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Privatisierter Merkantilismus

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Fragt man nach der analytischen Bedeutung der Formierung proprietärer Märkte, ist man weniger auf etwas vollkommen »Vorbildloses« (Zuboff 2019) als vielmehr auf etwas für die kapitalistische Ökonomie recht Ursprüngliches verwiesen. Mit den proprietären Märkten kehrt im Grunde eine Idee zurück, die die frühkapitalistische, vorliberale Epoche in Europa prägte. Basis des Merkantilismus jener Zeit war − anders als im (Neo-)Liberalismus − ein Verständnis des Welthandels als Nullsummenspiel. Dies zeigte sich insbesondere an der Bedeutung einer aktiven Handelsbilanz, die das zentrale Ziel des merkantilistischen Staates darstellte. Wohlstand war aus dieser Perspektive nur durch die Übervorteilung anderer Parteien zu erreichen. Positive Handelsbilanzen wurden den »gegnerischen Parteien« gerade im Rahmen des Imperialismus regelmäßig mit roher Gewalt abgepresst, etwa mithilfe staatlich garantierter und geschützter Handelsmonopole wie der britischen Ostindien-Kompanie, die von der englischen Krone unter anderem mit dem Recht ausgestattet worden war, eigene Truppen auszuheben.

Der große Unterschied zwischen dem im Entstehen begriffenen System proprietärer Märkte und dem klassischen Merkantilismus besteht dabei in der jeweiligen Rolle des Staates. Es war der Staat, der die Handelsmonopole förderte, weil er von deren Gewinnen profitierte. Die Trading Companies waren in dieser Hinsicht Monopole von Gnaden des absolutistischen Staates.

Die proprietären Märkte des kommerziellen Internets hingegen sind privatwirtschaftliche Unternehmen, die in jüngerer Vergangenheit gerade für diverse demokratieschädigende Praktiken in die Kritik geraten sind: Steuervermeidung etwa oder die Beförderung einer Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit. Der Staat ist der große Verlierer dieser Entwicklung.

Wie der klassische Merkantilismus, der auf Handelsgewinne zielte, weil Produktivitätsgewinne kaum existierten, ist auch sein digitaler Wiedergänger ein Projekt für eine Welt ohne Wachstum. Im Zeichen der Stagnation des Gegenwartskapitalismus werden offenbar Geschäftsmodelle attraktiv, die auf das Abschöpfen von Renten durch Marktbesitz ausgerichtet sind. Der digitale Kapitalismus bricht in diesem Sinne mit jeder liberalen Spielart des Kapitalismus. Denn mit der Kontrolle des Marktes wird dieser als neutrale Instanz des Tausches praktisch abgeschafft.

Man kann in diesem Sinne vom kommerziellen Internet der Gegenwart als einem Ort sprechen, der von einer post-neoliberalen Praxis geprägt ist. Der Markt als neutrale Instanz des Tausches ist hier praktisch abgeschafft zugunsten eines privatisierten Systems datengestützter Profitextraktion.

Der privatisierte Merkantilismus der Leitunternehmen ist freilich in den vergangenen Jahren immer stärker in den Fokus öffentlicher Kritik und politischer Regulierungsbestrebungen gerückt – gerade in Europa. Dabei sind es vor allem Zugriffe über das Kartellrecht, mit denen versucht wird, der Macht der Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus Grenzen zu setzen. Ziel ist es, den proprietären Märkten des kommerziellen Internets eine Neutralitätspflicht aufzuerlegen, indem beispielsweise Diskriminierungen gegen Wettbewerber unterbunden werden.

Verspielt wird hier womöglich eine dritte Option zwischen privatisierten und neutralen Märkten. Denn um die Chancen der Digitalisierung für eine demokratische Transformation der Gesellschaft zu nutzen, bedarf es der aktiven Gestaltung von Märkten. Während Privatisierung oder Neutralität von Märkten uns letztlich nur die Wahl lassen, welche wirtschaftlichen Akteure von der digitalen Ökonomisierung profitieren sollen, könnte die Machtkonzentration des digitalen Kapitalismus schließlich auch als Ressource für die Gestaltung einer Zukunft genutzt werden, die sozial-ökologisches Handeln prämiert und destruktive wirtschaftlich Praxis per Programmcode zunehmend ausschließt.

Eine erste Version dieses Beitrags ist unter dem Titel »Privatisierter Merkantilismus« in der »Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (spw)«, Heft 234 (2019), S. 14–20 erschienen.

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