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Annäherung (II)
ОглавлениеNeuanfang. Ein literarisches Beispiel. Peter Weiss schreibt in seinem autobiographischen, 1962 veröffentlichten Roman Fluchtpunkt von einem erzwungenen Neuanfang:
Am 8.November 1940 kam ich in Stockholm an. Vom Bahnhof fuhr ich zu Schedins Pension in der Drottninggata, wo Max Bernsdorf ein Zimmer für mich bestellt hatte.
Mit diesen beiden Sätzen beginnt der Roman. Fluchtpunkt erzählt davon, wie der 24-jährige Weiss nach seiner Flucht in Stockholm ankommt, und wie er versucht, ein Leben als Künstler in der schwedischen Emigration aufzubauen. Fluchtpunkt ist im Grunde genommen eine Fortsetzung seines, ein Jahr zuvor veröffentlichten, autobiographischen Romans Abschied von den Eltern, an den er auch thematisch anschließt. Der Abschied ist auch hier die Bedingung der Möglichkeit eines Neuanfangs: ein Abschied, der vollzogen werden kann, der vollzogen wurde – der vollzogen werden musste. Ein Abschied von den Portalfiguren meines Lebens, den Eltern:
Die Trauer galt der Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten. Die Trauer galt dem Zuspät, das uns Geschwister am Grab überlagerte, und das uns dann wieder auseinandertrieb, ein jedes in sein eigenes Dasein.
Es gibt keinen Neuanfang ohne Abschied. Es gibt keinen Abschied ohne ein Ausmaß der Trauer.
Abschied von den Eltern erzählt von dem repressiven großbürgerlichen Umfeld, in dem Peter Weiss erzogen wurde, und von der Intimität seines Widerstands: von seiner Affinität zur Kunst. Fluchtpunkt hingegen erzählt von den Schwierigkeiten des Neuanfangs, des Neuanfangens – dem Gefühl der Unzugehörigkeit und der künstlerischen Unzulänglichkeit; Fluchtpunkt erzählt von seinen Selbstzweifeln:
Mein Leben war nutzlos, ich hatte nicht einmal etwas verloren, weil ich nie etwas besessen hatte, ich konnte keine Wunden, keine Narben aufweisen, weil ich an keinem Kampf teilgenommen hatte, ich hatte nichts zu berichten, weil mir nichts widerfahren war.
Es gibt keinen Neuanfang ohne Anfang. Und um neu anfangen zu können, müssen wir uns von einem anderen Anfang bereits verabschiedet haben. Der terminologische Unterschied zwischen Anfang und Neuanfang wird im letzten Satz des Romans ausgesprochen:
An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.
Je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden. Das Buch endet mit der bestimmten Zuversicht eines Neuanfangs, eines neuen Anfangens. Von diesem Punkt an wird es kein Zurück mehr geben.