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4. Unsere Ukraine

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Auch in Osteuropa will Deutschland nämlich mehr Freiheit, und zwar nicht nur für sein Kapital – das sowieso –, sondern auch für die Völker des ehemaligen sowjetischen Machtblocks. Diese Verantwortung verträgt keine Rücksichten: weder auf den russischen Rechtsnachfolger der SU, noch auf die Ansprüche der seit einiger Zeit freien Staaten selbst. Das gilt auch und gerade für die Ukraine, den jüngsten und belebtesten Schauplatz im Kampf um die Selbstbestimmung der ehemals unterdrückten Ost-Völker, das ‚Bruderland‘ Russlands und ‚Kernstück‘ seines ‚nahen Auslands‘. Das deutsch geführte Europa tritt dem Land nicht einfach als Geschäfts- und sonstiger Partner gegenüber, mit dem man von gleich zu gleich das übliche diplomatische Feilschen über Verträge mit den dazugehörigen kleineren und größeren wechselseitigen Erpressungsmanövern betreibt. Es tritt vielmehr als eindeutig überlegenes ökonomisches Kraftzentrum an, von dem die Adressaten so komplett abhängig sind, dass Europa alle Freiheit genießt, sie ganz nach eigenem Kalkül an sich zu binden. Es präsentiert seine Bedingungen in Gestalt des ‚acquis communautaire‘ als fix und fertiges Paket, bei dem es nichts zu rütteln, gar aufzuschnüren, sondern nur das eine zu tun gibt: die ‚Reformen‘ Punkt für Punkt umsetzen, die in diesem Fall viel mehr als ‚Wettbewerbsfähigkeit‘, nämlich die Anpassung der gesamten ökonomischen und politischen Verfassung an den europäischen Rechtskatalog verlangen. Die Fortsetzung dieses Tests auf die Fähigkeit Europas, seine ökonomische Wucht, die Größe und Tiefe seines Markts für seine strategische Expansion einzusetzen, gerät dann zu einer mehrstufigen Demonstration des deutschen Willens, mehr weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Es testet nicht nur die Grenzen seiner zivilen, ökonomischen Erpressungsmacht aus, es zeigt auch seine Bereitschaft, über sie hinauszugehen. Das geht mit der finanziellen und diplomatischen Unterstützung eines regelrechten Putsches in Kiew erst los.

Wenn Russland auf eine entschieden antirussische ukrainische Übergangsregierung eine halbherzig verdeckte militärische Antwort gibt, um seine Kontrolle über die Ukraine wenigstens teilweise zu erhalten, dann lässt sich Deutschland von dem militärischen Auftritt der zweitgrößten Atommacht der Welt weder einschüchtern noch abschrecken. Es denkt auch keine Sekunde lang daran, bei Russland bloß ein geschädigtes Interesse anzumelden. Sich derart zu erniedrigen, dass man den Russen als eine ebenbürtige, bloß mit eigenen Interessen ausgestattete Partei entgegentritt, fällt einer europäischen Führungsmacht im Traum nicht ein. Deutsche Verantwortungsträger stellen sich von vornherein mindestens eine Etage über ihr Gegenüber – als Beschützer eines Regelwerks, das für alle interessierten Parteien gilt. Die Kanzlerin sagt es gerne und immer wieder: Ihr Land tritt nicht für das Recht des Stärkeren, sondern für die Stärke des Rechts ein. So, mit aller gebotenen Bescheidenheit, tritt sie an Russland heran – eine Macht, die, wie dies alle Mächte tun, beansprucht, Recht zu setzen – und verlangt von ihm, dem Recht zu gehorchen, das Deutschland definiert. Deutschland lebt nicht nur in einer europäischen Nachkriegs- und Friedensordnung, die mit seiner Kriegsniederlage ihren Ausgangspunkt nimmt, sondern pflegt das Bewusstsein, diese Ordnung zu hüten, womit auch die Atommacht Russland in seinen Verantwortungsbereich fällt.

Von dieser hohen Warte aus nimmt Deutschland seine ökonomischen Beziehungen zu Russland ins Visier – und weiß sofort, was es gegen seinen Gegner in der Hand hat, wenn die eigenen Kapitalisten mit ihm umfangreiche Geschäfte machen. Damit erschließt es sich nicht nur russische Reichtumsquellen für die eigenen Geschäftemacher, sondern wirkt durch deren punktuelle Aussetzung auf die Brechung des widerspenstigen russischen Staatswillens hin. Auch hier, bei der zerstörerischen Anwendung seiner ökonomischen Macht, wird Deutschland seinem Anspruch gerecht, stets für ganz Europa Verantwortung zu übernehmen, auch in Auseinandersetzungen der kriegsträchtigeren Art pflegt es die Kunst der außenpolitischen Bevormundung. Die einen Europäer mögen kein Interesse an der Aussetzung ihres gedeihlichen wirtschaftlichen Verkehrs mit Russland haben, die anderen mögen es gar nicht bei Sanktionen belassen wollen – für Deutschland ist klar: Ganz Europa muss gegenüber Russland ‚mit einer Stimme sprechen‘, also den Chor für deutsche Forderungen stellen. Die einen werden daran erinnert, dass sie mit Russland zwar viele und ziemlich entscheidende ökonomische Beziehungen pflegen mögen, aber auch Teil einer Wertegemeinschaft mit Deutschland sind, das deswegen bestimmt, auf welcher politischen, gewaltbewehrten Grundlage ihre friedlichen Geschäfte zu laufen haben: ‚Die Zeit der Einflusszonen ist endgültig vorbei‘ – was so viel heißt, dass der europäische Kontinent die Einflusszone der Europäer ist und damit voll und ganz in die exklusive Zuständigkeit der EU fällt. Solange Russland das nicht akzeptiert, verbietet es sich, ihm von gleich zu gleich als Geschäftspartner gegenüberzutreten. Den anderen, vornehmlich baltischen Partnern wird versichert, dass sie nicht primär in der amerikanischen NATO-Führungsmacht, sondern in den europäischen NATO-Partnern unter Führung von Deutschland ihre verlässliche Schutzmacht haben. Weil das so ist, kann Deutschland ihnen auch mit Fug und Recht vorschreiben, wie weit ihr Sicherheitsbedarf wirklich reicht, wann und womit er als befriedigt gelten muss und ab wann alle weitergehenden Forderungen nach militärischer Zurückweisung Russlands eine Gefahr für den Frieden sind.

Wenn Russland und die USA ihren Konflikt in der Ukraine eskalieren, dann lässt sich Deutschland das Ganze jedenfalls nicht über den Kopf wachsen. Es demonstriert mit eigenen Truppen im Rahmen der NATO-‚Vorne-Stationierung‘ seine Fähigkeit und Bereitschaft zu genau der militärischen Konfrontation, die es für ‚unvorstellbar‘ erklärt, und startet zugleich eine diplomatische Vermittlungsoffensive, die von einer sehr reifen Art der Verantwortung zeugt: Es stellt sich zwischen und über verfeindete Mächte in einem Konflikt, in dem es selber als Partei knietief drinsteckt. Es stellt sich als militärische ‚Speerspitze‘ des Westens im Osten auf und warnt zugleich vor ‚Säbelrasseln‘, wenn die amerikanische Führungsmacht des Westens nicht nach deutschen Vorstellungen vorgeht. Es betont die Notwendigkeit militärischer Abschreckung gegenüber Russland und plädiert dann mit aller Selbstverständlichkeit und Friedfertigkeit für mehr Rüstungskontrolle unter Supermächten.

Keine Frage, Deutschland ist in Sachen Krieg und Frieden außerordentlich verantwortungsbewusst.

GegenStandpunkt 4-16

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