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IV
ОглавлениеIn einer viel beachteten Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2017 konstatierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine legitime Sehnsucht nach Heimat im Sinne von Sicherheit, Entschleunigung sowie Zusammenhalt in einer sich dynamisch verändernden Welt. Er forderte, gegen den völkisch aufgeladenen Heimatbegriff der Populisten und Rechtsextremen, gegen »den Blödsinn von Blut und Boden«, einen »positiven« Heimatbegriff zu stellen. Steinmeier ging also davon aus, dass ein inkludierendes Heimatkonzept, das frei ist von allen völkischen und kulturalistisch verbrämten Versatzstücken, möglich sei, hält aber an der Idee einer gefühlsmäßigen Bindung an die Heimat fest. Bei dem großen Volkskundler und im besten Sinne des Wortes »Heimatforscher« Hermann Bausinger heißt es in den 1980er-Jahren: »In diesem neuen Verständnis von Heimat werden viele der alten Konzepte in Frage gestellt: Heimat ist nicht mehr Gegenstand passiven Gefühls, sondern Medium und Ziel praktischer Auseinandersetzung; Heimat kann nicht ohne weiteres auf größere staatliche Gebilde bezogen werden, sondern betrifft die unmittelbare Umgebung; Heimat erscheint gelöst von nur-ländlichen Assoziationen und präsentiert sich als urbane Möglichkeit; Heimat ist nichts, das sich konsumieren läßt, sondern sie wird aktiv angeeignet. Heimat hat, wie in der ursprünglich-konkreten Bedeutung des Wortes, wieder sehr viel mit Alltag und alltäglichen Lebensmöglichkeiten zu tun.«28
Bausinger sieht also durchaus die Möglichkeit eines demokratischen Heimatbegriffs in einer offenen Gesellschaft, doch bezieht sich dieser nicht auf ein diffuses Abstammungs- und Zugehörigkeitsgefühl oder eine mythische Vergangenheit, sondern auf einen konkreten Ort, der aktiv ausgestaltet werden will. Das »Wir« konstituiert sich nicht mehr über eine gemeinsame Vergangenheit, sondern über die Gestaltung einer gemeinsamen, prinzipiell allen zugänglichen Zukunft. Und dennoch ist dieser Heimatbegriff einer, der weiß, dass die Gegenwart eine Vorgeschichte hat und den lokalen Akteuren die Möglichkeit gibt, das Verhältnis von Veränderbarkeit und Bewahrung selbst zu bestimmen, und er erlaubt ihnen schließlich auch, sich einen Ort emotional anzueignen.
Ist Heimat ein »missbrauchter Begriff« oder ein missratener, der aus dem Vokabular der politischen Sprache getilgt werden muss? Einen »natürlichen« Heimatbegriff hat es nie gegeben. Also handelt es sich weniger um einen missbrauchten Begriff, dessen ursprünglicher Kern wieder freigelegt werden müsste, als vielmehr um einen mehrfach überformten und bearbeiteten Begriff mit vielen Bedeutungsschichten. Es steht außer Frage, dass Begriff und Konzept »Heimat« eine problematische Geschichte haben: Nationalistische Verengung, völkische Aufladung, antidemokratische Stoßrichtung sind mehr als nur missbräuchliche Verwendungen gewesen, und der herkunftsbezogene Heimatbegriff, der von einem konkreten auf einen mythischen Raum abstrahiert und das Fremde ausschließt, ist prinzipiell empfänglich für derartige Ausdeutungen. Doch hat es dagegen immer auch. So inkludierende, demokratiefähige Alternativkonzepte gegeben war das viel belächelte Vereinswesen im 19. Jahrhundert eben nicht nur der soziale Raum für spießbürgerliche Geselligkeit, sondern auch ein möglicher Ort der Begegnung, des Austausches und der gegenseitigen Anerkennung.29 Und waren es seit dem Sommer 2015 eben nicht auch jene Strukturen, Institutionen und Akteure die ich grob der Sphäre der Heimat, dem kleinen, überschaubaren Raum der Nachbarschaften, zuordnen möchte, die sich in besonderer Weise um die Versorgung einer großen Zahl Geflüchteter verdient gemacht haben und in denen »Integration« am besten zu funktionieren scheint?30 Daran knüpft Bausingers oben geschildertes partizipatives Heimatkonzept an: Heimat ist der Ort, an dem ich bin, den ich im regelhaften Austausch und Widerstreit mit meiner Umwelt gestalte und an dem ich mich im Konkreten solidarisch verhalten kann.
Wenn man auf jene exkludierenden völkischen Prämissen verzichtet, dann ist Heimat ein durchaus noch brauchbarer politischer Begriff. Seine weitere Verwendung basiert auch auf der Einsicht, dass nicht alle Menschen als kosmopolitische »Anywheres« existieren können und wollen.31. Die persönliche Identifikation mit einem spezifischen Raum und seiner Geschichte können mit der Idee von Heimat, bürgerschaftlichem Engagement, Solidarität und Bewahrungsdenken in Einklang gebracht werden. Die missbräuchliche Verwendung des Heimatbegriffes wird man nicht verhindern können, wenn man nicht in einem autoritären Gesinnungsstaat leben möchte. Umso wichtiger sind zukunftsweisende, inkludierende Heimatmodelle. Denn nichts schützt mehr vor dem Missbrauch einer Idee als deren gut begründeter und erfolgreicher Gebrauch.32
1Peter Blickle: Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland, Rochester 2002.
2Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, Tübingen 1995, S. 125-127.
3Markus Metz/Georg Seeßlen: Heimat – Der offene Begriff, Deutschlandfunk, 3.10.2019, ‹https://www.deutschlandfunk.de/heimat-als-utopie-heimat-der-offene-begriff.1184.de.html?dram:article_id=457932› (15.1. 2020); mit Bezug auf eine Stelle in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung: »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«
4Beispielhaft der bayerische Landtagsabgeordnete der Grünen Sepp Dürr: Lust auf Politik, Recht auf Heimat, Rede vom 6.6.2018, ‹http://sepp-duerr.de/lustauf-politik-recht-auf-heimat/›, (12.2. 2020).
5So mit Bezug auf Adorno und die Kritische Theorie: Hartmut Rosa: Heimat als anverwandelter Weltausschnitt. Ein resonanztheoretischer Versuch, in: Edoardo Costadura et al. (Hg.), Heimat global. Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion, Bielefeld 2019, S. 153-172.
6Vgl. z. B. Hermann Bausinger: Heimat in der offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, in: Will Cremer/Ansgar Klein (Hg.), Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bielefeld 1990, S. 76-90; Beate Binder: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse, in: Zeitschrift für Volkskunde (104), 2008, S. 1-17. Umfassend, multiperspektivisch und anregend: Martina Hülz et al. (Hg.): Heimat. Ein vielfältiges Konstrukt, Wiesbaden 2019.
7Samuel Salzborn: Heimat: Identität und Ausgrenzung, in: theorieblog, ‹https://www.theorieblog.de/index.php/2018/10/heimat-identitaet-und-ausgrenzung/›, (12.2. 202).
8Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990.
9Schon in den Rang eines »Klassikers« erhoben und noch immer bedeutender Ausgangspunkt für die Analyse des Vereinswesens in Deutschland: Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: ders. (Hg.), Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174-205.
10Vgl. Susanne Scharnowski: Heimat. Geschichte eines Mißverständnisses, Darmstadt 2019.
11Barbara Seibert: Glokalisierung. Ein Begriff reflektiert gesellschaftliche Realitäten. Einstieg und Debattenbeiträge, Münster 2016.
12Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001.
13Vgl. zu den bayerischen Heimatschutzverbänden in der Weimarer Republik: Wolfgang Stäbler: Weltwirtschaftskrise und Provinz. Studien zum wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel im Osten Altbayerns 1928 bis 1933, Kallmünz 1992.
14Allgemein: Michael Neumeyer: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens, Kiel 1992. Anhand eines regionalen Beispiels sehr anschaulich: Andrea-Katharina Hanke: Die niedersächsische Heimatbewegung im ideologisch-politischen Kräftespiel zwischen 1920 und 1945, Hannover 2004.
15Wolfgang Fischer: Heimat-Politiker? Selbstverständnis und politisches Handeln von Vertriebenen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag 1949–1974, Düsseldorf 2010.
16Zum Heimatfilm für viele: Wolfgang Kaschuba: Der Deutsche Heimatfilm – Bildwelten als Weltbilder, in: ders. (Hg.), Heimat. Bildwelten und Weltbilder. Bilder, Texte, Analysen zu 70 Jahren deutscher Filmgeschichte, Tübingen 1989, S. 829-851.
17Vgl. Stichwort »Heimat«
18Ironischerweise etablierte sich die CSU in Bayern auch deshalb als unangefochtene Heimatpartei, weil sie die Interessen der »Einheimischen« gegen die Interessen der zugewanderten deutschstämmigen Flüchtlinge aus Mittel- und Osteuropa geschickt auszuspielen wusste. So schon Alf Mintzel: Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945–1972, Wiesbaden 1975. Überblickshaft zusammenfassend: Thomas Schlemmer: Die CSU von 1945 bis 2018. Eine kurze Bilanz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (51/52), 2018, S. 29-24.
19Reißerisch-polemisch wird häufig auf die vermeintlichen »braunen Wurzeln« der Grünen verwiesen. Sachlich-differenzierter und mit welthistorischem Blick: Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.
20So (mit allerdings teilweise berechtigten Einwänden) Hans-Ulrich Wehler: Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen? Die neue deutsche Alltagsgeschichte »von innen« und »von unten«, in: Franz-Josef Brüggemeier/ Jürgen Kocka (Hg.), »Geschichte von unten – Geschichte von innen«. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985, S. 17-47. Zu den Geschichtswerkstätten vgl. Etta Grotrian: Geschichtswerkstätten und alternative Geschichtspraxis in den achtziger Jahren, in: Wolfgang Hardtwig/Alexander Schug (Hg.), History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009, S. 243-253.
21Der Journalist Dirk Kurbjuweit prägte den seitdem kursierenden Begriff des »Wutbürgers«. Die reißerische Aufmachung hält allerdings kritischen wissenschaftlichen Studien nicht stand. Zusammenfassend: Frank Brettschneider/ Wolfgang Schuster (Hg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, Wiesbaden 2013.
22Ausführlich zu Heimat und Rechtspopulismus in der Gegenwart: Annalina Lange: Das politische Konzept Heimat, in: Pop-Zeitschrift, 10.9.2018.
23Zur Abendland-Ideologie in der Neuen Rechte vgl. Volker Weiß: Die autoritäre Revolte: Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.
24Jörg Kilian (Hg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat, Mannheim 2005.
25Daniel Schreiber: Deutschland soll werden, wie es nie war, in: Die ZEIT, 10.2. 2018; Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah: Sollen sich die Rechten drum kloppen, in: taz, 17.2. 2019.
26Jöran Klatt: Politik mit dem Sehnsuchts(w)ort, in: Cicero, 23.2. 2018.
27Für viele: Stefan Aust/ Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014. Der Bekanntermaßen entwickelte sich der »Nationalsozialistische Untergrund« im Umfeld des »Thüringer Heimatschutzes«, einem Zusammenschluss von rechten Kameradschaften.
28Bausinger, S. 88.
29Beispielhaft für Viele: Till van Rahden: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt 1860 bis 1925, Göttingen 2000.
30Bernd Hallenberg et al. (Hg.): Migranten, Meinungen, Milieus. Vhw-Migrantenmilieu-Survey 2018, Berlin 2018.
31David Goodhart: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, London 2017.
32Z. B. Haymat – Türkisch-deutsche Ansichten, hg. v. Kristina Kara und Firat Kara, Frankfurt a. M. 2019. Eine Vielzahl wissenschaftlich begründeter Anregungen findet sich auch im Themenheft »Heimat« von Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 4, 2018. Für eine spezifisch kulturpolitische Diskussion siehe das Themenheft »Kultur. Macht. Heimaten. Heimat als kulturpolitische Herausforderung«, in: Jahrbuch für Kulturpolitik (17), 2019/20.