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Die Cree-Legende von Wisukatcak
Оглавлениеvon John MacLean
Von den vielen interessanten Legenden und Überlieferungen, die uns ›Indianer‹ erzählen, möchte ich folgende wiedergeben: Henry B. Steinhauer, ein in die Jahre gekommener Missionar, erzählte Dr. Sutherland jene Legende, als sie den Saskatchewan River hinuntersegelten. Es handelt sich um die Legende von Wisukatcak, der als übernatürliches Wesen gilt, ähnlich dem Alten Mann bei den Blackfeet.
Zwar wissen wir nur sehr wenig über seine Herkunft, aber er hatte einen Vater, eine Mutter und einen Bruder. Wie in jeder Familie gab es auch in seiner hin und wieder Streitigkeiten, und während einer dieser Auseinandersetzungen tötete der alte Mann seine Frau und schnitt ihr den Kopf ab. Dann sagte er zu Wisukatcak, er solle seinen kleinen Bruder nehmen und fortgehen. Er gab ihm zudem noch einen Feuerstein mit, ein Funkeneisen und eine Ahle und erklärte ihm:
»Wenn der Kopf deiner Mutter dir folgt, dann wirf zuerst den Feuerstein, dann das Funkeneisen und dann die Ahle hinter dich, und wiederhole diese Worte!«
Der Vater nannte ihm die Worte, und Wisukatcak nahm seinen kleinen Bruder, den Feuerstein, das Funkeneisen und die Ahle und ging fort. Natürlich rollte der Kopf seiner Mutter den beiden nach, und sie rief ihre Kinder zu sich. Also warf Wisukatcak den Feuerstein hinter sich und rief:
»Möge eine große Wand aus Fels die Erde umgeben!«
Gesagt getan. Eine große Felswand wuchs empor, und so entstanden die Rocky Mountains, die sich bis heute über diesen Kontinent erstrecken.
Als der Kopf gegen die Felswand stieß, konnte er diese nicht auf Anhieb überwinden. Doch beharrlich versuchte er es weiter, bis es ihm schließlich gelang und er weiterrollen konnte. Da warf Wisukatcak das Funkeneisen hinter sich und rief:
»Möge ein großes Feuer entflammen und sich über die Erde ausbreiten!«
Also entflammte ein großes Feuer, dessen Überreste sich heute in den zahlreichen Vulkanen der Sierra und der Rocky Mountains zeigen. Als der Kopf sich dem Feuer näherte, hielt er an. Doch nach einer Weile hatte er das Feuer, wenn auch versengt und geröstet, durchquert und rollte weiter, während die Mutter nach ihren Kindern rief. Da warf Wisukatcak die Ahle hinter sich und rief:
»Möge eine hohe Dornenhecke wachsen und die Erde umspannen!«
Auf einmal sprossen Dornenranken aus dem Boden und wuchsen zu einer undurchdringlichen Hecke, heute noch erkennbar in den Riesenkakteen im Süden. Doch irgendwie zwängte sich der Kopf auch durch diese dichte Hecke, rollte weiter, rief nach den Kindern. Nach einer Weile gelangten Wisukatcak und sein Bruder an einen breiten Fluss, und als sie einen Pelikan erblickten, der dort umherschwamm, sagte Wisukatcak:
»Großvater, bring uns auf die andere Seite, denn unsere Mutter ist hinter uns her und will uns töten.«
Also kletterten sie auf den Rücken des Pelikans und gelangten so sicher ans andere Ufer.
Nach einer Weile erreichte auch der Kopf den Fluss, und als die Mutter den Pelikan sah, sagte sie: »Ich verfolge meine Kinder. Bring mich zum anderen Ufer und ich heirate dich.«
Aber der Pelikan schien daran nicht sonderlich interessiert zu sein, denn er schwamm nur ganz langsam. Der Kopf wollte, dass er sich beeile, doch er entgegnete nur: »Du musst stillsitzen, mein Hals schmerzt.«
In der Mitte des Flusses lagen einige Felsen, und auf einmal warf der Pelikan seine Last dort ab, sodass der Kopf zerbrach. Bis heute kann man das Gehirn noch in den Unmengen Schaum erkennen, der bei Hochwasser auf dem Fluss dahintreibt. Das war das Ende von Wisukatcaks Mutter.
Wisukatcak und sein Bruder zogen weiter, bis sie an einen wunderschönen See mit einem Sandstrand kamen, wo sie blieben. Wisukatcak tat alles, um seinen kleinen Bruder aufzuheitern. Unter anderem fertigte er für ihn einen Ball an. Als sie eines Tages damit spielten, fiel der Ball in ein Kanu, das ihnen zuvor nicht aufgefallen war und in dem ein alter Mann namens Wamishus saß. Wisukatcak rief ihm zu:
»Wirf den Ball meines Bruders zurück. Er will damit spielen.«
Doch Wamishus antwortete:
»Steige ins Kanu und hole ihn dir selbst.« Wisukatcak weigerte sich. Da sagte der alte Mann: »Dann schick deinen Bruder, dass er den Ball holt.«
Doch als auch der Bruder sich weigerte, ging Wisukatcak letztendlich selbst. Wamishus legte das Paddel ans Ufer und sagte:
»Steige hier drauf, dann kannst du ins Kanu klettern.«
Das tat Wisukatcak, doch als er es beinahe geschafft hatte, kippte der alte Mann das Paddel auf einmal um und schubste Wisukatcak so ins Kanu. Und mit einem kräftigen Schlag glitt das Kanu hinaus auf den See. Wisukatcaks Bruder sah, wie sie das Ufer hinter sich ließen, und rief:
»Bruder! Bruder! Komm zurück oder ich verwandele mich in einen Wolf! Ich verwandele mich in einen Wolf! Wu-hu-hu!«
Und er gab ein langes Heulen von sich, so als wäre er bereits ein Wolf. Doch Wisukatcak konnte nicht zurückkommen.
Lange Zeit blieb er fort, dann kehrte er zurück, doch niemand weiß, wann oder wie. Als er am Strand angelegt hatte, machte er sich auf die Suche nach seinem Bruder, fand aber lediglich Wolfsspuren am Ufer. Kurz darauf hörte er einen Wolf heulen, und schon bald traf er ihn, erkannte in dem Tier seinen Bruder, und von da an waren die beiden Gefährten.
Einige Zeit später kamen sie an einen anderen See, wo Wisukatcak Pfeile und Bögen für seinen Bruder anfertigte, damit dieser damit spielen konnte, und er sagte zu ihm:
»Schieß die Pfeile nicht ins Wasser. Wenn du das tust, dann suche sie zumindest nicht, sonst widerfährt dir großes Unheil.«
Doch kleine Wölfe sind – wie junge Knaben – manchmal sehr eigenwillig. Und so schoss Wisukatcaks Bruder eines Tages, trotz der Warnung seines großen Bruders, einen Pfeil ins Wasser und wollte ihn zurückholen. Als er nach ihm griff, wurde er von einem der Löwen, die im Wasser lebten, getötet. Und der Löwe hing die Haut von Wisukatcaks Bruder an den Eingang seines Zeltes!
Wisukatcak suchte das ganze Ufer nach seinem Bruder ab. Als er sah, wie ein Eisvogel konzentriert aufs Wasser blickte, fragte er:
»Was beobachtest du?«
Und der Eisvogel antwortete ihm:
»Kleine Löwen, die mit der Haut von Wisukatcaks Bruder spielen.«
»Kommen die je ans Ufer?«, fragte Wisukatcak.
»Ja«, sagte der Eisvogel. »An sehr warmen Tagen gehen sie ans Ufer, um sich am Strand zu sonnen.«
Da erwiderte Wisukatcak: »Wenn du mir zeigst, wo sie ans Ufer gehen, werde ich dich anmalen und in einen wunderschönen Vogel verwandeln.«
Also zeigte der Eisvogel Wisukatcak die Stelle, und Wisukatcak malte ihn wie versprochen an, sodass er sich in einen wunderschönen Vogel verwandelte, mit einem Kragen aus einer weißen Wampum-Muschelkette um den Hals und einem Büschel Federn auf dem Kopf. Dann nahm Wisukatcak Pfeil und Bogen und begab sich zu der Stelle, wo die Löwen ans Ufer kamen. Er verwandelte sich selbst in einen Baumstumpf und wartete. An einem heißen Tag kamen viele Löwen ans Ufer, und als sie den Baumstumpf erblickten, sagte einer von ihnen:
»Warum sollte hier auf einmal ein Baumstumpf stehen, wo vorher nie einer stand?«
Und ein anderer Löwe meinte:
»Los, reißen wir ihn um.«
Und das taten sie: Sie kratzten und zerrten an dem armen Wisukatcak, bis er nahezu in Stücke gerissen war. Dann wurden sie müde und legten sich schlafen. Als Wisukatcak sah, dass sie schliefen, griff er sich seinen Bogen, zielte auf den Löwenkönig und jagte einen Pfeil tief in dessen Flanke, woraufhin der Löwe laut brüllte und alle zurück ins Wasser eilten, während Wisukatcak zu seinem Zelt zurückkehrte.
Am nächsten Tag ging er erneut zum Ufer, wobei er auf dem Weg dorthin eine Kröte in Gestalt einer alten Frau traf. Sie schüttelte eine Rassel und sang dazu »Ich bin die rasselnde Stachel.«
»Großmütterchen«, sagte Wisukatcak, »wohin des Weges?«
»Ach«, antwortete sie, »ich zaubere den König der Löwen herbei, der gestern von Wisukatcak verletzt wurde.«
»Kannst du mir die Zeit lehren, und wie man die Rassel gebraucht?«, fragte Wisukatcak.
Die Alte stimmte zu, doch sobald Wisukatcak die Zeit gelernt und den Gebrauch der Rassel gelernt hatte, tötete er die alte Frau, zog ihr die Haut ab und hüllte sich in sie. Dann nahm er die Rassel und stieg ins Wasser hinab, dorthin, wo die Seelöwen wohnten. Als er zum Haus des Löwenkönigs kam, sah er die Haut seines Bruders, die am Eingang des Zelts hing. Er ging hinein und sagte den anderen Löwen, sie sollen eine Trennwand errichten, denn er müsse allein sein, wenn er einen Zauber anwenden würde, um die Wunde des Königs zu heilen. Also errichteten sie eine Trennwand im Zelt und ließen Wisukatcak allein mit dem Löwenkönig. Daraufhin begann Wisukatcak, die Rassel zu schütteln und »Ich bin der rasselnde Stachel« zu singen. Doch statt den Pfeil aus der Wunde herauszuziehen, stieß er ihn tiefer hinein. Da rief der Löwenkönig laut, Wisukatcak wolle ihn töten, woraufhin alle anderen Löwen aufgebracht ins Zelt stürzten. Wisukatcak konnte bloß noch die Haut seines Bruders packen und um sein Leben rennen. Doch während er rannte, verwandelte er seinen Bruder zurück in einen lebenden Wolf. Als Wisukatcak das Ufer erreichte, schickten die Löwen eine große Flutwelle hinter ihm her, die höher und höher wurde. Er kletterte auf die höchsten Berge, um ihr zu entkommen, doch das Wasser stieg weiter an. Da sammelte er alle Äste und Holzstücke ein, die er finden konnte, und baute ein Floß. Er ließ sich auf dem Floß treiben und sah, wie das Wasser nach und nach alle Gipfel bedeckte und die Welt überflutete!
Nach einer Weile fragte Wisukatcak sich, was er tun sollte. Als er sich umschaute, erblickte er einige Wassertiere, die nicht ertrunken waren. Also rief er den Biber, den Otter und die Bisamratte zu sich aufs Floß. Dann sagte er zum Biber:
»Schwimm zum Boden und versuch, etwas Erde hinaufzubringen.«
Da tauchte der Biber unter und blieb lange Zeit fort. Als er schließlich wieder auftauchte, war er tot. Wisukatcak sah sich Maul und Pfoten des Bibers genau an, fand jedoch keine Erde. Dann sprach er zum Otter:
»Schwimm zum Boden und versuch, etwas Erde hinaufzubringen.«
Also tauchte der Otter unter, aber auch er kehrte tot zurück, mit leeren Pfoten. Zuletzt schickte Wisukatcak die Bisamratte hinunter, und auch sie blieb lange Zeit unter Wasser, bevor sie tot wieder auftauchte. Doch als Wisukatcak sie genauer untersuchte, fand er an den Pfoten und im Maul ein wenig Schlamm.
Daraufhin nahm Wisukatcak den Biber, den Otter und die Bisamratte, hauchte ihnen neues Leben ein, nahm den Schlamm, den die Bisamratte heraufgebracht hatte, formte ihn zu einer kleinen Kugel, legte diese auf sein Floß und pustete auf den Schlamm. Je länger er pustete, desto größer wurde die Kugel, bis sie schließlich riesengroß war.
Da sprach Wisukatcak zum Wolf:
»Mein Bruder, renne um diese Welt, die ich erschaffen habe, und sieh, wie groß sie ist.«
Also rannte der Wolf einmal um die Erde. Er brauchte lange dafür, kehrte jedoch schließlich zurück und sagte:
»Die Welt ist sehr groß.«
Doch Wisukatcak fand sie noch nicht groß genug. Deshalb pustete er von neuem, sodass sie noch viel größer wurde. Dann schickte er eine Krähe los, und sprach:
»Fliege um meine Welt und sieh, wie groß sie ist.« Also flog die Krähe los, kehrte jedoch nie zurück, und Wisukatcak entschied, dass die Welt nun groß genug war.
Das ist die Geschichte von Wisukatcak, der die Welt überflutete und neu erschuf.