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Gras

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«Früher, da war die Welt noch im Lot. Selbst das Gras konnte ich noch wachsen hören. Ja, da staunst du?», sprach mein Grossvater vor Jahren zu mir. Jetzt bin ich selbst Grossvater und werde mir bald die Veredelung mit der Vorsilbe «Ur» verdient haben – falls das eine Adelung ist.

Vielleicht wird es eine Degradierung, schliesslich sind es die Grossväter, die Geschichten erzählen. Und was bleibt den Urgrossvätern übrig? Alles bereits erlebt, erzählt, berichtet.

Doch jetzt, da ich vor dieser Fotografie stehe, erinnere ich mich an meine eigene Kindheit vor beinahe hundert Jahren. Nein, ich will nicht übertreiben, es sind bloss zweiundneunzig. Ein Duft durchzieht meine Nase, meine Erinnerung – ich atme tief ein. Was für ein Glück umspült mich da!

Frühling. Noch kleine Schneereste auf der Wiese. Ich liege dort auf einer alten Pferdedecke, die ich in der Scheune entdeckt habe, und beobachte die Knospe einer Krokusblume, die ihre Blätter zur Sonne hin streckt und dann ganz zögerlich, als traue sie der blassen Scheibe am Himmel nicht, ihre Blüte um einen winzigen Spalt öffnet – und gleich wieder schliesst. Mag sein, sie wartet auf fruchtbarere Zeiten, denn die Insekten sind noch im Winterschlaf versunken oder der Kinderstube noch nicht entwachsen; es dauert noch, bis sie die Wunder der Wiese erforschen.

Und tatsächlich, wenn ich mich jetzt auf meiner Frühjahrswiese auf die Geräusche konzentriere, höre ich das Gras wachsen. Leise, behutsam. Ganz anders, als unser Sprachgebrauch es suggeriert. Denn wenn ich das Gras wachsen höre, bin ich weitab von allen Gerüchten, die wie aufdringliche Fliegen herumschwirren und unser Denken zu wilden, selten guten Spekulationen verleiten. Auf meiner Kindheitswiese höre ich die in den Himmel strebende Kraft, die zwar weiss, dass sie ihn nie erreichen wird, und dennoch unerschrocken ihren Kampf gegen die Schwerkraft unserer Existenz weiterführt.

Und schon liege ich in der Sommerwiese gebettet. Denn im Alter, das können meine Altersgenossen sicherlich bezeugen, vergeht die Zeit um so viel schneller, als würde ein überzogenes Uhrwerk im Rapidmodus scheppernd sich entladen. Die Gräser um mich sind gewachsen. Sie wiegen sich langsam im Wind und berühren einander sanft. Längst hat sich der Krokus wieder ins Erdreich zurückgezogen. Und ich geniesse auf der Pferdedecke meiner Fantasie die ersten Düfte des noch jungen Sommers. Ich lausche den summenden Liedern der Bienen und schaue den beflügelten Elfen zu, wie sie von Kelch zu Kelch eilen und ihre fruchtbringende Arbeit strebsam und mit Genuss erfüllen.


Heufuder bei Rueras 1920–1935.

Das Gras wächst kaum mehr, dafür ergibt es sich schwungvoll den Tänzen, zu denen es der Sommerwind lädt. Gewitterwolken verkünden köstliches Nass, doch der wütende Donner droht mit Verwüstung. So ist das Leben, denke ich und vernehme das Dengeln der Sense und die nahenden Schritte. Ich höre das «Schsch!» des Schnitters. Dann hält er wieder und wetzt. Ein herrlicher Klang! Allmählich steigt mir der Duft gefällten Grases in die Nase, so wie ich ihn aus Kindertagen kenne. Ich lausche dem Singen der Frauen und Kinder, die mit ihren Heugabeln das blutende Gras bewegen, und vernehme das Schnauben des Pferdes, das den Heuwagen zieht.

Da durchzieht ein Jubelschrei meine Wiese. Die Bäuerin mit ihrem grossen Henkelkorb ist da.

Dieser himmlische Duft!

Frisches Brot.

Käse.

Most.

Es wird ausgepackt, und ich greife zu.

wenn nur ein krümel käse herausfällt! darf ruhig ein bissen mehr sein!


Geschichten, die das Landesmuseum schrieb

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