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DAS BUSSSAKRAMENT ALS SEISMOGRAPH FÜR GESELLSCHAFTLICHE UND KIRCHLICHE ENTWICKLUNGEN
ОглавлениеDas Bußsakrament scheint also eine Art Seismograph für gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen darzustellen. Nicht nur löste seine mittelalterliche Praxis die reformatorischen Streitigkeiten aus, sondern diese legten die dahinterliegenden theologischen Themen ja erst wieder offen. So brauchte es eine Klärung, wie Gott angesichts der Sünde seine Gnade dem sündigen Menschen tatsächlich zukommen lassen konnte. Die Kontroversen der Reformation kristallisierten sich nicht ohne Grund an diesem theologischen Streitpunkt und seiner gängigen Praxis. Wie wenig die Lösungen, die das Konzil von Trient entschied, zufriedenstellend waren, zeigt die Notwendigkeit einer Neuzuordnung von Glauben und Wissen in der Aufklärung. Für das Bußsakrament wesentlich wurde die Moralisierung des Glaubens, mit dem die Themen verhandelt wurden, die als rationale Erkenntnisse des Glaubens bewahrt bleiben konnten. Die Frage also, wie der Mensch zu leben hat, wurden von der religiösen Frage auf die moralische transformiert. Damit kritisierte die Aufklärung diejenigen Glaubensinhalte, die als religiöse nicht mehr verständlich waren, und reformulierte jene, die das Verhalten des Subjekts betrafen. Die augenscheinliche Überschneidung der Motive, die sich in der Ethisierung und Moralisierung des einzelnen Subjekts finden (vgl. Vorgrimler 1978, 192f.), und die im Laufe des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde neuscholastische Theologie, die sich einerseits aufgrund der erdrutschartigen Anfragen und Erkenntnisse außertheologischer Wissenschaften in die Defensive gedrängt sah und andererseits mit dem Entstehen des Ordentlichen Lehramtes eine lehramtliche Fassung erlangte (vgl. Wolf 2010, 240; 248; 252; 257) und die bisherige Vielfalt katholischer Reflexion auf die Herausforderungen der Aufklärung beinahe beendete (vgl. Norbert Fischer 2004; Bader und Fischer 2005; Fischer 2012a und 2012b), stellen die Situation dar, in die hinein im 20. Jahrhundert nicht nur die lehramtlichen Dekrete wirken, sondern auch die liturgische Erneuerung und Forschung (vgl. Dallen 1986, 188: „The practice of devotional confession began to be questioned in German-speaking countries in the 1930s and came under strong criticism in the 1940s.“). Letztlich wird die Festlegung des Konzils von Trient auf die Privatbeichte als einzige von alters her praktizierte Bußform schlicht wissenschaftlich widerlegt und damit der Weg eröffnet, über neue Formen des Sakraments der Buße nachzudenken (so als erster: Xiberta 1922; als Überblick ebenso Dallen 1986, 186ff.).
Die liturgische Erneuerung legte damit ein Problem offen, das selbst zu Beginn des II. Vatikanischen Konzils für das Bußsakrament zu überraschenden Einsichten führen sollte: die sich verstetigende Konzentration auf den Sünder und seine Disposition vernachlässigte die kirchliche Dimension des Sakraments dermaßen, dass das Sakrament der Buße schlicht nicht mehr als Liturgie wahrgenommen wurde (vgl. Kaczynski 2009, 154). Somit konnten folglich auf dem II. Vatikanum zunächst auch keine liturgischen Reformideen eingebracht werden. Es wurde nur die Anweisung auf eine grundlegende Reform in die Liturgiekonstitution eingebracht (SC 72,1)! Das Bußsakrament war als Institut in einem Maße verrechtlicht, dass die eigentlichen Themen – so die Vergebungsproblematik – in den Hintergrund traten (vgl. Krämer 1998, 211). Mit diesem Verlust der Kirchlichkeit im Vollzug des Sakraments kann aber zugleich das Zueinander von der von Gott ermöglichten Umkehr, der Sündenvergebung durch das Sakrament und der notwendigen sakramentalen Handlung zur Sündenvergebung angesichts der Umkehr des Sünders nicht mehr gedacht werden.
Es zeigt sich, dass sich in dieser Unklarheit ein Konflikt verstetigt, der nicht nur perspektivisch im Ordo Paenitentiae von 1973 (vgl. Deutsches Liturgisches Institut 2008) weiter besteht, sondern seine Ursachen in den in der Scholastik auftretenden Disputen zwischen der Funktion der Reue angesichts der Absolution, sprich der Frage nach dem Zustandekommen des Sakraments, hat. Es scheint, als sei der Verlust der Kirchlichkeit mehr als nur ein äußeres Element, sondern die grundlegende Notwendigkeit angedeutet, das Bußsakrament als Einzelsakrament als kirchliches Handeln zu begründen.