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Zorn als Todsünde oder Laster
ОглавлениеBücher über die Todsünden und Lasterkataloge haben heutzutage Konjunktur. Die inkriminierten Laster werden immer zahlreicher. Das Buch der Laster von Wolfgang Sofsky nennt noch die Gleichgültigkeit und Vulgarität, das Selbstmitleid und die Unterwürfigkeit, um nur einige der jüngsten Zutaten zu erwähnen. Man könnte ja stattdessen Tugendbücher verfassen, und dartun, welche Charaktereigenschaften den vollkommenen und mündigen Staatsbürger von heute auszeichnen sollten. Aber es schreibt sich einfach unterhaltsamer über Todsünden und Laster. Eine kleine Lesefrucht aus dem Buch der Laster, mit der das Kapitel Zorn eingeleitet wird, mag das illustrieren:
Grimm fasst ihn und zerreißt ihm die Brust. Teigige Blässe überzieht sein Gesicht, die Hand ballt sich zur Faust, finster starrt er dem Widersacher entgegen. Auf einmal ist jede Müdigkeit verflogen. Die Augenbrauen ziehen sich zusammen, ein scharfer Zug nagt an den Lippen. Es ist, als springe das Gesicht zum Angriff nach vorn. Jeder Nervenstrang ist gespannt, kurze Atemstöße fahren aus der Lunge, Schweiß überzieht die Stirn. Untrüglich sind die Zeichen des Zorns. Ein jeder kennt sie, und jeder fürchtet sie. Der Körper kocht. Ohne Zustimmung des Geistes bricht der Zorn los. Er kennt kein Vergeben, keine Versöhnung. Sein Schrei zerfetzt jeden anderen Laut. Zerstörung ist sein einziges Ziel, Vernichtung seine wahre Erfüllung. (Sofsky, S. 221)
Ein gleichermaßen starker Text zu Sanftmut lässt sich kaum verfassen!
Was bei den ohne Zweifel lesenswerten Texten zu den Todsünden und Lastern auffällt, ist, wie fließend die Übergänge zwischen Zorn und Wut selbst bei jenen Autoren sind, die zwischen beiden Phänomenen unterscheiden. Besser spräche man in all diesen Texten – wie die Übersetzerin des Seneca-Buches De ira – von »Wut« statt von »Zorn«. Jedenfalls dann, wenn man sich solcher Zerrbilder bedient, die das Gesicht des Zornigen zur grimmigen Fratze entstellen.