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6. Unsere Flüchtlinge
ОглавлениеSo sieht es jedenfalls die Kanzlerin. Diese mehrheitlich nach Deutschland fliehenden Figuren können bei der Ankunft noch so mitgenommen aussehen – in ihnen erblickt sie eine glänzende Spiegelung der Größe und Großartigkeit der deutschen Nation. Bei Deutschland sind die Elenden der Welt an der richtigen Adresse, zwar nicht in dem Sinne, dass alle, die hierher wollen, bleiben könnten, ja nicht einmal sehr viele von ihnen. Doch die Bewältigung des Problems, das sie mit ihrer Flucht darstellen, ist bei Deutschland in besten Händen. Dieses Problems hat sich das Land in einer Weise anzunehmen, wie es sich für eine verantwortliche Weltmacht gehört. Das erfordert zunächst das berühmte ‚freundliche Gesicht‘ gegenüber den Elendsfiguren, die es bis nach Merkels Land geschafft haben. Für eine Macht wie Deutschland ist Freundlichkeit gegenüber den Fremden allerdings viel mehr als eine Tugend, die es für sich im eigenen Land praktiziert, sondern eine weltweite Aufgabe, bei der es Führung übernimmt. Deswegen ist die Flüchtlingsfrage auch viel mehr als eine Bewährungsprobe für die moralische Qualität der Deutschen, nämlich ein Test auf die Macht ihres Staates, der europäischen und weiteren Staatenwelt seine Definition dieses weltweiten Problems und dessen Lösung aufzudrücken. Von Lissabon über Wladiwostok bis nach Washington kommt die Welt an dem Elend der Flüchtlinge nicht länger vorbei, weil Deutschland sich dafür verantwortlich erklärt hat.
Auch für diesen machtvollen Auftritt braucht Deutschland seine europäischen Partner, also beansprucht es sie auch mit der entsprechenden Selbstverständlichkeit. Die wären zwar nie auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet sie die berufenen Anwälte des Elends seien, das zur globalisierten Welt gehört, schon gar nicht deswegen, weil sie die großen Profiteure davon wären. Aber vom Standpunkt der Bundesregierung ist die Auftragslage klar: Die Partner haben die Lasten der Verantwortung, die Deutschland als globale Macht auf sich nimmt, mitzutragen – daheim wie anderswo, zum Beispiel durch die finanzielle Unterstützung der außereuropäischen Partner, die Deutschland als Lager für und Bollwerk gegen Flüchtlinge vorgesehen hat. Manche ‚Flüchtlingsherkunftsländer‘ haben ihre Bürger gefälligst zurückzunehmen, die uns stören, weil sie bloß auf der Suche nach – legalen oder illegalen – Verdienstgelegenheiten sind, womöglich auch unsere Frauen gefährden, also zu viel sind; ‚instabile‘ Länder haben stabiler zu funktionieren, und in allen Fällen gilt: Wenn Deutschland sich des Problems ‚Flüchtlinge‘ annimmt, dann schreibt es seinen Partnern vor, was das Problem auch für sie bedeutet und von ihnen verlangt. Das gilt sogar für die Beteiligten eines Bürger- und Stellvertreterkriegs in Syrien: Lokalen Kräften wie übergeordneten Sponsoren mutet Deutschland die interessante Sicht auf ihren Konflikt zu, dass es den Krieg nicht zu gewinnen, sondern zu beenden gilt – um der Opfer willen, aus denen Deutschland seine Verantwortung für den Frieden ableitet. Und das heißt nichts anderes als die Zuteilung von Rechten und Pflichten an andere Staaten in der grundsätzlichsten Frage, um die es souveränen Gewaltsubjekten geht.
So sieht Deutschlands ‚humanitäre Verantwortung‘ aus. Ihr Inhalt und Ausmaß fallen mit diesem außerordentlich anspruchsvollen Durchsetzungsprogramm zusammen – seine Bewährung dabei ist die politische Substanz der Humanität Deutschlands, die umgekehrt durch nichts relativiert wird, was die Regierung des Landes in der Flüchtlingsfrage im Namen der Humanität praktisch so alles auf den Weg bringt. In Merkels Land geht eben keine Ecke des Imperialismus ohne einen ganz großen Rechtfertigungstitel, und zwar einen, der zur Größe der Macht passt, die sich auf ihn beruft: Deutschland ist für nicht weniger als die Menschheit zuständig. Ob die Macht von Merkels Land zur Durchsetzung der Ansprüche reicht, die es an die Welt in dem Maße stellt, wie die Flüchtlinge der Welt zu ihm strömen, ist eine andere Frage. Von Zweifeln und Widerständen lässt sich die Chefin der Republik ohnehin nicht beirren. Sie denkt bekanntlich ‚die Dinge vom Ende her‘, orientiert sich also an den Ansprüchen, denen die Potenzen ihres Landes nun einmal zu entsprechen haben. Ein Land, das ein Weltproblem definiert und dafür Verantwortung übernimmt, tut es nicht unter dem Anspruch an sich selbst, in diese Rolle gefälligst hineinzuwachsen.
Die beiden ersten Teile „Merkels Land“
I. Der deutsche Kapitalismus
II. Lebensstandard und sozialstaatliche Fürsorge im reichsten Land Europas
sind in GegenStandpunkt 3-16 erschienen
© 2016 GegenStandpunkt Verlag