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Sieglinde Riedel Ein Tor zu meiner Stadt

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Abseits der Stadt ist der Ort, wo sich Wiedersehen und Abschied tangieren, wo sich Freude und Traurigkeit ihr Stelldichein geben. Der Bahnhof ist das Eingangstor zu meiner Stadt und sollte die Ankommenden freundlich empfangen.

Ich schaute zurück auf den Vorplatz, der sich halbkreisförmig vor mir breitete. Da ich noch Zeit hatte, wartete ich vor dem überdachten Eingang des attraktiven Bahnhofsgebäudes, einem Kuppelbau im klaren Bauhausstil aus Klinker Glasziegeln. Dabei beobachtete ich, wie eine ältere Frau mit ihrem Rollenkoffer nach Verlassen der Straßenbahn Slalom um aufgeplatzten Asphalt und Pfützen lief. Der Winter nahm gerade seinen Abschied und Reste von Altschnee und Streusand bedeckten den Boden. Ihr Koffer holperte über die mit Kopfstein gepflasterten Fahrbahnen der Busse. Die letzte Hürde war der verblasste, wellige Zebrastreifen, den sie passieren musste, um den Eingang zu erreichen.

Dieser Vorplatz ist wahrlich kein freundlicher Empfang für Fremde, dachte ich. Das hat die Schumannstadt nicht nötig! Wie lange sollte dieses triste Bild noch bleiben? Ich erinnerte mich, dass vor längerer Zeit in der Zeitung eine Skizze des Bahnhofsvorplatzes mit direkt vor den Eingang verlegten Straßenbahnschienen und anschließenden Grünflächen vorgestellt wurde. Ich versuchte, bei den Stadtvätern Näheres über Baubeginn und Abschluss zu erfahren. Leider musste ich mich mit der unbefriedigenden Antwort zufrieden geben, dass am Projekt gearbeitet würde.

Es war Vormittag, ein Gruppe rauchender Taxifahrer wartete gelangweilt auf Fahrgäste. Eilig kam ein junger Mann mit Aktenkoffer aus der Bahnhofshalle. Er ging auf einen der Taxifahrer zu. Dieser wies ihn an den ersten in der Reihe der wartenden Autos.

Ich ging in die Bahnhofshalle und traf dort auf die Frau mit dem Rollenkoffer. Ihr Blick richtete sich auf die gegenüber dem Eingang hoch angebrachte elektronische Anzeigetafel, die für den Zug nach Dresden Verspätung meldete. Ich kannte das Problem. Besonders im Winter, wenn aus fünf Minuten zwanzig und mehr wurden. Die Sachsen-Franken-Magistrale ist ein gutes Angebot der Deutschen Bahn. Sie verbindet Dresden und Nürnberg täglich einige Male. Ich erinnerte mich, dass in den neunziger Jahren die Strecke von Görlitz bis Oberstdorf führte. Das war ein bequemes Reisen ohne Umsteigen in den Süden Deutschlands.

Die Frau sprach mich an: „Wollen Sie auch nach Dresden?“ – „Nein, heute nicht. Ich fahre aber oft diese Strecke.“ – „Ich muss zum Flughafen, hoffentlich erreiche ich den Anschluss in Dresden Hauptbahnhof.“ – „Die S-Bahnen zum Flughafen fahren öfter“, beruhigte ich sie. Unter der Tafel ist ein Informationstresen, dahinter der einst attraktive Blickfang der Halle, eine breite Freitreppe. In dem jetzt dort eingebauten Fahrstuhl, der die Treppe unbarmherzig teilt, verschwand die Frau. Geblieben sind zwei große auf Säulen platzierte Figuren, ein Bergarbeiter rechts und ein Metallarbeiter links, welche zu mahnen scheinen: „Verstümmelt diese Bahnhofshalle nicht noch mehr!“ Mit den hohen bis an die Decke reichenden Fenstern ähnelt sie einem sakralen Raum. Von den dunklen Deckenbalken hängen symmetrisch angeordnete weiße Laternenlampen herunter, welche die Höhe optisch reduzieren.

„Erhaltet die braun geflammten quer gefliesten Wände und die noch vorhandenen Fahrkartenschalter!“ Ja, sie haben recht, die beiden Gesellen, aber ohne Fahrstuhl müsste die Frau ihren schweren Koffer in die untere Ebene und wieder nach oben zu den Bahnsteigen schleppen. Zweckmäßigkeit und Architektur lassen sich offenbar nicht immer in Einklang bringen.

Ich stellte meine Tasche auf eine der ovalen Marmorplatten, welche die gefliesten Säulen vor den ehemaligen Schaltern abschließen. Die Fenster sind mit Lamellenvorhängen zugezogen. Sie erinnerten mich an die vor Jahren hier tätigen Bahnangestellten an den großen ratternden Maschinen, welche ein drei mal fünf Zentimeter großes Stück bedruckte Pappe hervorbrachten; mit dem ich für sechs Mark in der 2.Klasse im Schnellzug von Zwickau nach Leipzig fahren konnte.

Zwei Schalter weiter hatte sich ein junges Mädchen auf einem Sims hingesetzt und die schmutzigen Turnschuhe auf die Marmorplatte hochgelegt, wobei sie flink die Tasten ihres Handys drückte. Es waren nicht viele Leute in der großen Halle. Der Bahnhof war in den dreißiger Jahren für mehr Fahrgäste erbaut worden. Wer hätte damals gedacht, dass jetzt die meisten Pendler mit ihren eigenen Autos zur Arbeit fahren? Mein Blick fiel wieder auf die Anzeigetafel: VGB nach Sokolov, 10 Uhr 11. Die Vogtlandbahn war pünktlich. Ich schlenderte zum Zeitungsladen, der jetzt „Press P & B Books“ heißt. Ein kleines Mädchen zerrte eine Frau mittleren Alters zu der Pixi – Jungenfigur hin, die vor der Eingangstür auf einer Schale die bunten kleinen Bücher anbietet. Natürlich hatte das Kind bei seiner Oma Erfolg. Mit zwei Büchlein in der Hand ging es strahlend zur Kasse. Die Oma bezahlte. Beim Hinausgehen fiel mein Blick auf eine Metalltafel im Inneren des Geschäftes neben der Wand.

Erbauer

Reichsbahnoberrat Otto Falck

geb. 1871 in Zwickau

Ich bezweifelte, dass das ein angemessener Platz für eine Erinnerungstafel ist. Die Tafel steht in keinerlei Zusammenhang mit den darunter liegenden Tageszeitungen und Magazinen. In der anderen Ecke gegenüber dem Zeitungsladen leuchtet in Intervallen ein roter Punkt, der Punkt über dem „i“ des Wortes Point, auf. Darunter steht über der Eingangstür „Supermarkt“. Hier kann man noch eine Bockwurst für 1,20 Euro kaufen. Die zwei Tische mit Stühlen und den Stehtisch nutzen nicht nur Reisende, um bei einem Imbiss die Zeit zu verkürzen, sondern auch diejenigen, welche in gleichgesinnter Gesellschaft in einem trockenen warmen Raum ein billiges Bier trinken wollen.

Daneben steht der Fahrkartenautomat, an dem eine Frau vergebens Tasten drückte, um zu einer Fahrkarte zu kommen. „Wenn ich die Karte im Reisezentrum kaufe, kostet sie 2 Euro mehr. Es ist so schon teuer genug“, sprach sie mich hilfesuchend an. Es wurde knapp für mich, denn der Zeiger hatte die Zehn überschritten. In diesem Augenblick kam ein sportlich gekleidetes Mädchen mit Rucksack angerannt. Sie schaffte es in Windeseile, dem Automaten für sich und die alte Frau die gewünschten Karten zu entnehmen. Dann eilte sie die Treppen hinunter und verschwand in der unteren Ebene des Bahnhofes.

Ich folgte etwas langsamer und bemerkte, dass sich hinter mir eine Gruppe Leute in Wanderkleidung bewegte. Sicher wollten sie auch mit der Vogtlandbahn fahren. Seit 1994 fährt diese Bahn in die südliche Region von Zwickau und inzwischen sogar bis nach Oberfranken und in das benachbarte Tschechien. So unkompliziert ins Nachbarland reisen zu können, war vor Jahren nicht möglich. Dafür konnte man mit dem „Sachsenringexpress“ direkt nach Ostberlin fahren. Jetzt sind Leipzig und Halle den Zwickauern wieder näher gerückt, denn im Stundentakt bringt die S-Bahn die Zwickauer in die Messestadt und zum Flughafen.

Bei allen Veränderungen ist die Bahnhofsatmosphäre durch die auf Autobahnen nicht zu ersetzen. Es rührt mich jedes Mal an, wenn nach Ankommen eines Zuges Menschen die Treppen hinaufströmen und dann Verwandte oder Freunde erwartungsvoll Ausschau halten, vielleicht ein älteres Ehepaar die Tochter mit Enkelkindern begrüßt, ein junger Mann seine Freundin küsst oder eine alte Frau von ihrer Schwester umarmt wird. Diese Szenen kann man nur auf einem Bahnhof erleben.

Für mich ist Bahnreisen selbstverständlich und interessant, obwohl ich da manchmal auf verwunderte Blicke stoße, wenn ich das begeisterten Autofahrern erzähle. Ob ich zum Verwandtenbesuch nach Dresden, ins Theater nach Chemnitz, nach Thüringen oder mit der Erzgebirgsbahn zum Wandern fahre, jedes Mal freue ich mich auf die Rückkehr zum „Tor“ zu meiner Stadt!

Zwickauer Impressionen

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