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5. Konsequenzen für die pastorale Praxis

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Wir haben gesehen, dass die neutestamentlichen Autoren die ethischen Forderungen Jesu in ihrer teilweise recht harten Radikalität nicht unverändert übernehmen. Sie reiben sich vielmehr an ihnen, sie passen sie ihren eigenen theologischen Konzeptionen und ihren jeweiligen seelsorglichen Situationen an. Dabei kommt es aber nicht nur zu einer Anpassung und Abmilderung, sondern in allen untersuchten Schriften und Schriftengruppen auch zu einer Verschärfung und weiteren Radikalisierung. Es scheint so, dass die ethischen Forderungen Jesu eine starke Nachwirkung hatten, auch wenn nicht in jedem Fall die unmittelbare Bezugnahme der neutestamentlichen Autoren auf die Jesusüberlieferung nachzuweisen ist. Der hohe ethische Anspruch in den neutestamentlichen Schriften ist aber ohne die Verkündigung Jesu nicht denkbar. Die ethischen Appelle Jesu wurden nicht als Gesetze verstanden oder als konkrete Normen, die unverändert zu bewahren und genau zu beachten seien. Vielmehr bilden sie eine Orientierung, an die man sich gebunden weiß und um die herum neue ethische Konzeptionen entstehen, die die Radikalität bewahren, gelegentlich sogar noch verstärken oder aber auch abschwächen, wobei der höhere Anspruch, der an Christen gestellt wird, durchgehend erhalten bleibt. Der besondere Anspruch der Ethik Jesu bildet also in den neutestamentlichen Schriften einen „Stachel im Fleisch“, der zur eigenen christlichen Identität gehört.

Ergänzend zu unserem Überblick ist festzustellen, dass neutestamentliche Autoren in nicht geringem Umfang ethische Konzepte und Argumentationen ihrer jüdischen und auch heidnischen Umwelt rezipieren. Man könnte dies an Laster- oder Tugendkatalogen, Haustafeln, an stoisch klingenden Formulierungen und nicht zuletzt auch an direkten positiven Bezugnahmen auf heidnische Wertvorstellungen zeigen.18 Gelegentlich wird in den neutestamentlichen Schriften sogar direkt vorausgesetzt, dass es eine gemeinsame Basis mit den ethischen Vorstellungen der heidnischen Umgebung gibt (1 Kor 5,1; 1 Petr 2,12.15). Eine einfache Anpassung an die ethischen Maßstäbe ihrer Umwelt kommt für die neutestamentlichen Autoren aber nicht in Frage. Maßstab für Ablehnung und Übernahme paganer Ethik ist die eigene christliche Überlieferung. So führt der neue christliche Glaubensinhalt auch zu einer Umprägung vorgegebener Normen. Überlieferte Worte Jesu, das Vorbild Jesu, das Bekenntnis zu seinem Tod und seiner Auferstehung und die Überzeugung von der Heiligkeit der Gemeinde aufgrund der Geistspendung in der Taufe führen zu einer selbstbewussten Ethik, die den Menschen fordert, die unbequem ist und die mehr vom Menschen verlangt, als in der jeweiligen Gesellschaft üblich ist.

Der Anspruch Jesu und der frühchristlichen Autoren ist auch heute zu bewahren. Auch unsere Zeit braucht die radikalen Zeichen der Nachfolge. Die neutestamentliche Ethik ist durchgehend von dem Ziel bestimmt, den Willen Gottes zu verwirklichen, ihm Geltung zu verschaffen, und zugleich dem Wohl des Menschen zu dienen. Beides bildet eine Einheit.

Vor einem unbarmherzigen Rigorismus bewahrt die Kirche die Verkündigung der gnadenhaften Zuwendung Gottes, der sich in Jesus Christus bis zur Lebenshingabe als der Liebende erweist und diese Liebe auch zum Maßstab für die Nächstenliebe macht. Es macht die Stärke der Kirche aus, dass sie die aktive Nähe Gottes verkündet, der den Menschen in den Sakramenten an wichtigen Stationen in seinem Leben, im Wort des seelsorglichen Zuspruchs und in festlichen liturgischen Feiern wirksam entgegenkommt. Diese Zuwendung ermöglicht und fordert die Verwirklichung eines besonderen ethischen Anspruchs. Kirchliche Ethik lässt sich nur vermitteln, wenn zuvor von Gott und seinem Heilswillen gesprochen wurde. Alle, die in der Seelsorge tätig sind, sind deshalb aufgefordert, zuerst die spezifischen Inhalte des christlichen Glaubens in ihrer ganzen Fülle zu lehren und zu verkünden, um darauf dann die kirchliche Moralverkündigung aufzubauen. Wenn der Glaube verflacht, verliert auch die ethische Botschaft an Überzeugungskraft. Sein und Sollen, Indikativ und Imperativ, Glaubenslehre und Sittenlehre gehören untrennbar zusammen.

Im Wirken Jesu und in den frühen christlichen Gemeinden spielte auch die Erfahrung der Zuwendung Gottes eine entscheidende Rolle. Dass sich Gott in Liebe den Menschen zuwendet und dass die Menschen durch die Begegnung mit Gott erneuert und geheiligt wurden, wurde nicht nur mit Worten behauptet, sondern offenbarte sich auch in konkreten Erfahrungen, die die Menschen mit Jesus und später mit den christlichen Gemeinden gemacht haben.

Jesus bezeugte den Beginn der Gottesherrschaft unter anderem durch seine Heilungen, durch sichtbare Zeichen der Sündenvergebung und durch eine aus einer einmaligen Gottesbeziehung erwachsene neue, vom Wohl des Menschen bestimmte Deutung der Tora, die den eigentlichen Schöpferwillen Gottes wieder in Erinnerung rufen will. Die sich darin zeigende Gegenwart der Gottesherrschaft ist die unmittelbare Grundlage seiner Ethik. Die radikalen Forderungen Jesu, wie sie unter anderem in der matthäischen Bergpredigt enthalten sind, sind nur unter dieser Voraussetzung verständlich und akzeptabel.

In vergleichbarer Weise bildeten die christlichen Gemeinden Orte besonderer Gottesbegegnung. In den Sakramenten, im tröstenden und Hoffnung vermittelnden Wort der Verkündigung und im von der Liebe geprägten neuen Miteinander in den Gemeinden, das auch eine Aufhebung der sozialen Unterschiede einschloss (Gal 3,27f), erfuhren die Menschen - Getaufte wie Taufbewerber und Gäste -, dass hier von Gott her eine neue Wirklichkeit eröffnet wird, die ein neues Miteinander ermöglicht.

Der Blick in konkrete urchristliche Gemeinden, wie z. B. die korinthische Gemeinde zur Zeit des Paulus, zeigt, dass die Gemeinden nicht immer dem Ideal entsprachen. Die korinthische Gemeinde war in vieler Hinsicht gespalten und zerstritten, aber Paulus stellt mit seiner apostolischen Autorität den Gemeinden immer wieder das Ideal vor Augen, das ihrer Heiligkeit entspricht. Das schnelle Wachstum dieser Gemeinden zeigt, dass sie trotz aller Schwierigkeiten offensichtlich Menschen vom Evangelium und von der Gegenwart des göttlichen Geistes überzeugen konnten.

Für unsere heutige Situation stellt sich die Frage, inwiefern es uns gelingen kann, unsere Gemeinden noch mehr zu Orten der Gottesbegegnung und der Gotteserfahrung zu machen. Das soziale Engagement der Kirche findet in unserer Gesellschaft weithin Zustimmung. Allerdings gilt dies auch nur mit Einschränkungen, denn wenn sich Christen für den Schutz des Lebens in allen seinen Phasen einsetzen, folgen ihnen viele Menschen nicht mehr. Es wäre deshalb wichtig zu vermitteln, aus welcher Motivation und von welchem Menschen- und Gottesbild her uns Christen der Lebensschutz so wichtig ist. Gleiches gilt für andere ethische Fragen. Damit Gemeinden von randständigen Christen und von Außenstehenden als Orte der Gottesbegegnung erfahren werden, reicht soziales Engagement also nicht. Auch die Verkündigung, die praktische Seelsorge, das sakramentale Leben der Gemeinden und auch die Art, wie man als christliche Gemeinde feiert, betet, Gottesdienste gestaltet, all dies bietet Chancen, Menschen erlebbar Zeugnis zu geben, von dem Glauben und der Hoffnung, die uns erfüllen (vgl. 1 Petr 3,15).

1 Zu diesem Vorwurf des Rigorismus vgl. das Memorandum einiger Theologen aus dem deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch“ vom 4. Februar 2011 (abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen vom 11.2.2011 mit einer Stellungnahme von Walter Kardinal Kasper). Darin wird ein „selbstgerechter moralischer Rigorismus“ in der Kirche beklagt und die „Verkehrung der biblischen Freiheitsbotschaft in eine rigorose Moral ohne Barmherzigkeit“.

2 Das Gebot der Feindesliebe wird weithin als jesuanisch angesehen, vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, S. 347-349.

3 Wer der Feind ist, wird von Jesus nicht gesagt. „Feind“ ist deshalb im umfassenden Sinne zu verstehen. Vgl. R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Bd. I: Von Jesus zur Urkirche (HThK.S 1), Freiburg u.a. 1986, S. 107.

4 Vgl. D. Zeller, Jesu weisheitliche Ethik, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret - Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, S. 193-215, hier S. 211.

5 Zur Historizität des Ehescheidungsverbotes und zur Interpretation vgl. I. Broer, Jesus und die Thora, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret (Anm. 4), S. 216-254, hier S. 233-237.

6 Die zeitlich befristete Ehelosigkeit bei den Essenern (vgl. dazu H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg u.a. 1993, S. 267-273) zeigt, dass ein Verzicht auf die Ehe aus religiösen Gründen im Judentum denkbar ist. Die Motivation ist aber eine andere. Geht es in Qumran um die Reinheit, so liegt bei Jesus die Motivation in der Antwort des Menschen auf die Gegenwart der Gottesherrschaft, der alles andere unterzuordnen ist.

7 Siehe dazu J. Gnilka, Das Matthäusevangelium II (HThK I/2), Freiburg u.a. 1988, S. 155-157.

8 Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass Jesus auch Tora-Gebote abgemildert hat, so das Sabbatgebot und Teile der Reinheitstora. Kriterium ist hier das Wohl des Menschen bzw. die Vorrangigkeit der Herzensreinheit vor der äußeren Reinheit. Letztlich steckt auch hinter diesen Umdeutungen ein höherer Anspruch an den Menschen.

9 R. Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik’ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, in: ThLZ 132 (2007), S. 259-284, kommt nach einer Auflistung zahlreicher Argumente zu dem Ergebnis (ebd., S. 265): „Angesicht der genannten Kritikpunkte sollte man sich innerhalb der exegetischen Wissenschaft vom Indikativ-Imperativ-Modell als leitendem Begründungsmuster der paulinischen Ethik nun endgültig verabschieden, da es letztlich mehr Probleme schafft, als es lösen konnte.“ Vgl. auch K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Hans Hübner zum 70. Geburtstag, Göttingen 2000, S. 9-31; ebd., S. 31: „Kein Imperativ wird hier ‚abgeleitet’ aus dem Indikativ, sondern das Leben wird ins Evangelium gelegt.“

10 Vgl. R. Zimmermann, Jenseits (Anm. 9), S. 260.

11 M. Konradt, "Whoever humbles himself like this child…" The Ethical Instruction in Matthew's Community Discourse (Matt 18) and Its Narrative Setting, in: R. Zimmermann/J. G. van der Watt (Hrsg.) in Cooperation with S. Luther, Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics II (WUNT 2. Reihe 296), Tübingen 2010, S. 105-138, hier S. 137.

12 M. Konradt, Instruction, S. 137.

13 M. Konradt, Instruction, S. 138.

14 Vgl. dazu J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992, S. 464: Basis der spezifisch paulinischen Ethik sei die Heiligung des Christen. „Jedoch spielt das Liebesgebot zweifelsfrei eine viel herausragendere Rolle“ (ebd.). Dabei ist die Liebe „meist der unbequemere Weg, der das Gesamtwohl im Auge hat. Nicht die eigenen Bedürfnisse und Interessen des Menschen […], vielmehr die Hingabe aufgrund der zuvorkommenden Hingabe Christi sind ihr Orientierungsrahmen“ (ebd.). Dabei beruht die Verbindlichkeit des Liebesgebotes „auf dem Gesamtsinn der göttlichen Heilszuwendung in Christus […], nicht aber auf Christus als Lehrer“ (a.a.O., S. 462), also weniger auf der Jesustradition als auf dem urchristlichen Kerygma.

15 Vgl. M. Wolter, 'Let no one seek his won, but each one the other's' (1 Corinthians 10,24): Pauline ethics according to 1 Corinthians, in: J. G. van der Watt (Hrsg.) assisted by F. S. Malan, Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament (BZNW 141), Berlin - New York 2006, S. 199-217, hier S. 212.

16 H. von Lips, Heiligkeit und Liebe. Kriterien christlicher Ethik am Beispiel des 1. Korintherbriefes, in: Ch. Böttrich (Hrsg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum. FS Günter Haufe zum 75. Geburtstag (Greifswalder theologische Forschungen 11), Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 169-180, hier S. 176.

17 Vgl. dazu H. von Lips, Heiligkeit, S. 176.

18 Vgl. die sehr differenzierte Darstellung von D. Zeller, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament (QD 190), Freiburg u.a. 2001, S. 82-98.

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