Читать книгу Vom Bürger zum Konsumenten - Группа авторов - Страница 6

Ökonomisierung: Eine Herausforderung wird besichtigt Thomas Hauser und Philippe Merz

Оглавление

Jede Perspektive ist im Wortsinn relativ. Sie ist Teil eines Ensembles verschiedener Blickwinkel und Deutungen, die jeweils unterschiedliche Eigenschaften und auch Möglichkeiten eines Phänomens hervorheben. Damit vernachlässigt jede Perspektive unweigerlich andere Deutungsmöglichkeiten oder blendet bestimmte Facetten sogar gänzlich aus. Das ist zunächst keineswegs problematisch: Eine Architektin blickt anders auf ein Haus als ein Statiker, eine Immobilienmaklerin anders als ein Tourist, die Mitarbeiterin einer Vermietungsplattform anders als der Mitarbeiter des städtischen Bauamts. Sie alle nehmen sowohl gemeinsame als auch unterschiedliche Facetten des Gebäudes wahr und heben diese hervor, geleitet von eigenen Interessen oder institutionellen Aufgaben. Das ist nicht nur legitim, sondern sogar ein wesentlicher Bestandteil ihrer jeweiligen sozialen Rolle.

Problematisch wird eine solche Fokussierung jedoch dann, wenn mit ihr der Anspruch einhergeht, die Fokussierung sei gar nicht relativ, sondern vielmehr absolut, also die einzig mögliche Deutung eines Phänomens. Dann wird aus einer Perspektive eine Ideologie. Karl Mannheim, der Soziologe, hat diese These sinngemäß schon vor fast 100 Jahren formuliert (vgl. Mannheim 2015).

Mit Blick auf das Schlagwort der »Ökonomisierung« lautet die zentrale Frage somit: Sind wir als Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten mehrheitlich der Versuchung erlegen, die ökonomische Perspektive sowohl auf die Phänomene der sozialen Welt als auch der Natur einseitig dominieren oder sogar absolut werden zu lassen? Haben wir nicht nur Finanzmärkte dereguliert und öffentliche Güter privatisiert, sondern auch Grundgüter unserer Existenz wie die Natur, das Wohnen, Gesundheit und Bildung, ja sogar unser Selbstverhältnis von einer effizienzorientierten Verwertungs- und Steigerungslogik bestimmen lassen? Haben wir diese Güter damit kompromittiert oder sogar korrumpiert? Und wenn dem so ist, schreitet diese Entwicklung weiter voran, wie es der dynamische Unterton des Begriffs »Ökonomisierung« nahelegt, oder lassen sich bereits handfeste Gegentendenzen und mögliche Auswege ausmachen?

Fest steht zunächst, dass der Begriff längst nicht mehr nur im geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachdiskurs oder im linksliberalen Feuilleton kursiert, sondern in der gesamten Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsentwicklung eine zentrale Rolle einnimmt. Umso wichtiger ist es, seine Mehrdeutigkeiten sichtbar zu machen und ihn kontextabhängig zu präzisieren.

Zunächst gilt es jedoch, mit einem Missverständnis aufzuräumen. Nicht die Marktwirtschaft als solche ist das Problem, sondern das, was Menschen aus ihr machen und gemacht haben. Markt ist zunächst nicht mehr als das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage, aufgrund dessen sich Preise bilden. Diese »spontane Ordnung« ist aus vielerlei Gründen für Menschen und Gesellschaften vorteilhaft, angefangen bei der materiellen Bedürfnisbefriedigung bis hin zur zivilisierenden Kraft des grenzüberschreitenden Handels. Einem großen Teil der Menschheit geht es mit ihr heute weit besser als vor 100 Jahren. Sie bedarf aber – das zeigt die Wirklichkeit – mehr Regeln als die »unsichtbare Hand«, die der Moralphilosoph Adam Smith am Werk sah. Doch wo es um Regeln geht, geht es immer auch um die Macht, diese Regeln festzulegen, durchzusetzen und mit ihnen erfolgreich umzugehen. Damit ist stets auch die Gefahr des Machtmissbrauchs verbunden. Mindestens ebenso sehr – und zumeist weniger beachtet – geht es jedoch um unsere Denkmuster und Bewertungsgewohnheiten. Wer diese beherrscht, verändert langfristig die Verhaltensweisen der Menschen. In diesem Sinne lässt sich ein viel zitierter Satz des britischen Staatsmanns Winston Churchill zum Wesen der Demokratie auch auf unsere Wirtschaftsordnung anwenden: Die Marktwirtschaft ist das schlechteste aller Wirtschaftssysteme, ausgenommen alle anderen.

Das Ziel der hier versammelten Beobachtungen und kritischen Analysen besteht also nicht darin, dieses Wirtschaftssystem einseitig zu verteufeln (und damit selbst wiederum ideologisch zu werden), sondern einige der zentralen ökonomistischen Veränderungen zu diagnostizieren, die sich seit den 1970er Jahren weltweit ausgebreitet haben. Nur mit einer solchen differenzierten Diagnose lässt sich beurteilen, wie weit das messende, rechnende, gewinnorientierte Denken tatsächlich vorgedrungen ist und ob diese Dynamik gebremst, korrigiert und um andere Perspektiven ergänzt werden sollte – etwa um die Gesellschaft vor Oligopolen und entfesselten Kapitalmärkten zu schützen oder um nicht-ökonomische Werte wie politische Teilhabe, Chancengerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit, also einen enkeltauglichen Umgang mit den natürlichen Ressourcen des Planeten, zu stärken. Für eine solche Gesellschaft, deren Zukunft schon begonnen hat, soll der vorliegende Band sowohl kritische als auch konstruktive Perspektiven bieten. Hierfür können zunächst einige Vorüberlegungen helfen.

»The economy, stupid!«, also: »Die Wirtschaft, Dummkopf!«. Hinter dieser flapsigen Bemerkung von James Carville, dem Strategen von Bill Clintons erfolgreicher Kampagne bei der US-Präsidentschaftswahl 1992, verbirgt sich längst nicht mehr nur der Hinweis, dass die wirtschaftliche Lage Wahlen entscheidet. Dass Geld die Welt regiert, haben wir mittlerweile so oft erfahren, dass die meisten bereit sind, es als Naturgesetz hinzunehmen und folglich ihr Denken und Handeln danach auszurichten. Marktwirtschaft kann also nicht nur innovative, kreative oder zivilisierende Kräfte freisetzen, sondern auch entmutigende und beengende. Viele akzeptieren dieses Denken, weil sie hoffen, dadurch selbst reich und einflussreich zu werden, andere, um ihre eigene Lethargie zu rechtfertigen: »Dagegen kann ich als kleiner Mensch sowieso nichts machen.«

Wenn dem allerdings so wäre, hätten unsere Vorfahren nie die Demokratie erkämpft. Diese Staatsform – wir sollten uns daran immer wieder erinnern – weist uns Bürgerinnen und Bürgern die Rolle des Souveräns zu. Staat, Justiz und Wirtschaft sind uns gegenüber zwar nicht weisungsgebunden, aber unserem Wohl verpflichtet. So weit, so idealistisch. In der Realität war dies schon immer ein fragiles Konstrukt, weil eine Gesellschaft weder homogen noch herrschaftsfrei denkbar ist. Umso wichtiger ist es, wer die Regeln des Zusammenlebens definiert und durchzusetzen vermag. Dies ist ein permanenter, im besten Fall fairer und konstruktiver Prozess, in dem niemand unumschränkte Macht erhält, sodass Fehler und Fehlentwicklungen stets korrigiert werden können. Selbstverständlich aber ist dies nicht. Es wird immer Menschen und Gruppen geben, die nach der ganzen Macht greifen wollen, anstatt sie demokratisch zu teilen.

Man kann sich eine solche Gesellschaft als ein gewaltiges Mobile vorstellen, in dem unzählige Spannungen, Kräfteverhältnisse und Widersprüche immer wieder neu austariert werden müssen. Da geht es um Freiheit und Sicherheit, Macht und Kontrolle, Eigennutz und Gemeinwohl, individuelles Erfolgsstreben und solidarisches Teilen. Die Liste kann mühelos verlängert werden. Ist die Balance an einer oder mehreren Stellen vorrübergehend erreicht, geraten andere Bereiche aus dem Lot, weil manche Akteurinnen und Akteure versuchen, diese Balance zu beeinflussen – oft aus legitimen, wenngleich individuellen Motiven, manchmal aber auch in illegitimer Absicht. Zudem können politische oder ökonomische Umwälzungen sowie technologische Innovationsschübe wie derzeit die Digitalisierung ein solches System mit seinen zahlreichen Subsystemen in eine äußerst unübersichtliche, fragile Lage manövrieren. Das sind Zeiten, in denen die Grundsätze unseres Zusammenlebens neu verhandelt und austariert werden müssen. Zeiten wie diese.

Um was es dabei auch geht, lässt sich am Beispiel des Begriffs »Verantwortung« zeigen. Dieser Begriff avanciert zwar erst mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Grundprinzip der westlichen Ethik, schlägt sich jedoch schon zuvor im juristischen Haftungsgrundsatz oder dem Ideal des ehrbaren Kaufmanns nieder (vgl. Bayertz 1995). Für ehrbare Kaufleute – ja, solche gibt es weiterhin – gelten gewisse Grundsätze wie Aufrichtigkeit und Fairness unverändert. Allerdings wirken solche Grundsätze für manche Menschen heutzutage nicht nur deswegen antiquiert, weil anonyme internationale Konzerne längst die Geschicke der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung bestimmen, sondern auch deswegen, weil manche dieser Unternehmen noch immer systematisch versuchen, ihrer ethischen wie juristischen Verantwortung auszuweichen. Dabei folgen sie der Logik, dass es Gewinne zu maximieren, die negativen Konsequenzen hingegen zu sozialisieren gelte. Das geschah in der Finanzmarktkrise, das ist so in der Umweltpolitik. Plastisch vor Augen geführt wurde es uns auch beim Dieselskandal, als mehrere Autohersteller lieber eine Betrugssoftware programmieren ließen, die Abgasmessungen fälschte, als sich um Abgasminderung zu bemühen, weil dies länger gedauert und damit Umsätze und Gewinne geschmälert hätte. Persönlich in Haftung genommen wurden die Verantwortlichen bis heute nur bedingt. Dass solche »Vorbilder« nicht nur das Verhalten vieler Menschen im Wirtschaftsleben beeinflussen, sondern auch im alltäglichen sozialen Miteinander, scheint naheliegend.

Wie es anders ginge, erklärt uns der Philosoph Karl Popper sinngemäß so: Wir müssen uns selbst – und niemand sonst – in die Pflicht nehmen und Verantwortung übernehmen. Für uns und unser Handeln. Und damit nicht zuletzt auch für die Geschichte. Wenn der Einzelne dazu nicht bereit ist, verabschieden wir uns Schritt für Schritt aus der Zivilisation und laden die Barbarei zur Rückkehr ein (Popper 2003). Popper steht damit in einer langen aufklärerischen Tradition von Immanuel Kant bis zu Isiah Berlin, Ralf Dahrendorf oder Norbert Elias, der – knapp zusammengefasst – zu der Erkenntnis kommt: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet (Elias 1976). Manche Philosophen wie etwa Hans Jonas gehen angesichts unserer weitreichenden, potenziell sogar vernichtenden technologischen Handlungsmacht noch einen Schritt weiter und stellen fest, dass Verantwortung heute vor allem darin bestehe, uns in konsequenter freiwilliger Selbstbeschränkung zu üben (Jonas 1979).

In Zeiten großer Umbrüche, wie wir sie aktuell erleben, beeinflussen zahlreiche Kräfte und Faktoren die gesellschaftliche Entwicklung. Die Digitalisierung (eine Technologie gewordene Scheinobjektivität) erfasst immer weitere Teile des Lebens und verändert unsere Gewohnheiten grundlegend. Sie begünstigt zudem nicht nur eine wachsende Globalisierung unseres Wirtschaftens, sondern auch einen Kapitalmarkt, der sich nationaler Regulierung entzogen und sich vom Diener des ehrbaren Kaufmanns zu dessen Herrn aufgeschwungen hat. Dies wird dadurch begünstigt, dass die Politik nicht nur das Primat über die Wirtschaft bei der Definition und Durchsetzung von Regeln verliert. In immer mehr Ländern verbündet sie sich mit der Wirtschaft zulasten der Gesellschaft und der Freiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. China ist da nur ein besonders drastisches Beispiel.

Norbert Blüm, Christdemokrat und Minister für Arbeit und Soziales in der Regierungszeit von Helmut Kohl (1982–1998), beschrieb die für ihn sichtbare Gefahr mit der ihm eigenen Direktheit: »Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. […] Aus Marktwirtschaft soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr Gebiete, sondern macht sich auf, Herz und Hirn der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt die Zentralen der inneren Steuerung des Menschen« (Blüm 2006, 81).

Wir wollen uns im Folgenden damit beschäftigen, wie Ökonomisierung immer weitere Teile unseres Denkens und Handelns erfasst und verändert. Grundsätzlich lässt sich Ökonomisierung als ein Prozess beschreiben, bei dem sich die Ordnungsprinzipien des Marktes auch auf solche Güter und Praktiken ausbreiten, die bislang nicht (primär) ökonomisch organisiert waren, sondern vielmehr solidarisch oder privat geteilt wurden. Sie werden nun in »Produkte« umgewandelt und über Preise auf Märkten gehandelt (vgl. Boltanski/Chiapello 2003). Im Unterschied zu dieser eher kategorialen Umdeutung bezeichnet der verwandte Begriff der »Kommerzialisierung« eine graduelle Intensivierung der Marktlogik bei solchen Gütern und Praktiken, die ohnehin bereits auf Märkten gehandelt wurden. Gemeinsam ist beiden Prozessen, dass sie der Logik marktwirtschaftlichen Denkens (Effizienz, Verwertbarkeit, Messbarkeit, Gewinnorientierung, Steigerung) folgen. Im Fall der Ökonomisierung bietet es sich zudem an, mehrere Entwicklungsstufen zu unterscheiden. Diese reichen – je nach Unterteilung – von einer ersten Stufe, auf der die Menschen über keinerlei Kostenbewusstsein verfügen und Zahlungsfähigkeit problemlos gegeben ist, bis hinauf zu jenen Sphären, in denen von Menschen erwartet wird, ihr Handeln grundsätzlich marktförmig auszurichten oder sogar Gewinne als einziges Ziel zu verfolgen (vgl. Schimank/Volkmann 2008; Volkmann 2019). Insbesondere um jene letzten beiden Stufen geht es, wenn von »Ökonomisierung« im engeren Sinn die Rede ist. Sie stehen im vorliegenden Band mitsamt ihren Nebenwirkungen und Hintergründen zur Diskussion.

Das wirtschaftliche Handeln in modernen kapitalistischen Ökonomien wird jedoch nicht nur von sozialen und kulturellen Wertvorstellungen strukturiert und gesteuert, sondern auch von verbindlichen Rechtsnormen. Auch hier ließ sich in den vergangenen Jahrzehnten beobachten, dass moralische und soziale Ansprüche gegenüber einer reinen Kosten-Nutzen-Kalkulation in den Hintergrund gedrängt wurden. Wir erleben also einen Paradigmenwechsel, wenn man so will eine »Refeudalisierung der Öffentlichkeit« (Habermas 1962, 233), die der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas schon in den 1960er Jahren mit Blick auf die Entwicklung der Medien diagnostizierte. Der Mensch, der sich seine Freiheit und seine Bürgerrechte über Jahrhunderte erkämpft hat, lässt sich diese zunehmend nehmen und droht dabei, zum bloßen Konsumenten oder manipulierbaren Datenlieferanten degradiert zu werden. Die Gesellschaft wandelt sich in Richtung eines allumfassenden Markts, auf dem sich Menschen vor allem als Vertragspartner mit ausschließlich individuellen Interessen begegnen. Margaret Thatcher, die konservative britische Premierministerin, die ihrem Land eine rigorose neoliberale Politik verordnete, hatte diese Haltung bereits verinnerlicht: »There is no such thing as society« (»Es gibt keine Gesellschaft«).

Nun war und ist eine solche Entwicklung selbst zu ihren Hochzeiten nie bruch- und widerstandslos. Zudem mehren sich seit Jahren die Zeichen, dass soziale und ökologische Fragen sowohl für Individuen als auch für Unternehmen und Staaten wieder an Bedeutung gewinnen und damit zugleich das rigorose Effizienzdenken infrage gestellt wird. Dennoch sind die Beharrungskräfte solcher Denk- und Handlungsmuster mächtig. In unseren Köpfen wie in unseren Institutionen. Doch ebenso gilt: Die ökonomischen Imperative sind menschengemacht und können deshalb von Menschen beeinflusst werden. Sie definieren, welche Regeln in welchem Bereich der Gesellschaft gelten sollen. Das heißt, sie befinden – auch durch Erdulden – letztlich darüber, ob immer mehr Lebensbereiche den Prinzipien der Gewinnorientierung oder sogar Gewinnmaximierung unterworfen werden. Oder ob Solidarität, Fairness, Verantwortung und ökologische Nachhaltigkeit tatsächlich neue bzw. wieder entdeckte Zielvorstellungen unseres Zusammenlebens werden. Eine offene und lebendige Diskussion hierüber ist schon deshalb dringend nötig, weil durch die Globalisierung sehr unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, das Marktdenken aber sowohl im Verhältnis zu den meisten anderen westlichen Gesellschaften als auch im Verhältnis zu China anschlussfähiger ist als der Sozial- und Kulturstaat deutscher Prägung. Wer seine Werte in eine neue Weltordnung hinüberretten will, wird sich für diese einsetzen müssen. Nicht erst im Detail, sondern bereits im Grundsatz, also im Denken. Denn Gedankengebilde, die zu einer Ideologie mutieren, scheinen in sich stimmig, sie sind immanent kaum noch zu widerlegen. Wenn Rendite oder Effizienz überall und unwidersprochen den globalen Benchmark definieren, können die Argumente für eine solidarische und ökologisch nachhaltige Gesellschaft ins Leere gehen.

In Deutschland mit seiner hart erkämpften sozialstaatlichen Tradition waren Medien, Kultur, Bildung, Gesundheitswesen, Wohnen, Umwelt und Politik nie ganz dem Markt unterworfen, sie waren immer Wirtschafts- und Kulturgüter zugleich. Das Marktdenken wurde in diesen Bereichen jedoch über lange Zeit handlungsbestimmender – und wird es teils noch heute. Dies kann im Einzelfall sinnvoll und gut begründbar sein; es sollte jedoch selbst dann nicht einfach geschehen, sondern von der Mehrheit der Gesellschaft bewusst reflektiert und aktiv gewollt werden, nicht nur von Einzelnen und ihren Gewinninteressen.

Plastisch lässt sich diese ökonomische Entgrenzung am Beispiel der Medizin verdeutlichen. Galt es im Mittelalter noch als Frevel, einen toten Menschen überhaupt zu öffnen, um Kenntnisse über sein Innenleben zu erlangen, besteht heute die Tendenz, den toten Menschen als Ersatzteillager für dringend benötigte Spenderorgane zu nutzen. Aber finden wir es auch gut, dass Krankenhäuser und Pflegeheime, früher oft unter der Trägerschaft von Kommunen oder mildtätigen Stiftungen, heute immer öfter von privatwirtschaftlichen, teils sogar börsennotierten Unternehmen als lukrative Investments mit hohen Gewinnversprechen geführt werden? Entsprechend hoch ist dann der Druck, effizient zu arbeiten. Menschliche Werte wie Empathie und Zuwendung können da wirtschaftliche Unternehmensziele gefährden.

Ähnlich ist die Entwicklung im Bereich der Daseinsvorsorge. Post und Telekomunikation waren lange Zeit – zumindest in Europa – Sache des Staates, ebenso Infrastruktur wie die Bahn oder die Netze für Strom, Gas und Wasser. Dass Telekommunikationsanbieter heute Privatunternehmen sind, daran haben wir uns gewöhnt. Diese verdienen gut, was kaum jemanden stört, solange ihre Dienstleistungen nicht teurer werden. Aber wenn es mit dem Ausbau des schnellen Internets nicht rasch genug vorangeht, rufen wir nach dem Staat. Auch dann, wenn der ländliche Raum von den Privatunternehmen großflächig als unrentabel ignoriert wird (was freilich in der ökonomischen Logik rational ist). Ähnlich ist es bei der Bahn, die zwar weiterhin ein Staatsunternehmen ist, aber längst renditeorientiert geführt wird und sich z. B. aus der Fläche zurückzieht.

Spätestens beim Wasser hört jedoch für die meisten der Spaß auf. Ohne Wasser kann kein Mensch leben. Dennoch werden mit Wasser weltweit lukrative Geschäfte gemacht, während weiterhin viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Marktgläubige plädieren dafür, die Wasserversorgung gänzlich zu privatisieren. Was dann geschieht, zeigt sich in einigen afrikanischen und asiatischen Ländern, in denen es Menschen in manchen Gebieten immer schwerer fällt, an sauberes Trinkwasser zu kommen, weil private Unternehmen lukrative Nutzungsrechte für besonders ergiebige Quellen erwerben und dann das Wasser zu Preisen verkaufen, die für die ärmere lokale Bevölkerung kaum mehr erschwinglich sind. Ein Beispiel für die gegenteilige, wenngleich ebenfalls problematische Auswirkung ökonomischer Maximen bildet die Stadt London. Hier verschleppte das ehemals staatliche, von Margaret Thatcher privatisierte Wasserversorgungsunternehmen Thames Water über Jahre hinweg die kostspieligen Reparaturen zahlreicher Leckagen, sodass dort heute etwa 3,17 Milliarden Liter Trinkwasser im Erdboden versickern – pro Tag.

In der Landwirtschaft zeigt sich die Kehrseite der Ökonomisierung allerorten, etwa an Patenten auf Saatgut. Vor allem dann, wenn es gelingt, alte, von den Landwirten selbst reproduzierbare Pflanzen vom Markt zu verdrängen und Landwirte von Saatgut und der dafür nötigen Düngung abhängig zu machen. Beides muss dann von einem Unternehmen bezogen werden, das die Preise diktieren kann.

Auch im Bildungswesen hat sich der ökonomische Paradigmenwechsel eindrucksvoll niedergeschlagen. Wenn sich der Wert des Menschen primär an seiner Leistungs- und Konsumfähigkeit bemisst, sollte in Schulen und Universitäten vor allem verwertbares Wissen mitsamt einem bunten Strauß an arbeitsmarkttauglichen »Kompetenzen« erworben werden. So aber verliert Bildung schleichend ihre Bedeutung als Bürgerrecht. In diese Linie passt die Ökonomisierung der Hochschullandschaft mit ihrer Ausrichtung auf permanenten Wettbewerb um Drittmittel, Ranking-Positionen und Exzellenz-Orden ebenso wie die Diskussion um das acht- oder neunjährige Gymnasium. G8 sowie der Bologna-Prozess mit seinen Bachelor- und Masterabschlüssen wurde vor allem von der Wirtschaft gefördert, um junge Menschen rascher ins Berufsleben zu bringen und zielgenauer auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Mit dem Ergebnis ist kaum jemand zufrieden, auch weil im Tauziehen zwischen den bildungspolitischen und ökonomischen Kräften der Lehrplan überfrachtet wurde (überfrachtet werden musste?). Weitere Nebenwirkungen sind zu besichtigen: Handwerksberufe wurden unattraktiver, werden aber eher mehr gebraucht. Und wer kann, schließt dem Bachelor einen Master an, um sich mehr Entwicklungsmöglichkeiten offenzulassen und das eigene Verwertungspotenzial zu steigern. Dass die Ökonomisierung unseres Denkens und Handelns mit einer erstaunlichen Unkenntnis breiter Bevölkerungsschichten über ökonomische Zusammenhänge einhergeht, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Schlecht Gebildete waren schon immer leichter zu (ver-)führen als aufgeklärte, kritisch nachfragende Geister.

Auch der Paradigmenwechsel in der Medienlandschaft verläuft tendenziell vom Bürger zum Konsumenten. Wichtig für die Qualität der Dienstleistung von Journalistinnen und Journalisten ist heute weniger, was eine Bürgerin oder ein Bürger wissen sollte, um sich ein fundiertes Urteil über öffentliche Sachverhalte zu bilden und die eigene Rolle als Souverän verantwortungsvoll auszufüllen; vielmehr zählt, was gefällt und daher zu erhöhter Nachfrage führt, insbesondere zu vielen »Klicks« und »Likes« im Online-Journalismus. Damit wird eine Zeitung für diejenigen Unternehmen interessanter, die hier ihre Anzeigen- und Werbeflächen buchen. Der recherchierende Blick von Journalistinnen und Journalisten, eigentlich Dienstleister der Bürgergesellschaft, schwenkt so tendenziell von den politisch relevanten Themen zu den spontanen Interessen und Launen der Konsumenten, die es zu fesseln gilt.

Dass sich hier auf beiden Seiten nicht nur Rollen, sondern auch Erwartungen verschieben, zeigt sich besonders in der Politik. Der Bürger als Souverän wird zunehmend unduldsam, weil »die Politik« allfällige Probleme nicht so effektiv zu lösen vermag wie es Unternehmen angeblich tun. Dass wir in unserer Rolle als Bürgerinnen und Bürger über unveräußerliche Rechte verfügen, die sich aus dem ersten Satz unserer Verfassung, dem Würde-Grundsatz im Grundgesetz, ableiten, und daher beispielsweise kein Bürger aus dem Staat entlassen werden kann wie ein Mitarbeiter aus einem Unternehmen, wird dabei gelegentlich übersehen. Häufiger noch wird übersehen, dass unter Politikerinnen und Politikern dieselben unterschiedlichen Interessen versammelt sind wie in der Gesellschaft und folglich auch hier niemand über absolutes Wissen und absolute Macht verfügt (verfügen soll!). Umso verführerischer glänzt für manche Digital-Apologeten folglich die Verheißung, dass Algorithmen bald in der Lage sein könnten, der Politik den richtigen Weg zu weisen: evidenzbasierte Politik eben. Aber wer programmiert wie die Algorithmen? Die Schöne neue Welt des Schriftstellers Aldous Huxley lässt grüßen.

Viele politische Entscheidungsträgerinnen und -träger haben derartige Erwartungshaltungen und die damit notwendig verbundenen Enttäuschungen allerdings auch selbst bestärkt. Etwa, indem sie notorisch den Eindruck vermittelt haben, »gute Politik« bemesse sich primär oder gar allein an der Senkung der Arbeitslosenzahlen oder der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, also an wachstumsorientierter Wirtschaftspolitik. Oder indem sie zu wenig dagegen unternommen haben, dass die Einkommen im oberen Zehntel der Bevölkerung in den letzten 30 Jahren um 30 % gestiegen sind, während sie im unteren Zehntel um 10 % gesunken sind. So besitzen heute 45 Deutsche so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen. Es wurde also eine Umverteilung von unten nach oben geduldet, von der inzwischen die Hälfte des Mittelstands betroffen ist. Viele Menschen haben daher nicht nur berechtigte Abstiegsängste, sondern neigen auch populistischen Parteien zu. Damit lässt eine forcierte Marktwirtschaft, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, die bürgerliche Mitte der Gesellschaft erodieren und gefährdet eine liberale Gesellschaft sowie schließlich die Fundamente des Rechtsstaats.

Dass es überdies die Tendenz gibt, selbst die Kultur auf ein Konsumgut zu reduzieren, haben schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung analysiert. Gehörte für Karl Marx die Kultur noch zum Überbau, auch wenn sie Ausdruck der Interessen der herrschenden Klasse war, so war die Entstehung der Kulturindustrie, wie sie sich zunächst in Hollywood ausbildete, für Adorno die Umwandlung der Kultur selbst in eine Ware. Noch sauberer getrennt waren zu seiner Zeit Kultur und Technologie. Die Digitalisierung ermöglicht heute jedoch eine Annäherung von Ökonomie, Technik, Unterhaltung und Telekommunikation zu einer kaum mehr differenzierbaren Gemengelage. Das Ergebnis ist eine Lizenz zum Gelddrucken. Hier gilt der Dreiklang: Privatisierung, Kommerzialisierung, Eventisierung.

Andererseits: Kultur war schon immer besonders auf die Gunst des Geldes angewiesen. Herrscher hielten sich von alters her ihre Hofnarren und Sänger zur Demonstration ihres Reichtums und Einflusses; Kirchen und Paläste waren lukrative Orte für Künstler, Schauspieler, Musiker und Komponisten. Zwar gab es stets aufklärerische, revolutionäre Kunst und Kultur, doch die Demokratisierung kam erst spät und nur bedingt voran. Heute ist Kultur als »weicher Standortfaktor« längst fester Bestandteil der Selbstvermarktung von Städten und Bundesländern. Auf der anderen Seite stehen die Anstrengungen der Kulturpolitik, steht die Rolle der Kultur als »ethisch-moralische Daseinsvorsorge« (Oehm 2016). Öffentlich-rechtliche Orchester und Theater können mit einer Selbstfinanzierungsquote von unter 20 % dank staatlicher Unterstützung blühen, müssen aber bei jeder Krise der öffentlichen Haushalte bangen. Staatliche Sammlungen, Museen und Schlösser hegen und pflegen das Erbe der Geschichte und ermöglichen neue Werke als Hinterlassenschaft an die Nachfahren. Aber ein wenig stellt sich auch hier der Verdacht ein, diese Politik diene nicht primär aufklärerischen Zielen, sondern folge der Erkenntnis: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es müssen Brot und Spiele sein. Was hierbei schwindet, sind die gesellschaftlichen Räume für offene kollektive Selbstverständigung und für das Spiel mit (vermeintlicher) Nutzlosigkeit, Dysfunktionalität, Missverständnissen, Fehlern und Provokationen.

Vor allem aber – und oft zuallererst – kolonialisieren ökonomische Denkfiguren und Imperative unser Selbstverhältnis und unser Menschenbild, also diejenige Weise, in der wir uns selbst in die Welt gestellt sehen. Wenn dies geschieht, neigen wir immer stärker dazu, unsere eigenen Anlagen und Fähigkeiten permanent messen, steigern, optimieren und ökonomisch verwerten zu wollen. So wird ein Tag zu einer bloßen Summe von gezählten Schritten und Herzfrequenzspitzen, werden die einzelnen Lebensphasen zur bloßen Summe von erfolgreich gemanagten Projekten, und das Leben selbst zu einem permanenten »business case« in eigener Sache.

Auch dieser Zwiespalt macht einmal mehr deutlich, worum es beim Nachdenken über die Ökonomisierung unseres Denkens und dessen Folgen letztlich geht. Es geht um die Frage, ob wir in einer allerorts markttauglich gemachten Gesellschaft leben wollen – oder ob wir eine menschenzentrierte Gesellschaft anstreben, auf die hin das Marktgeschehen domestiziert und begrenzt wird.

Dieses Buch kann nicht einmal annähernd alle historischen und systematischen Aspekte dieses weit verzweigten Themas untersuchen. Die Autorinnen und Autoren haben aus ihren unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfeldern daher jeweils einen Aspekt ausgesucht, der Ökonomisierungstendenzen in so grundlegenden Bereichen wie dem digitalisierten Marktgeschehen, der Natur, dem Gesundheits- und Bildungswesen, der medialen Öffentlichkeit, dem Wohnen und unserem Selbstverhältnis exemplarisch beleuchtet. In Gänze ergibt sich so eine Sammlung, die verdeutlicht, wie schillernd, vielschichtig und oft auch unscharf der Begriff der »Ökonomisierung« ist, die jedoch zugleich erahnen lässt, vor welchen Herausforderungen wir als Gesellschaft im klugen Umgang mit dieser Dynamik stehen. Mögliche Lösungsideen werden herausgearbeitet und zur Diskussion gestellt – nicht als fertige Konzepte, sondern als hoffentlich allgemeinverständliche, anregende Perspektiven für eine breite und fundierte Diskussion. Bei dieser dürfen wir alle dem Motto folgen: Es darf nicht nur die Wirtschaft sein, Dummkopf.

Vom Bürger zum Konsumenten

Подняться наверх