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Die Schatten der Vergangenheit

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Es war ein scharfer Kontrast. Als der neue Papst in Rom auf die Loggia trat, saß ich mit meinen Hausgenossinnen – Studentinnen, die aus Situationen extremer Armut kommen – beim Mittagessen und verfolgte die Ereignisse im lokalen Fernsehen. Als der Kardinaldekan den Namen Bergoglio aussprach, erstarrte ich zur Salzsäule. Denen um mich herum sagte der Name zunächst nichts, doch als ihnen klar wurde, dass es sich um einen Lateinamerikaner handelt, erschallte euphorischer Jubel: im Esszimmer, aus dem Fernsehgerät, aus den Fenstern der Nachbarn – und es wurde um die Wette geböllert, ganz so, als ob die Nationalmannschaft gerade ein wichtiges Tor geschossen hätte.

Ich jedoch fühlte in diesem Augenblick alles bedroht, was ich mir vom Weg meiner Kirche in die Zukunft erhoffe und ersehne, gerade und vor allem die Vision einer „Kirche der Armen“, deren glaubwürdigste Repräsentanten für mich Oscar Romero und Ignacio Ellacuría sind. Denn das Einzige, was ich in diesem Moment mit dem Namen Bergoglio verband, war, dass er unter Verdacht stand, als Provinzial der Jesuiten in Argentinien seine eigenen Mitbrüder während der Zeit der brutalen Militärdiktatur verraten zu haben. Als junge Ordensfrau hatte ich bei Exerzitien von dem gehört, was die beiden Jesuiten Franz Jalics und Orlando Yorio durchgemacht hatten. Sie lebten als Seelsorger in einem Elendsviertel, wurden als Terroristen verdächtigt und haben die fünf Monate Folter, Haft und Todesangst nur durch das Jesus-Gebet überlebt. In mir weckte damals diese Erzählung die Sehnsucht, wie sie die Nähe zu Jesus in den Armen zu suchen – und sie konfrontierte mich damit, wohin konsequente Nachfolge führen kann. Der Name Bergoglio fiel in diesen Exerzitien nicht, ebenso wenig wie in dem Buch von Jalics,4 das mir ein Jahrzehnt danach half, mich wieder auf meine „erste Liebe“ zurückzubesinnen. Doch später hörte ich von argentinischen Freunden, dass mit der „Person“, von der Jalics schreibt, dass sie mit ihrem Leben spielte und es unterließ, sich für sie einzusetzen, sein damaliger Provinzial Jorge Mario Bergoglio, der spätere Erzbischof von Buenos Aires, gemeint war.

Wenn ich etwas von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie gelernt habe, dann dies: Die Opfer haben ein unbedingtes Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit. Sosehr der Ausruf des neuen Papstes bei seiner ersten Pressekonferenz „Ach, wie sehr möchte ich eine arme Kirche und eine Kirche für die Armen!“ mich faszinierte und Hoffnung in mir weckte, so unerträglich war für mich der Gedanke, dass dieses Programm mit einem solchen Schatten belastet sein könnte. Seitdem habe ich viel gelesen, von verbissenen Enthüllungsjournalisten und voreiligen Apologeten – und von glaubwürdigen Zeugen, die dennoch dieselben Ereignisse in ganz verschiedenen Versionen beschreiben. Klar wurde mir vor allem eines: Wie wenig aufgearbeitet die Zeit der Diktatur ist und wie offen die Wunden heute noch sind.

Aufatmen ließ mich schließlich das Zeugnis des argentinischen Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel. Ihn konnte ich als unbestechliche Autorität anerkennen, weil er selbst die Gräueltaten der Militärs, die insgesamt 30 000 Menschen „verschwinden“ ließen, mutig angeklagt hatte und deshalb durch die Hölle der Folter gegangen war. Seine knappe Aussage im Interview mit der BBC lautet: „Es gab Bischöfe, die Komplizen der Diktatur waren, Bergoglio nicht.“ Er fügt hinzu, dass Bergoglio, der in dieser Zeit noch gar kein Bischof war, vielleicht „der Mut fehlte, um sich in den schwierigen Momenten dem Kampf für die Menschenrechte anzuschließen“, doch „ein Komplize der Diktatur“ sei er nicht gewesen.5 Damit stimmt überein, wenn Franz Jalics heute sagt, dass ihm seit Ende der 1990er-Jahre in zahlreichen Gesprächen klargeworden sei, dass Orlando Yorio und er nicht von Bergoglio angezeigt wurden.6

Die Aussagen von Pérez Esquivel und Jalics machen für mich auch glaubwürdig, wie Bergoglio in seiner Autobiographie von 2010 die Dinge selbst sieht: „Ich habe getan, was ich konnte, um mich für die Entführten einzusetzen, mit dem Alter, das ich hatte, und den wenigen Verbindungen, auf die ich zählen konnte.“7 Bergoglio intervenierte persönlich beim Diktator Jorge Videla und bei Admiral Emilio Massera, dem führenden Vertreter des „schmutzigen Krieges“ – ein Vorgehen, das ihn ins Zwielicht brachte und ihm den Vorwurf der Nähe zur Junta eintrug. Die Liste derer, die angeben, dass ihnen Bergoglio damals entscheidend zum Überleben geholfen hat, wird immer länger,8 doch das, was mir wirklich hilft, diesem Papst zu vertrauen, ist, dass er sich selbst nicht zum Helden hochstilisiert. Er gesteht ein, dass er Fehler gemacht hat und dass sein autoritärer und schroffer Leitungsstil viele Probleme verursachte.9

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