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1. Die harten Forderungen Jesu angesichts der hereinbrechenden Gottesherrschaft

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Am Anfang der Entwicklung zu einer spezifisch christlichen Ethik stehen die ethischen Forderungen Jesu. Soweit sie sich in den neutestamentlichen Evangelien – insbesondere bei den Synoptikern – erhalten haben, lassen sie ein klares Profil und einen hohen Anspruch erkennen. Wenn im Einzelnen auch strittig ist, welche Weisungen auf den historischen Jesus zurückgehen, so lassen sich doch einige Forderungen mit großer Wahrscheinlichkeit als authentisch erweisen. Das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44 par Lk 6,27f) zielt auf die völlige Entschränkung des Gebotes der Nächstenliebe (Lev 19,18) ab.2 Auch der persönliche Feind, derjenige, der mich in meinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt, der mich meiner Freiheit beraubt und mir womöglich nach dem Leben trachtet, soll nicht nur nicht gehasst, sondern aktiv geliebt werden.3 Jesus selbst hat diese Feindesliebe in seiner Passion bis zur eigenen Lebenshingabe gelebt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Mahnung Jesu, der Eskalation von Gewalt entgegenzuwirken und das Böse zu überwinden, indem man nicht nur auf das eigene Recht verzichtet, sondern sogar dem Bösen nachgibt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Auch diese Weisung stimmt mit dem Verhalten Jesu selbst überein, der sich ungerechter Gewalt nicht widersetzt hat.

Einen hohen Anspruch stellt auch das Schwurverbot dar (Mt 5,34.37; vgl. Jak 5,12). Es hat einmal die Heiligung des Gottesnamens zum Ziel, fordert zugleich zur Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Bereich auf.4 Der Jünger Jesu soll immer die Wahrheit sagen und nicht nur, wenn er unter Eid aussagt. Schwören wird dann überflüssig, ja sogar gefährlich, insofern es dazu verführt, die Ehrlichkeit auf den Schwur zu begrenzen.

Auch das Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32 par Lk 16,18; Mk 10,11 par Mt 19,9), das von Jesus ursprünglich unter der Voraussetzung jüdischer Rechtsverhältnisse formuliert war und das dem Mann verbot, seine Frau zu entlassen, setzt sich über die jüdischen Gepflogenheiten hinweg, die die Trennung erlaubten. Man stritt zwar im zeitgenössischen Judentum darüber, aus welchem Grund ein Mann seine Frau entlassen darf (vgl. Mt 19,3); dass die Trennung aber grundsätzlich erlaubt ist, war nicht zweifelhaft. Auch in dieser Frage ist also der Anspruch Jesu höher.5

Mit dem Wort von den „Eunuchen um des Himmelreiches willen“ (Mt 19,12), das wegen fehlender direkter Parallelen im Frühjudentum, das sogar eine Pflicht zur Eheschließung aus der Tora ableitet,6 auf Jesus zurückgeht, hat Jesus auch seine eigene offenbar bewusst gewählte ehelose Lebensform begründet.7 Die Botschaft Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft fordert eine Antwort, die vieles relativiert, was im Allgemeinen als wertvoll und wichtig erachtet wird.

Auch in der Frage des Reichtums überliefern uns die Evangelien Jesusworte, die dem Menschen viel abverlangen. So dürfte wegen seiner auch sonst in der Verkündigung Jesu begegnenden Paradoxie und wegen der provokanten Radikalität, die kaum in der nachösterlichen Gemeinde entstanden sein kann, das Wort vom Kamel und dem Nadelöhr auf Jesus zurückgehen: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Himmelreich hineinkommt“ (Mk 10,25). Da Jesus nicht von allen seinen Jüngern den Verzicht auf jeglichen Besitz forderte, dürfte dieses Wort eher als Weckruf an die Reichen zu verstehen sein, denn als konkrete Anweisung, seinen ganzen Besitz abzugeben. Dadurch wird das Wort aber nicht wesentlich abgeschwächt. Da Reichtum daran hindern kann, ganz für Gott zu leben und sich ganz von ihm in Besitz nehmen zu lassen, beinhaltet die Nachfolge Jesu eine distanzierte Einstellung zum Besitz und unter Umständen, wie im Falle des reichen Mannes (Mk 10,17-22), sogar die völlige Aufgabe des eigenen Vermögens.

Die Interpretation dieser Forderungen und ihre Einordnung in eine Gesamtkonzeption der Ethik Jesu werden durch zwei Probleme erschwert. Erstens sind die ethischen Appelle Jesu in der Regel ohne ihren ursprünglichen Kontext überliefert; es ist also in den meisten Fällen nicht klar, aus welchem Anlass Jesus seine Forderungen formuliert hat. Zweitens ist es ein Kennzeichen der Verkündigung Jesu, dass er seine Ethik nicht systematisch darlegt; vielmehr hat er in der Regel spontan und veranlasst durch die Situation seine Forderungen formuliert.

Trotzdem lässt sich Folgendes feststellen: All die Forderungen Jesu verfolgen das Ziel, das Böse zu überwinden und dem Wohl des Menschen zu dienen. Sie sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Der Anbruch der endzeitlichen Herrschaft Gottes im Wirken Jesu verträgt sich nicht mit menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnissen, die dem Wohl des Menschen abträglich sind. Ja, die heilende und vergebende Zuwendung Gottes ist so groß und umfassend, dass ihr nur ein ethisches Verhalten entspricht, in dem der Mensch gleichsam über sich selbst hinauswächst.8

Seit Rudolf Bultmann hat man die Ethik des Paulus und letztlich des gesamten Neuen Testaments einschließlich der Ethik Jesu mit den Begriffen (Heils-)Indikativ und Imperativ umschrieben. Man meint damit, dass sich die Ethik aus dem ableitet, was von Gott her offenbart ist, d.h., dass die ethischen Forderungen des Neuen Testaments Antwort sind auf die Zuwendung Gottes zu den Menschen.

In den letzten Jahren ist in Frage gestellt worden, dass die Begriffe Indikativ und Imperativ für die Beschreibung der neutestamentlichen und auch speziell der paulinischen Ethik angemessen sind. So hält Ruben Zimmermann diese Terminologie sogar für völlig ungeeignet und plädiert für die Vermeidung dieser Begrifflichkeit.9 Eines seiner Hauptargumente ergibt sich aus der Beobachtung, dass sich Soteriologie und Ethik in den neutestamentlichen Schriften oft gar nicht trennen lassen. Was ethisch zu fordern ist, ist schon mit dem neuen Sein des Getauften gegeben. So verschränken sich Heilszusage und Paränese oft bei Paulus, wie man z. B. in 1 Thess 5,1-11 sehen kann. Hier wird das neue Sein mit den gleichen Begriffen oder dem gleichen Bildfeld umschrieben wie die ethische Forderung. Dieses Ineinander von Sein und Sollen zeigt sich beispielsweise in 1 Thess 5,4-6: „Ihr aber, Brüder, seid nicht in der Finsternis, so dass euch der Tag nicht wie ein Dieb ergreift. Alle seid ihr nämlich Söhne des Lichts und Söhne des Tags. Nicht gehören wir der Nacht und nicht der Finsternis. Also lasst uns nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachsam und nüchtern sein.“ Weil die Getauften Söhne des Lichtes sind und dem Tag gehören, sollen sie sich so verhalten, wie es dem Tag entspricht, nämlich wachsam und nüchtern sein. Zimmermann verweist auch auf die in diesem Zusammenhang oft zitierte Stelle Gal 5,25 („Wenn wir dem Geist leben, wollen wir dem Geist auch folgen“), da hier Indikativ und Imperativ dicht beieinander stehen.10 Insofern ist die Klärung wichtig, dass die Rede von Indikativ und Imperativ nicht bedeutet, dass die neutestamentliche Ethik in einem eigenen Schlussverfahren aus den Glaubensinhalten entwickelt werden muss. Da die beiden Begriffe aus der Sprache der Grammatik stammen, könnte der Eindruck entstehen, dass Heilszusage und Heilserfahrung auf der einen Seite und ethische Forderung auf der anderen getrennte theologische Bereiche sind, die sich auch auf der Ebene der Grammatik voneinander unterscheiden lassen. Dies entspricht aber nicht den biblischen Texten, die schon im neuen Sein des Christen und in der Heilszuwendung Gottes die Maßstäbe und Inhalte der Ethik als gegeben ansehen. Trotzdem wird man nicht ganz auf die Begrifflichkeit von Indikativ und Imperativ verzichten können, da sie hilft, die neutestamentliche Ethik zu systematisieren. Sie macht deutlich, dass die ethischen Forderungen des Neuen Testaments und der Kirche das zuvorkommende Handeln Gottes voraussetzen, das den Menschen erneuert, ihn dadurch in die Lage versetzt, den Willen Gottes zu erfüllen, und das schließlich auch die Maßstäbe liefert, die für eine christliche Ethik konstitutiv sind.

Trotzdem ergeben sich aus diesen neueren Erkenntnissen über den engen Zusammenhang von Sein und Sollen des Christen bedeutende Konsequenzen für die Pastoral, wie später noch zu zeigen sein wird.

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