und hielt Haus und Garten in Ordnung. Er hielt die Verbindung zu den örtlichen Bekannten, verhandelte mit den Handwerkern und schaufelte bei Schneefall den Pfad zur Strasse frei. Ohne ihn wäre nichts gelaufen, auch nicht die Verpackung und der Transport des Archivs nach Basel im Frühjahr 2009. Es kamen andere Erschwernisse hinzu. Für die Arbeit benutzten wir unsere eigenen Computer, Drucker und Büromaterialien. Ein Scanner oder eine Kopierma­schine waren nicht vorhanden, und zur Erledigung von E-Mail und Recherchen im Internet mussten wir in den Ort gehen, wo das Touristenbüro freien Internetzugang anbot.

Die Systematik der Bearbeitung des Nachlasses war anfangs denkbar einfach. Wir öffneten einen Karton nach dem andern und versuchten, seinen jeweiligen Inhalt zu sortieren und dann elektronisch in Computerdateien zu verzeichnen. Ich hatte schon früh eine vorläufige Liste von 45 Sachkategorien zusammengestellt, die alle in den Glasschränken des Arbeitsraums ihren Platz erhielten und sich langsam füllten. Das Problem war, dass in der Basler Wohnung nur einiges wenige geordnet vorlag. Das meiste Material fand sich überall verstreut und sorgte beim Auspacken immer wieder für Überra­schun­gen. Es ist mir eine gewisse Genugtuung, dass die vorläufige Eintei­lung sich im Ganzen bewährt hat. Das von der Universitätsbibliothek jetzt eingerichtete «Findbuch», das nach den Regeln moderner Nachlass­bear­beitung mit der ihr eigenen Systematik angelegt ist und die Benutzung der Materialien ermög­licht, liess sich aufgrund dieser intuitiven Vorarbeit ohne grosse Schwierigkeiten herstellen.13

Als eine genügende Anzahl von Kartons geöffnet und ihr Inhalt auf die entspre­chenden Stösse von Papieren verteilt war, ging es an die Analyse des Materials. Es war uns klar, dass die wichtigsten und umfangreichsten Kate­gorien die Manuskripte und die Korrespondenz sein würden. Wir fassten |17| den Begriff «Manuskripte» sehr weit und ordneten hier alles von Oscar Cullmann selbst Geschriebene ein, vom Ein­zelblatt bis zum voll­ständigen Buch- oder Vorlesungsmanuskript. Auch alle seine erhaltenen Briefentwürfe und -kopien gehörten ursprünglich hier hin. Anfangs be­gnüg­ten wir uns mit sehr kurzen Inhaltsangaben in einer sich ständig erwei­ternden Computer­datei. Die Durchsicht der ersten Vorlesungsmanuskripte zwang aber schon bald zu einer sehr viel eingehenderen Beschreibung, und am Schluss bestand die Datei aus etwa 700 chronologisch geordneten Einträgen, die auf zwei Zeilen Datum, Sprache, Schriftform (Handschrift oder Maschinenschrift), Umfang, Genre und Titel angeben und dann mehr oder wenig ausführliche Anmerkungen zum Inhalt bieten. Die Origi­nale liegen in Mappen, deren Eti­ketten die ersten zwei Datenzeilen kopieren und in die ein Beschreibungs­blatt mit diesen Angaben und den Anmerkun­gen eingelegt ist. Als in den letzten Jahren deutlich wurde, dass doch mehr Briefko­pien und -entwürfe von Cullmanns Hand vorhanden sind, als wir annahmen, wur­den die Brief­manuskripte Oscar Cullmanns als Sonder­gruppe unter die Korrespondenz eingereiht.14 Diese Sondergruppe könnte noch beträchtlich wachsen, wenn, wie es dankenswerterweise schon anläss­lich des Symposiums zum 100. Ge­burtstag im Jahr 2002 der Fall war, möglichst viele Freunde und Bekannte ihre an sie gerichteten Cullmann-Briefe im Original oder in Fotokopien dem Archiv zur Verfügung stellen würden.

Die Gesamtkategorie «Korrespondenz» selbst ist ausserordentlich um­fang­reich. Zwar schrieb Cullmann alle Korrespondenz von Hand15 und in der Regel eben ohne Kopie oder Durchschlag, so dass das Archiv weitgehend ohne die eine Seite des Briefwechsels auskommen muss. Trotzdem sind die Briefe seiner Korrespondenten fast vollständig vorhanden. Cullmann warf praktisch keine erhaltene Post fort. Wir fanden viele Briefe geöffnet in ihren ursprünglichen Umschlägen, freilich meist ohne die Briefmarken, welche die Cullmanns für ihre Sammlungen auszuschneiden pfleg­ten. Ihre Briefmarken­sammlungen, einschliesslich der vom Schwager Fritz Klein16 geerbten, hat die Fondation de France schon 1999 verkauft. Es existieren vier Grup­pen von Mappen mit Korrespondenz. Abgesehen von der bereits erwähnten Sonder­gruppe der Briefe Cullmanns besteht die Hauptgruppe aus etwa 1700 |18| alphabetisch geordneten Mappen von Korrespondenten, in denen jeweils gesammelt ist, was als von diesen Personen an Cullmann geschrieben iden­tifiziert werden konnte.17 Bis in die letzten Monate der Archivarbeit tauchten immer wieder neue Briefpakete und Einzelbriefe auf, wenn andere Kate­gorien bearbeitet wurden. Aus diesem Grund ist der Inhalt dieser Map­pen noch nicht im Einzelnen beschrieben, etwa nach der Anzahl der vor­handenen Schriftstücke, die von zwei Stücken bis zu Dutzenden von Briefen betragen kann, oder nach dem Datum. Meiner Schätzung nach handelt es sich im Ganzen um etwa 30 000 Briefe. Eine dritte Gruppe sind alphabetische Sam­melmap­pen, in denen sich Einzelbriefe von etwa 1500 Personen finden.18 Eine vierte Gruppe umfasst die Korrespondenz mit Päpsten, d. h. mit Paul VI. und Johannes Paul II., sowie mit bedeutenden Per­sönlichkeiten wie Valéry Gis­card d’Estaing, Jacques Chirac und Teddy Kollek, dem Bürgermeister von Jerusalem.19 Die Korrespondenz mit Benedikt XVI., von dem sich auch eine Reihe von Veröffentlichungen mit hand­schrift­licher Widmung im Archiv befindet, liegt zur Zeit noch in der Korrespon­denzmappe «Ratzinger, Joseph», dem Namen, unter dem Cullmann den Theologen und Kardinal seit den sechziger Jahren kannte.20

Unsere Anfangsentscheidung, die alphabetischen Korrespondenzmap­pen zur Aufnahme möglichst alles mit dieser bestimmten Person zusam­menhängenden Mate­rials zu verwenden, bedeutet freilich nicht, dass keine Korrespondenz anderswo zu finden wäre, also in anderen Sach­kategorien. Das ist etwa der Fall in einigen Dossi­ers der Kategorie «Biographie».21 Das Dossier 07, «Berufung nach Basel 1938»,22 enthält bei­spielsweise 37 Briefe von Karl Ludwig Schmidt, der den Strassburger Kollegen in den entscheidenden Monaten oft drei- oder viermal wöchentlich an­schrieb, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Nicht in einer Korrespon­denzmappe, sondern in den Mohr-Siebeck-Mappen der Kategorie «Verlage und Verleger»23 fin­den sich die zahlreichen Briefe, die Hans Georg Siebeck und sein Sohn Georg an Cullmann gerichtet haben,24 und die Verlagsmappe «Delachaux & Niestlé» enthält nicht nur alle Briefe der Verlegerin Agnès Delachaux, sondern auch |19| den grössten Teil der Briefe von Jean Jacques von Allmen, der dort von 1954 bis 1968 die Theologische Abteilung leitete.25 Für Roger Mehl, den Strass­burger Kollegen und Freund, existiert nicht nur eine umfangreiche Korres­pon­denzmappe.26 Briefe von ihm finden sich auch in den Dossiers «Affäre Viot»,27 «Fondation Pasteur Boegner»,28 «Vorschlag Ökumenische Kollekte»29 und «Gesammeltes Reaktionsmaterial zu einzelnen Veröffentlichungen».30 Ich habe mich bemüht, in solchen Fällen Verweis­blätter in die Korres­pondenzmappen einzulegen.

Die Inhaltsbeschreibung und Analyse der einzelnen Archivkategorien ist zurzeit von der Oberfläche ausgehend in ganz verschiedene Tiefen vorge­drungen. Dazu einige Beispiele: Die von Oscar Cullmann selbst zusam­mengestellte Gruppe der Papiere zum Zweiten Vatikanischen Konzil hat Armin Mettler bereits recht genau analysiert. Wenn Interessenten zur Arbeit an den Originalen nach Basel kommen, werden sie in Zukunft Mettlers eingehende Beschreibungen und zum Teil sogar Umschriften vorhandener Dokumente einsehen und benutzen können. Das gleiche gilt etwa für das umfangreiche Reaktionsmaterial zum Vorschlag einer ökumeni­schen Kol­lekte, den Cullmann zuerst an der ETH Zürich im Januar 1957 formulierte und der in den folgenden Jahren für vielfältige Aktivitäten, Initiativen, Dis­kussionen, und Meinungsäusserungen sorgte.31 Meine detaillierten Auf­zeich­nungen der hierhin gehörenden Materialien nach Datum, Verfasser und Inhalt können bei Benutzung des Archivs in Basel eingesehen werden.

Dagegen entbehrt die Analyse einer ganzen Anzahl von Kategorien noch der nö­tigen Tiefe. Die anscheinend recht vollständig vorhandenen Fi­nanzpapiere ebenso wie die einmalige Sammlung von Sonderdrucken liegen noch ungeordnet in den Kartons von 1999.32 Die Kategorie der Fami­lien­papiere,33 der Inhalt von zwei Kar­tons mit der Bezeichnung «Louise Cull­mann»34 |20| und eine Reihe von Dossiers in der Kategorie «Universität Basel»35 sind zwar verzeichnet, aber noch nicht im Einzelnen analysiert. Die wichtigen Papiere zum Thema «Tantur»,36 welche die gesamte Ge­schichte dieser ökumenischen Institution von Anfang an dokumentieren und welche Cullmann als einer der Hauptinitianten in zwei grossen Mappen gesammelt hatte, sind zwar chronologisch geordnet, müssten aber noch nach Korrespon­denten und Inhalt beschrieben werden.

Wie in fast allen neueren Gelehrten­nachlässen stellen die vorhandenen Fotografien ein besonders dorniges Pro­blem dar. Das Cullmann-Archiv besitzt Hunderte von losen Fotos. Nur ganz wenige von ihnen sind auf der Rückseite identifiziert. Immerhin befinden sich im Archiv auch etwa 40 thematisch geordnete und grösstenteils datier­bare Fotoalben, zum Teil aus dem Besitz der Schwestern Louise und Frédé­rique, sowie mehrere Dutzend thematischer Couverts mit Fotos, deren Inhalt durch die Aufschriften wenigstens teilweise klar ist. Dazu kommt ein un­erwarteter Glücksfall. Unter meinen persönlichen Papieren in Princeton fand ich 2002 zufällig einen Block mit Notizen, den ich völlig vergessen hatte. Er enthielt unter anderem auf 13 Seiten Erklärungen von nummerierten Bildern im Album «Jeunesse, Gym­nase, Strasbourg, Paris»37 und vom Inhalt vieler der Cou­verts.38 Ich erinnerte mich, dass ich bei zwei Aufenthalten in Cha­monix, wahrschein­lich im Som­mer 1982 und 1983, vorgeschlagen hatte, gemeinsam mit den Cullmann-Geschwistern abends nach dem Essen Foto­alben anzuschauen und Personen zu identifizieren. Meine Erklärungen sind rasch und flüchtig geschrieben, wohl weil beim Anschauen Cullmann zwar sagte, was und wer auf den Bildern zu sehen war, aber nicht viel Geduld hatte. Trotzdem stellen diese Identifikationen eine äusserst wertvolle Quelle für die bildliche Illustration der schriftlichen Materialien im Archiv dar. Sie könnten auch als Vergleichs­hilfen beim Betrachten vieler nicht identifizierter Fotos Dienste leisten. Vielleicht gibt es ja Menschen, deren visuelles Gedächt­nis für solche Verglei­che besser geeignet ist als meines. Allerdings träume ich noch von einer andere Möglichkeit, die in unserem rasant fortschreitenden technolo­gischen Zeitalter einen neuen Horizont eröffnen könnte: Bei jeder Einreise in die USA wird neuerdings eine Por­trätaufnahme von mir elektro­nisch mit einer zentralen Datenbank von Ver­brec­hern und mutmasslichen Terroristen wahr­scheinlich in Washington verglichen. Wäre es nicht denkbar, dass ein Scan­ner |21| das identifizierte Bild einer Person im Album mit einem losen Foto vergleichen und die gleiche Person dort identifizieren könnte? Vielleicht gibt es bereits eine solche Software?

Meine Ausführungen werden deutlich gemacht haben, dass in Bezug auf die Ar­beit am Cullmann-Archiv seit 1999 manches geschehen und vieles erreicht worden ist, dass aber noch genug zu tun bleibt, zu planen und sogar zu träumen. Die Fondation œcuménique Oscar Cullmann ist von der Fon­dation de France als Sach­walterin des Cullmann-Nachlasses in Zusam­menarbeit mit der Universitätsbibliothek Basel eingesetzt worden und wird sich auch weiterhin an seiner Erschliessung und Benutzung beteiligen. Das Symposium von 2009 sollte zum einen im Rückblick Rechenschaft geben über die Bemühungen der letzten zehn Jahre, hat aber im Aus­blick hof­fentlich auch Anregungen zur Weiter- und Mitarbeit gegeben, damit dieser einzigartige Schatz gehoben wird, der nun in Basel zugänglich sein wird.

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Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick

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