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Das magische Fernrohr

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Täglich, oder doch beinahe täglich, an meinen Arbeitstagen durchquere ich gleich neben dem Eingang den Raum mit den Reliefs unseres wunderbaren Landes. Ganze Schulklassen balgen sich hier um die Fernrohre, mit denen die Schweiz unter die Lupe genommen werden kann. Aber auch Erwachsene, nur gesitteter, beanspruchen die Geräte, wollen Berge und Täler damit erobern, eine virtuelle Reise antreten. Ich bewundere immer den Ausdruck der Gesichter, die an den Fernrohren hängen: Staunen. Verzückung und Freude.

Doch gestern, als ich den Saal durchquerte, geschah etwas Unerwartetes. Eine junge Frau mit langer blonder Mähne schaute durch ein Fernrohr. Wie üblich versuchte ich, ihren Gesichtsausdruck zu ergründen, als ihr ein Schrei entfuhr.

Ein Urschrei. War es ein Erschrecken? War es Angst? Ich konnte den Schrei nicht einordnen, war aber aufs Höchste alarmiert. Da musste etwas gründlich schief gelaufen sein, nur so war dieser urtümliche Laut zu werten.

Ich betätigte den Rufknopf auf meinem Pager, den wir Mitarbeiter stets mit uns führen, um meine Kolleginnen und Kollegen zu alarmieren. Was hatte nur die junge Frau durch das Fernrohr gesehen? War sie nicht schwindelfrei und wurde von der Angst überwältigt, in die Tiefen einer Schlucht zu stürzen? Wähnte sie sich gar in der Eiger-Nordwand, überzeugt davon, nicht mehr herauszukommen und auf ewig Eiseskälte, Wind und Wetter ausgesetzt zu sein? Meine Kolleginnen und Kollegen eilten in den Raum und blickten sich verwundert um, ohne etwas Aussergewöhnliches zu bemerken. Darauf wollten sie von mir wissen, was vorgefallen sei. Ein Diebstahl? Ein Herzstillstand? Oder gar ein Mord? Ich zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Fernrohrs und der Nutzerin, die, ein Auge am Okular, kreidebleich und wie festgeklebt an ihrem Platz verharrte und immer wieder kleine Schreie ausstiess.

Da fasste ich mir ein Herz, obwohl ich aus eigener Erfahrung wusste, dass ein Nachtwandler nicht aus seinen Visionen aufgeweckt werden darf, und ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob die Besucherin einem ähnlichen Syndrom erlegen war, stellte mich neben sie, nahm das freie Fernrohr in die Hand, führte das Okular an mein Auge und, mein Gott! –, als ich dieses in die gleiche Richtung wie die junge Frau einstellte, fiel mein Blick auf ein entsetzliches Untier. Ein Dinosaurier? Nein, noch viel entsetzlicher! Und das Vieh, war es überhaupt eins, bewegte sich auf mich zu. Ohne es zu wollen, stiess auch ich einen Schrei aus. Angstvoll! Laut! Ohne Rücksicht auf meine Fernrohr-Nachbarin zu nehmen. Urängste stiegen in mir hoch, und ich wollte nur noch fliehen. Stattdessen blieb ich wie festgewachsen am Ort, mein Auge auf das Monster fixiert. Waren die Besucherin und ich plötzlich durch einen Zeitsprung in die Urgeschichte unseres Landes gereist?

Ich dachte an Drachentöter, wusste jedoch, dass ich nicht unverwundbar war wie Siegfried, und dass mir Wilhelm Tell nicht helfen könnte, da er noch lange nicht geboren war.

Jetzt schrie ich laut heraus: «Hilfe, ein Untier im Relief!»

Ein Kollege – noch heute bewundere ich seinen Mut – näherte sich festen Schrittes dem Ungeheuer, klappte aus seinem Schweizer Soldatenmesser, das zusammen mit dem Schlüsselbund an seinem Gurt baumelte, die Pinzette heraus, griff damit in das Relief und – hielt eine Ameise hoch! Das Untier, wie mir sofort klar wurde. Für die junge Frau und mich hatte sich durch das so stark brechende Vergrösserungsglas eine kleine Ursache zu einem riesigen Schrecken aufgetürmt.

Am selben Abend kaufte ich aus eigener Tasche eine Ameisenfalle, damit sich der Vorfall nicht wiederholen könne.

ideen haben die menschen, fallen doch auf alles rein!


Geschichten, die das Landesmuseum schrieb

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