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HELMUT ORTNER Von der Freiheit, sich zu erzürnen
ОглавлениеDer Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den Zorn Gottes oder wir haben wir das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen, mitunter haben wir es in Zusammenhang mit wütenden, altersgereiften Senioren-Wutbürger gebraucht, die gegen den Abriss von Bahnhöfen demonstrieren. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten Begriffe wie die eher klinische Aggression einerseits oder die Empörung andererseits an die Stelle des Zorns. »Mit Aggression hat man einen nahezu technischen Ausdruck in Umlauf gebracht, der den Affektausbruch auf ein letztlich zu therapierendes oder sozialpädagogisch beherrschbares Phänomen reduziert hat«, heißt es scharfsinnig in einem Einführungstext zu einer Tagung des Potsdamer Einstein Forums. Genau so ist es. Und was ist mit der Empörung – so etwas wie die mutlose Schwester des Zorns? Wenn uns etwas empört, dann ist ein Unrecht geschehen, das sich rational aufzeigen lässt. Empörung scheint damit immer auch ein Eintreten für die richtige Seite zu meinen. Das Urteil über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit einer Handlung oder einer Situation steht hier im Mittelpunkt, weniger die emotionale Schubkraft, mit der sie sich äußert. »Grundsätzlich sind wir, im produktiven Sinn, gar nicht mehr zornig, sondern nur noch beleidigt«, behauptet Julia Encke. Und so dominieren lautstarke Wutbürger und belastbare Empörte den öffentlichen Diskurs, richtiger: die mediale Wirklichkeit.
Und was ist mit all den Montagsdemos, Protesten für Nachtflugverbot und gegen Autobahntrassen, diesen landesweiten Protest-Ritualen, die, nicht selten begleitet von düsterer Untergangs-Rhetorik, die Bürger-Demokratie (»Wir sind das Volk«) beschwören? Handelt es sich hierbei um gemeinsame Zorn-Erfahrungen oder sind sie allenfalls kollektiver Ausdruck einer »schimpfenden Weltbetrachtung«, wie Nietzsche es nannte? Einigen wir uns darauf: Zorn ist ein komplexes und manchmal auch ein widersprüchliches Phänomen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Bürgerzorn, Volkszorn, Wählerzorn, Götterzorn – der Zorn kommt in vielerlei Gestalt. Wann aber ist ein Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?