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1.3 Die Lösung der Kirche von der Synagoge

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Rabbi Jochanan ben Zakkai († ca. 80 n. Chr.) gilt als der Begründer eines neuen geistigen und politischen Zentrums des Judentums in Jabne (Jamnia) bei Jaffa. Unter ihm und seinem Nachfolger Gamaliel II. († ca. 120 n. Chr.) ergreift man auf jüdischer Seite Maßnahmen, um ohne Tempel und Hohen Rat das Weiterbestehen des Volks zu sichern. So müssen sich von nun an alle nach der Überlieferung der Ältesten (Halacha) richten, nach einer bisweilen eng wirkenden Gesetzessammlung, gegen die schon Jesus polemisierte (vgl. Mk 7,8-13). Der Tempelgottesdienst wird durch das regelmäßige Beten des Schema Israel (Dtn 6,4-9;11,13-21; Num 15,37-41) und des Achtzehnbittengebets ersetzt, die Opfer durch Almosen, Beten und Leiden.

Während anfangs zwischen Pharisäern und Christen, sofern Letztere gesetzestreu lebten, Duldsamkeit und bisweilen sogar Sympathie herrscht (vgl. Apg 15,5), wird etwa zwischen 70 und 132 in Jabne die birkat ham-mînîm des Achtzehnbittengebets, eine Fluchformel gegen religiöse Abweichler, auf auffällige Weise umformuliert. In dem Wort minim, mit dem man bisher ohne negative Konnotation die Vertreter jüdischer Sonderrichtungen bezeichnete, schwingt nun die Bedeutung häretische Abspaltung mit. Falls sich diese Sonderrichtungen fortan nicht unterwerfen, werden sie aus der Synagoge ausgestoßen und ihr Schrifttum vernichtet. In diesem Sinne betet man mit besagter Fluchformel:


Ein Widerhall dieser Verschärfung findet sich möglicherweise in den Evangelien. Nach Mt 10,17 werden die Jünger zwar vor das Synagogengericht gebracht und durch Auspeitschung bestraft, sie verbleiben aber im Synagogenverband, freilich als Übeltäter. In Joh 12,42 heißt es dagegen, dass viele Juden an Jesus glaubten, ihren Glauben aber wegen der Pharisäer nicht offen bekannten, damit sie nicht aus der Synagoge ausgestoßen würden. Diese Nachricht passt genau zur Situation nach dem Jahr 80, weshalb Johannes hier also wohl seine Erfahrungen einfließen lässt.

Wenn auch der Nazoräer-Zusatz der obigen Fluchformel laut der neueren Forschung wohl etwas später eingefügt wurde, so bezeugt doch bereits Justin der Märtyrer († um 165) die Verfluchung von Christen in der Synagoge. Warum grenzen sich die Juden so entschieden von den Christen ab? Ohne Zweifel vollzieht sich zwischen 70 und 135 die grundlegende Wandlung des jüdischen Volks von einem in Israel ansässigen Gottesvolk zu einer heimatlosen, ihres Tempels beraubten Nation, die nur durch die stark spiritualisierte rabbinische Religion zusammengehalten wird. Um in dieser bedrängten Situation als Volk überleben zu können, muss die ursprüngliche religiöse Vielfalt nun zugunsten einer massiven Einheitlichkeit aufgegeben werden. Das hat zur Folge, dass fortan eine sehr verengte Gesetzesauslegung gilt, die andere Richtungen nicht dulden kann, schon gar nicht die Judenchristen.

Diese halten trotz ihrer Ausschließung aus der jüdischen Volksgemeinschaft an der Beschneidung fest und feiern weiterhin den Sabbat und die anderen jüdischen Feste, was freilich viele Heidenchristen verstimmt. So entwickeln sich die judenchristlichen Gemeinden allmählich zu einsamen, von der übrigen Christenheit isolierten Kreisen. Doch bestehen noch im 4. Jahrhundert und später kleine judenchristliche Gemeinden in Syrien. Der gelehrte, des Hebräischen kundige Kirchenvater Hieronymus († ca. 419/20) fertigte nach eigenen Angaben sogar eine lateinische Übersetzung ihres Hebräerevangeliums an, das gegenüber den kanonischen Evangelien leicht abweichende Traditionen enthält und die Stellung des Herrenbruders Jakobus besonders betont. Insgesamt geraten die Judenchristen aber immer mehr an den Rand. Die Juden können ihnen ihr Christsein nicht verzeihen und die heidenchristliche Mehrheit der Kirche akzeptiert nicht, dass sie weiterhin an den Bräuchen und Riten des Judentums festhalten. So verlieren sie immer mehr ihre zwischen Christen und Juden vermittelnde Relevanz und verschwinden allmählich aus der Geschichte.

Das Verhältnis zwischen Christen und Juden ist aber von Anfang an ambivalent. Einerseits verbindet sie der gleiche Ein-Gott-Glaube, dieselbe Heilige Schrift und viele gemeinsame gottesdienstliche Strukturen und Gebräuche, sodass noch das im ausgehenden 1. Jahrhundert entstandene Johannesevangelium Jesus zur Samariterin sagen lässt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Andererseits ist Jesus der Stein des Anstoßes, den die Juden verwerfen und – so lautet der Vorwurf – sogar töten. Angesichts der verheerenden Folgen dieser Anschuldigung ist es wichtig, dieses spannungsreiche Verhältnis genauer zu betrachten.

Paulus ist stolz auf seine jüdische Herkunft (2 Kor 11,22; Gal 2,15; Phil 3,5). Für ihn ist Israel das auserwählte Volk, das berufen ist, den Messias hervorzubringen (Röm 9,3-5). Trotzdem fällt es ihm in Röm 9-11 nicht leicht, die momentane Ablehnung Jesu durch die Juden theologisch zu erklären. In 1 Thess 2,15 stellt er schließlich fest, dass die Juden Jesus und die Propheten getötet und die Christen verfolgt haben, weshalb sie „Gott missfallen und allen Menschen feind sind“.

Doch ist diese Stelle

1. eine Ausnahme in den paulinischen Schriften und

2. wird ihre Schärfe verständlich, wenn man bedenkt, welche Anfeindungen der Jude Paulus von seinen jüdischen Landsleuten zu erleiden hatte.

Die synoptischen Evangelien spiegeln nicht so sehr die tatsächlichen Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern und der jüdischen Führung wider, sondern das Verhältnis zwischen Juden und Christen zur Zeit ihrer Abfassung. Hinsichtlich des Leidens und Sterbens Jesu betonen sie, dass nicht in erster Linie menschliche Bosheit, sondern der Wille Gottes hinter diesem Geheimnis der Erlösung steht: „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“, heißt es beispielsweise bei Lk 24,26. Freilich findet sich bei Mt 27,28 der Ruf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, eine Verwünschung, die später von christlicher Seite sehr viel Unheil über die Juden bringen wird. Matthäus charakterisiert damit aber lediglich die konkrete Situation der Herrenpassion und beabsichtigt nicht eine auf ewig fortdauernde heilsgeschichtliche Verdammung der Juden.

Ein gewisser Antijudaismus, der sich schon in den synoptischen Schilderungen der Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern bemerkbar macht, verstärkt sich in den späten johanneischen Schriften des ausgehenden 1. Jahrhunderts. Aufgrund der nach 80 einsetzenden Ausgrenzung der Judenchristen aus dem jüdischen Synagogenverband, des dadurch verlorenen Status einer staatlich erlaubten Religion (religio licita), schließlich aufgrund der bisweilen bei den römischen Behörden vorgebrachten jüdischen Denunziationen ist die Offenbarung des Johannes sehr schlecht auf die Juden zu sprechen. Sie erkennt den Juden gar ihr Judentum ab und bezeichnet sie als „Synagoge des Satans“ (Offb 2,3; 3,9). Ähnlich schroff äußert sich das Johannesevangelium, indem es nicht – wie die Synoptiker – differenziert gegen einzelne jüdische Gruppierungen oder Führer polemisiert, sondern scheinbar ganz pauschal gegen die Juden. So haben die Juden nach Joh 8,44 „den Teufel zum Vater“, werden also – wenn man diese Stelle aus ihrem Zusammenhang reißt – auf eine Weise charakterisiert, die sich künftig verheerend auswirken sollte. Johannes meint damit freilich jene Juden, die Christus ablehnen, verfolgen und zu töten trachten, nicht aber die friedlichen und frommen Söhne und Töchter Israels.

In den nachfolgenden Generationen verschlechtert sich das Klima zwischen Juden und Christen noch mehr. So reklamieren die Christen bereits im frühen 2. Jahrhundert die Septuaginta (LXX), das in vorchristlicher Zeit von alexandrinischen Juden ins Griechische übersetzte Alte Testament, für sich und behaupten im Barnabasbrief, die Juden würden die rein geistig gemeinten Gesetzesvorschriften des Alten Testaments fleischlich missverstehen. Aus der Synagoge ausgestoßen, setzt man sich außerdem vom religiösen Brauchtum des Judentums ab, indem zu Beginn des 2. Jahrhunderts die syrisch-palästinische Didache die Fasttage keinesfalls mit den jüdischen zusammenfallen lässt und das althergebrachte Achtzehnbittengebet durch das mit sieben Bitten ausgestattete Vater unser ersetzt. Überhaupt wird der gegeneinander polemisierende Ton zunehmend schärfer, indem man die Juden z.B. pauschal als Heuchler oder als Denunzianten abqualifiziert.

Freilich begegnet im 3. Jahrhundert in der syrischen Didaskalia die Aufforderung, besonders in den Tagen des Pascha, während der Gedenkfeiern des Todes und der Auferstehung des Herrn, für die Juden zu beten. Auf dieser Linie bezeichnet die erneuerte Karfreitagsliturgie die Juden als das Volk, zu dem „Gott […] zuerst gesprochen hat. Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluß sie führen will.“

CHADWICK (wie S. 9) 17f. (Judenchristen).

DASSMANN, Ernst, Kirchengeschichte, Bd. 1 (= Kohlhammer Studienbücher Theologie 10) Stuttgart Berlin Köln 1991, 54-70 (Lösung der Kirche von der Synagoge).

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