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Zorn als positive Antriebskraft
ОглавлениеIch bin auf der Suche nach einem Zorn, der den Anfechtungen der Maßlosigkeit, der Ziellosigkeit und der Ichbezogenheit widersteht. Die Gratwanderung zwischen Zorn und Wut ist trotz dieser Wegmarken ein schwieriges Unterfangen, weil, was sich analytisch trennen lässt, in der Wirklichkeit in Grauzonen ineinander übergeht. Das gilt umso mehr, als der Zorn trotz seines Bezugs zur Vernunft auch mit Erregung und Aggressivität verbunden sein kann.
Mein Wunsch, dem Zorn auch etwas Positives abzugewinnen, mag angesichts der Tatsache verwegen erscheinen, dass der Zorn neben der Wollust, dem Neid, Geiz und Hochmut sowie der Völlerei und Trägheit zu den sieben Todsünden gezählt wird. Die Todsünden sollen – niemand weiß genau zu sagen, wann im Laufe der Jahrhunderte – aus den Lasterkatalogen des Paulus herausdestilliert worden sein. Im Mittelalter bis zur Neuzeit haben die sieben Todsünden die künstlerische Phantasie angeregt. Man denke nur an die im Prado in Madrid zu bewundernde Tischplatte zu den sieben Todsünden, geschaffen von Hieronymus Bosch, und das in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe ausgestellte Bild von Otto Dix. Das von Albrecht Dürer zum Teil illustrierte – ebenfalls in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe zu bewundernde – Buch von Sebastian Brant Das Narrenschiff stand im Mittelpunkt der Opern-Festspiele des Sommers 2010.
Der Medea gleich beschäftigen uns bis auf den heutigen Tag die Todsünden oder die Hauptlaster. Sind doch die Menschen über die Jahrhunderte um keinen Deut besser geworden. Nicht nur, weil Medea so eindrucksvoll rast und tobt, fasziniert uns noch heute diese tragische Frauengestalt. Auch noch heute töten, wenn auch sehr vereinzelt, Eltern beiderlei Geschlechts die gemeinsamen Kinder, um den sich trennenden Partner aufs Tiefste zu demütigen und dort zu treffen, wo er am verletzlichsten ist. Wir erklären uns dieses unmenschliche Verbrechen häufig mit einer Depression, sprich mit einer Geistes- oder Gemütskrankheit. Vor dem Hintergrund des Mythos und orientiert an den Problemen wie Erkenntnissen der Gegenwart versuchen wir, der vielschichtigen Wirklichkeit dieses Verbrechens auf die Spur zu kommen.
Schlicht einen Mangel an Vernunft zu konstatieren, reicht uns heute nicht mehr aus. Laut modernen Interpretationen des Sagenstoffs scheitert Medea nicht nur, weil sie eine Frau ist, sie scheitert vor allem, weil sie eine Ausländerin ist. So Aribert Reimann zu seiner an der Wiener Staatsoper im Frühjahr 2010 uraufgeführten Oper Medea. Ihre Fremdheit macht sie einsam. Dass Integration eine wechselseitige Anstrengung voraussetzt, war im alten Griechenland noch weniger bekannt als in unserer Zeit.