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1. Unser Euro und unser Europa

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Die Verantwortung, die sie meinen, fängt jedenfalls nicht mit dem Elend der Welt, sondern mit dem Reichtum der deutschen Nation an. Weil der sich seit einiger Zeit in einem Geld beziffert, das nicht mehr nur deutsch, sondern europäisch ist, steht für Deutschland fest, dass es für dieses Geld mehr Verantwortung tragen muss, als bloß auf den Erfolg seiner Wirtschaft und die Schulden seines Haushalts zu achten. Deutsche Politiker pflegen von Haus aus das Bewusstsein, dass der Euro ihr Geld ist, das ihre Euro-Partner auch gebrauchen dürfen; dass die gemeinsame Währung Mittel und Ausdruck deutscher Stärke zu sein hat, die die anderen mindestens nicht belasten dürfen. Ebenso klar ist ihnen, dass mit genau diesem Anspruch auch den Eigeninteressen – den ‚wohlverstandenen‘ – der Partner am besten gedient ist, und gerade in letzter Zeit haben sie reichlich Gelegenheit gefunden, ihnen genau das zu versichern: Wenn das Geld, in dem alle gemeinsam wirtschaften, von einer Krise heimgesucht wird und eine Reihe von Euro-Mitgliedern zahlungsunfähig werden, dann begleiten deutsche Euro-Politiker ihr ‚Rettungsprogramm‘ und dessen milliardenschwere Kreditpakete mit viel Gerede über die ‚Solidarität‘, die die anderen, schwächeren Mitglieder der Eurozone brauchen und die das starke Deutschland ihnen in der Stunde der Not schuldet. Sie machen allerdings kein Geheimnis daraus, dass es dabei in erster Linie und in letzter Instanz um den deutschen Retter selber geht. Das erste Gebot deutscher Außenpolitik ist die Befriedigung unserer Interessen – und das erfordert, dass man zahlungsunfähigen Partnern unter die Arme greift, wenn ihre Zahlungsnot das gemeinsame Geld gefährdet. Denn „wir profitieren vom Euro am meisten!“

Mit ‚Wir‘ ist zunächst ‚die Wirtschaft‘ gemeint, das Kollektiv deutscher Kapitalisten, die in der ganzen Währungsunion durchschlagende Erfolge im Euro bilanzieren. Und in einer freien marktwirtschaftlichen Konkurrenz bedeutet das, Währungs- und Wertegemeinschaft hin oder her, dass sie das nicht nur mittels, sondern auch auf Kosten ihrer Partner tun. Mit Verkaufsschlagern ‚made in Germany‘ für industrielle, kommerzielle und staatliche Großkunden wie für Otto Normalverbraucher und mit eigenen Handelsketten bedienen deutsche Kapitalisten Kunden aller Art und Größe, bedienen sich also umgekehrt auf allen erdenklichen Märkten an deren Zahlungsfähigkeit. Überall in der Eurozone und in stets wachsendem Maße stecken unsere europäischen Brudervölker gutes, europäisches Geld in die Taschen deutscher Kapitalisten statt in die der anderen. Auf diese erfolgreichen Geschäfte haben auch deutsche Banken ihre eigenen in großem Stil draufgesattelt: Lauter Geschäfte mit Kredit, den sie den Handelspartnern auch und gerade in den heutigen ‚Krisenländern‘ großzügig gewährt haben. Sie streichen nicht einfach Zins und Tilgung ein, sondern tragen mit ihren Kreditgeschäften ihren Teil dazu bei, dass ganze europäische Volkswirtschaften derart ‚über ihre Verhältnisse‘ leben können, dass deutsche Kapitalisten aller Art an ihnen nachhaltig und unverhältnismäßig gut verdienen. Das Gefälle zwischen Deutschlands ökonomischen Resultaten und denen seiner Partner sollen diese zwar so interpretieren, als würde eine deutsche Lokomotive sie kräftig nach vorne ziehen, aber das macht die Sache auch nicht wahr. Und wenn diesen Ländern in der Krise die Schulden über den Kopf wachsen und Staaten vor dem Bankrott stehen, sind natürlich weder die deutschen Exporteure noch die Kreditgeber, sondern allein sie selbst schuld an ihrer Misere: Schließlich haben sie ja über ihre Verhältnisse gelebt...

Der für die Deutschen wenig erfreulichen Nachricht, dass die Fortsetzung dieser Erfolgsstory von der finanziellen Gesundheit ihrer weniger erfolgreichen Partner und Konkurrenten abhängt, steht eine viel bessere gegenüber: Eben diese Erfolgsstory hat auch dafür gesorgt, dass die andere maßgebliche Abteilung des deutschen ‚Wir‘, die deutsche Staatsgewalt, mehr als alle anderen vom gemeinsamen Geld profitiert hat. Die genießt eine Kreditwürdigkeit und Finanzmacht im Euro, die ihren unterlegenen Konkurrenten, die von der Gemeinschaftswährung weit weniger profitiert haben, eindeutig abgeht. Und in der schönen europäischen Wertegemeinschaft bedeutet das eben, dass Deutschland enorm viel politische Macht über seine Partner besitzt, mit der es die Verantwortung für ihre Genesung übernimmt. Merkel und Schäuble müssen es deshalb gar nicht dabei belassen, bei ihrem ‚Rettungsprogramm‘ an die Solidarität ihrer besser gestellten Partner bloß zu appellieren. Sie müssen auch keine Rücksicht darauf nehmen, welche Solidarität die rettungsbedürftigen Partner erwartet hätten und die mit-rettenden Partner zu zeigen bereit gewesen wären. Sie drängen letztere einfach zum Bereithalten von Finanzmitteln mit einer Unerschütterlichkeit, die nur von der Heftigkeit übertroffen wird, mit der sie erstere dazu anhalten, ihren Völkern unter dem Titel ‚Austerität‘ eine epochemachende Verarmung aufzuzwingen. So erfahren alle europäischen Partner von ihrer Führungsmacht, dass es nicht weit her ist mit ihrer Souveränität, autonom zu entscheiden, wie sie ihren Reichtum bewirtschaften, wie und wofür sie ihre Bevölkerung dafür in Anspruch nehmen.

Die Beschwerden europäischer Völker und ihrer Führungen auf beiden Seiten der Rettungsaktion lassen Deutschlands führende Verantwortungsträger kalt. Sie wärmen sich stattdessen an dem guten Gewissen, bloß für die Regeln des Clubs einzutreten, die alle längst unterschrieben haben. Was auch immer die Euroländer jetzt von den Regeln halten, die sie als gleichberechtigte Mitglieder einmal mit verabschiedet haben, und was auch immer deren Befolgung ihnen jetzt abverlangt: Es sind nun einmal die Regeln ihres Vereins. Und das bedeutet gemäß deutscher Auffassung nicht, dass sie diese Regeln weiterhin mit-, also auch umdefinieren können, sondern in der Hauptsache, dass sie ihnen ein für allemal unterworfen sind und dies auch zu bleiben haben – nicht wegen ihrer damaligen Unterschrift, sondern allein wegen der ökonomischen Erpressungsmacht, die Deutschland jetzt über sie ausübt. Dass die Rettungskandidaten nicht mehr souverän über ihren Haushalt entscheiden, heißt für Deutschland allerdings überhaupt nicht, dass ihre Hoheit über Land und Leute bedeutungslos geworden wäre – im Gegenteil: Die verordnete Austerität will ja auch vollstreckt sein, und das ist eine genuine Aufgabe für souveräne Gewalten. Die brauchen auch gar nicht erst damit zu kommen, dass die verlangten Reformen ihre Völker ins Elend treiben. Mit Härten für die lohnabhängigen Massen – die letzte und unmaßgebliche Komponente des nationalen ‚Wir‘ – profilieren sich deutsche Politiker, egal ob schwarz, rot, gelb oder grün. Das sind genau die ‚Hausaufgaben‘, auf deren rechtzeitige Erledigung sie nicht stolz genug sein können – die Armut der Massen erklären sie zu ihrem Erfolgsrezept! Und wenn alle anderen Euro-Partner bei sich die nötigen ‚Reformen‘ mit aller Macht und gegen einige Widerstände durchsetzen, dann ist es nur gerecht, dass auch die geretteten Verlierer der innereuropäischen Konkurrenz, je nachdem, ein bisschen mehr Härte gegen ihre Bevölkerung oder ein bisschen mehr Verzichtsbereitschaft an den Tag legen. Außerdem sollten die Griechen und ihre Kollegen eines endlich einsehen:Wenn Deutschland sich so unerbittlich für sein Geld einsetzt, dann macht das auch ihr Geld stark, und das fällt viel mehr ins Gewicht als der Umstand, dass man ihnen die souveräne Verfügung über dieses gute Geld entzogen hat! An Deutschland können sie ja schließlich studieren, wie sehr man von eiserner Haushaltsdisziplin und einem starken Geld profitieren kann, wenn man nur so konkurrenzstark ist wie Europas Vormacht – womit der wirklich entscheidende Dienst der deutschen Rettungspolitik an ihren Partnern angesprochen wäre: Alle Reformen in all ihrer Härte sind kein Selbstzweck, auch nicht einfach ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern dienen der Stärkung der ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ der Konkurrenzverlierer, womit an sie der weise Rat ergeht, sich die ökonomische Potenz zuzulegen, andere zu Verlierern zu machen. Es mag sein, dass das, was unter diesem Titel läuft, in den geretteten Ländern auf nichts als ein nachhaltiges Schrumpfen ihrer Wirtschaft hinausläuft, weil zum Erfolg im marktwirtschaftlichen Wettbewerb schon ein wenig mehr gehört als die Armut der Massen – schlagkräftige Kapitale z.B., die mit der Armut etwas für sich anzufangen wissen. Aber dann sind immerhin die Geschäfte, die es dort allenfalls noch gibt, marktwirtschaftlich solide – so solide wie der Haushalt, der sich auf die Erträge radikal zusammenkürzt, die die gesundgeschrumpfte Wirtschaft allenfalls noch abwirft, und so solide wie die Position dieser Länder an der Peripherie des europäischen Wirtschaftsraums, dessen Zentrum in Deutschland liegt. Dann nutzt ihnen der Euro zwar immer noch nichts, aber immerhin gefährden sie dann nicht mehr den Nutzen, den Deutschland eben „mehr als alle anderen“ aus der Gemeinschaftswährung zieht.

Doch beim Euro geht es den Deutschen nicht bloß ums Geld, was die Kanzlerin immer wieder mit dem Hinweis beteuert, er sei „mehr als eine Währung“ und stünde auch für „die Einigungsidee Europas“. Deutschland buchstabiert seinen Nutzen aus dem Euro eben etwas anspruchsvoller. Merkel schätzt nämlich die „große Bedeutung“, die dem Land in der Welt zukommt, „das Gewicht“, das es in der Weltpolitik besitzt, wenn es über ein Geld wie den Euro verfügt. Dass ökonomische Siege über seine Partner politische Macht über sie begründen, ist eine Gleichung, die Deutschland nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt realisieren will – und auch dafür braucht Deutschland alle seine Partner. Die geben dem Markt und dem Geschäft mit dem Euro erst die kritische Masse, die es braucht, um Deutschlands Nutzen aus ihm komplett zu machen. Denn Deutschland will in seinem Geld nicht bloß seine außerordentlichen Erfolge beim Verdienen der Gelder der Welt bilanzieren und mit diesem starken Geld über seine Euro-Partner bestimmen. Es misst den Nutzen dieses Geldes an dem, was die amerikanische Supermacht mit ihrem Weltgeld Dollar alles kann und tut. Das europäische Geld muss das der Weltmacht sein, die Deutschland mit Europa werden will. Wenn also Merkel die Bedeutung der Gemeinschaftswährung mit einem Hinweis auf die Gefahr eines irreversiblen „Bedeutungsverlusts“ von Europa in der Welt beschwört, die mit dem Scheitern des Euro verbunden wäre, dann nicht, damit ihre Partner wissen, was für ein wichtiges ökonomisches Mittel ihnen zur Verfügung steht, wenn sie über ein Weltgeld Euro verfügen. Es ist genau andersherum: Deutschlands Partnern wird damit bedeutet, dass Alternativen zur Eurogemeinschaft ihnen genau deswegen nie wieder zur Verfügung stehen. Sie dürfen aus dieser Gemeinschaft weder andere entlassen, bloß weil sie in deren Verbleib eine unerträgliche Belastung sehen, noch dürfen sie selbst aus ihr entlassen werden, bloß weil sie in ihr nichts mehr zu bestellen haben. Deutschland hat sich mit Haut und Haar der europäischen Einheit verschrieben, weil es in der Welt eben nicht bloß als Deutschland, sondern als europäische Führungsmacht auftreten will, als Anführer eines Staatenblocks, der den ganzen Kontinent abdeckt, den weltgrößten Markt und ein Weltgeld wie den Dollar beherbergt. Also sind auch die Partner mit Haut und Haaren drin. Sie haben immerhin auch etwas davon, eben eine Mitgliedschaft in einem großartigen, mächtigen Club, den Deutschland anführt, und falls ihnen das nicht einleuchtet, weil die Ziele und Notwendigkeiten dieses Clubs maßgeblich in Berlin bestimmt werden, dann haben sie immer noch den ‚Frieden in Europa‘. Der ist offenbar keine Selbstverständlichkeit in dieser Wertegemeinschaft, doch immerhin sind damit alle Fragen danach, was die Partner in und von diesem Frieden haben, vollumfänglich beantwortet.

Und Deutschland lässt weder sie noch den Rest der Welt eine Sekunde lang im Unklaren darüber, welche Verantwortung es mit einem friedlich vereinigten Europa in der Welt übernehmen will.

GegenStandpunkt 4-16

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