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Erika Hinrichs Ein langer Prozess

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Es war Liebe auf den ersten Blick. Kennengelernt haben wir uns an der Uni, ich als Erstsemester und 20 Jahre jung, er als Student kurz vor dem Examen und fünf Jahre älter als ich. Wir waren sehr verliebt und ich glaubte, dass nichts mir etwas anhaben könne. Ich fühlte mich stark und sehr geborgen in seiner Gegenwart. Wir waren unzertrennlich und ein halbes Jahr später zogen wir zusammen. Matthias bereitete sich mittlerweile auf seine Prüfungen fürs Examen vor, ich lebte mich an der Universität ein und studierte.

Dann wurde ich unerwartet schwanger. Das Wort Abtreibung hing nur für einen kurzen Moment in der Luft und wir waren uns schnell einig, das Kind zu bekommen. Wir würden das schaffen, da waren wir uns sicher und einig. Wir heirateten, denn unser Kind sollte in der Sicherheit einer Familie aufwachsen und wir beide wollten sowieso zusammenbleiben, nichts könnte uns trennen. „Bis dass der Tod uns scheidet“, das war für uns keine leere Floskel und ich weiß noch, wie empört ich bei der Hochzeit meines Bruders war, als der Pfarrer in seiner Predigt auch das Thema Scheidung anschnitt.

Unser Sohn wurde geboren und Matthias begann sein Referendariat an einem Gymnasium. Ich versuchte, unseren kleinen Haushalt zu managen, studierte neben Kind, Haushalt und Ehemann und hatte immer öfter das Gefühl, dem allen nicht gerecht zu werden. War ich an der Uni, glaubte ich, ich müsse bei meinem Kind sein, war ich zuhause, plagte mich die Angst, mein Studium zu vernachlässigen. Matthias stand ebenso unter Druck, er war jetzt der Familienernährer mit einer ungewissen Zukunft, denn es gab keine Lehrerstellen. Zudem bereitete er sich auf das zweite Examen vor. Alltag und Routine hielten Einzug, wir verstanden uns aber immer noch sehr gut und waren auf einer Wellenlänge.

Eines Tages, unser Sohn war eineinhalb Jahre alt, eröffnete Matthias mir, er habe sich in eine andere Frau verliebt und das sei nicht nur ein Flirt, sondern Liebe. Für mich brach eine Welt zusammen, ich konnte das nicht glauben. Wie in Trance versuchte ich, meinen Alltag zu bewältigen, meinem Kind eine gute Mutter zu sein. Ich redete mit niemandem darüber, fraß meinen Kummer in mich hinein und heulte mir die Augen aus, wenn er abends gut gelaunt zu seinem Rendezvous eilte. Das Gefühl des eigenen Versagens, gepaart mit der Angst, ihn verlieren zu können, schlich sich in mein Herz. Gleichzeitig fühlte ich mich von ihm verraten, war wütend und nahm es ihm übel, dass er unsere kleine Familie so gering schätzte. Wir waren kein unschlagbares Team mehr. Aber ich hoffte, er würde zur Besinnung kommen und seine Affäre beenden. Das tat er aber nicht, sondern behauptete, mich und die andere Frau gleich zu lieben. Tief in mir ging etwas zu Bruch, aber ich dachte keinen Moment daran, ihn zu verlassen.

Nach einem halben Jahr bat ich ihn, sich zu entscheiden, sie oder ich. Nach einer quälend langen Bedenkzeit trennte er sich von ihr, nicht ohne mir zu sagen, dass er sich nicht entscheiden wollte und ich ihn gezwungen hätte zu etwas, hinter dem er nicht stehe. Notgedrungen bleibe er bei mir. Ab diesem Zeitpunkt fühlte ich mich als zweite Wahl. Immer wieder vermittelte er mir, dass er nicht hinter dieser Entscheidung stehe. Dass er das nur mir zuliebe getan habe.

Nun war er wieder bei mir und doch nicht, war wütend auf mich, wo ich hätte wütend auf ihn sein müssen. Er benahm sich wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. In der Zwischenzeit hatte er sein Referendariat abgeschlossen und fand in Nordrhein-Westfalen eine Angestelltenstelle als Lehrer. Wir zogen um, ich fühlte mich sehr einsam, hatte meinen Freundeskreis zurückgelassen und versuchte weiter, Kind, Haushalt, Studium und Eheleben unter einen Hut zu bekommen. Unausgesprochene Dinge hingen über uns wie ein Damoklesschwert, und wenn ich mit ihm reden wollte, bezeichnete er mich als nachtragend. Ganz schleichend blieb unser Eheleben auf der Strecke, etwas in mir blockierte. Ich hatte das Vertrauen verloren; das Gefühl des Geborgenseins und der emotionalen Sicherheit, das unsere Beziehung einst ausgezeichnet hatte, war verschwunden.

Matthias reagierte auf seine Weise, er stürzte sich in Arbeit, seine Freizeit verbrachte er ohne mich. Er hatte erneut eine Affäre, diesmal zog es mich schon nicht mehr runter, innerlich war ich wie tot und hatte einen Schutzwall um mein Herz gebaut. Ich funktionierte und fühlte eine große Leere.

Ich büffelte für mein Examen und absolvierte die Prüfungen. Unser Sohn war mittlerweile im Kindergarten und ich nahm eine befristete Stelle als Lehrerin an. Nun ging es uns zumindest finanziell besser. Ich war wieder schwanger, diesmal gewollt, und unsere Tochter kam zur Welt. Später behauptete Matthias, ich hätte ihn missbraucht, eigentlich hätte er ja kein Kind mehr gewollt. Als Matthias dann eine Stelle in der Rhön angeboten bekam, zogen wir wieder um. Nun lebten wir in einem winzigen Dorf. Matthias war der Familienernährer, seine Arbeit hatte Priorität und ich unterstützte ihn.

Er übernahm Arbeitsgemeinschaften und war an vielen Wochenenden im Jahr mit Schülern unterwegs. Ich kümmerte mich um Kinder und Haushalt und erwartete nichts. Als ich in einer Buchhandlung anfing zu arbeiten, hatte ich zum ersten Mal seit Jahren das Gefühl, aus meiner Schockstarre zu erwachen. Die Arbeit gefiel mir, ich war unter Menschen und fühlte mich nicht mehr so einsam. Unsere Ehe zeichnete sich durch Sprachlosigkeit aus, wir lebten nebeneinander her.

Matthias entwickelte Züge eines Workaholics, und so stellte er mich eines Tages vor die Tatsache, dass er sich wieder beworben habe auf die nächsthöhere Stelle.

Wieder zogen wir um, ich kündigte meine liebgewonnene Stelle. Er hatte über meinen Kopf hinweg entschieden, hatte nichts mit mir besprochen. Ich bat ihn, sich doch jetzt nicht mehr weiter zu bewerben, auch schon wegen der Kinder. Und dass ich ihn auch liebe, wenn er nicht die Karriereleiter erklimmt. Er versprach, dass dies der letzte Ortswechsel für uns sei.

Ich suchte mir eine neue Stelle, arbeitete wieder, und als der Betrieb mir anbot, noch nachträglich eine Ausbildung zu machen, war ich glücklich. Ein paar Jahre lebten wir so, arrangierten uns irgendwie. Matthias verbrachte seine Freizeit ohne uns. Ich fand mich damit ab, dass ich in seinem Leben auf der Rangliste unten stand, hatte die Hoffnung aber noch nicht aufgegeben, dass er mich doch noch wahrnehmen würde. Mit ihm reden war fast unmöglich, er blockte sofort alles ab. Es gab keine Zärtlichkeiten zwischen uns. Er lebte immer sein Leben, das ohne uns genauso aussah wie mit uns. Nichts würde sich ändern.

Am neuen Wohnort aber fühlte ich mich wohl, die Kinder und ich lebten uns gut ein. Wir waren nun schon 28 Jahre verheiratet, als Matthias mir eröffnete, dass er eine Stelle als Schulleiter annehmen würde. Das bedeutete einen erneuten Umzug, wieder sollte ich meine Stelle kündigen müssen, wieder hatte er mich nicht in seine Entscheidung miteinbezogen.

Endgültig brach eine Welt zusammen, ich weinte tagelang und trauerte um unser kleines Leben. Für die erste Zeit nahm Matthias sich eine kleine Wohnung am neuen Arbeitsort und wir führten eine Wochenendbeziehung. War ich am Anfang untröstlich und traurig, dass er weg war, merkte ich mit der Zeit, dass es mir guttat, alleine zu sein. Ich vermisste ihn immer weniger und die Wochenenden waren oft so angespannt, dass ich mich freute, in der Woche ohne ihn auszukommen.

In dieser Zeit reifte in mir die Erkenntnis, dass meine Ehe, so wie ich sie zu führen vor dem Altar versprochen hatte, am Ende war. Wie sollte ich ein Ehebündnis aufrechterhalten, das schon vor langer Zeit seine Grundlage verloren hatte, das nur noch ein einseitiges Versprechen war? Kann das wirklich verlangt werden und ist es wirklich im Sinne des Sakraments der Ehe? Man spricht theologisch hinsichtlich des Ehesakraments vom Treuebruch durch Scheidung und Aufgabe der Ehe, aber ist nicht viel wesentlicher, dass diesem Scheitern eine einseitige Kündigung der Vertragsgrundlagen innerhalb der Ehe vorausgegangen ist? Diese Gedanken beschäftigten mich zunehmend.

Nach einer Zeit waren wir es nicht mehr gewöhnt, längere Zeit zusammen zu sein, und bei einer Urlaubsreise kam es dann zum endgültigen Eklat. Wir waren 24 Stunden am Tag aneinandergekettet, was wir nicht mehr gewohnt waren. Es gab kein Zusammenspiel mehr, alles wirkte gezwungen, Freude darüber, Zeit füreinander zu haben, wollte nicht aufkommen. Wir spulten unser Urlaubsprogramm ab, waren zusammen und doch nie einsamer als in diesen Tagen.

Ich fühlte keine Nähe zu ihm, es gab keinen Draht zueinander, es gab auch nichts mehr zu sagen, wir waren uns fremd geworden. Er meinte, das sei gar nicht ich, die sich da trennen wollte, er kenne mich nicht mehr. Als er mir gestand, dass er ein paar Monate zuvor heimlich ein Treffen mit der Frau hatte, mit der er mich zu Anfang unserer Ehe betrogen hatte, ging bei mir innerlich der letzte Rest von Gefühlen zu Bruch. Er habe wissen wollen, „ob da noch was ist“. Das machte mir schmerzlich bewusst, wie sehr ihn das über all die Jahre beschäftigt hatte.

Wir wurden fast 30 Jahre nach unsrer Hochzeit geschieden. Ich bin Single, Matthias hat eine neue Partnerin gefunden. Keiner soll sagen, ich hätte es nicht versucht, es war eine Befreiung und für jeden von uns eine Chance für einen Neuanfang. Niemand heiratet mit dem Vorsatz, sich wieder zu trennen, aber es ist ein Gebot der Fairness und der Barmherzigkeit mit dem anderen, loszulassen, wenn der eingeschlagene Weg, die persönliche Entwicklung, nicht von beiden mitgetragen wird.

Für mich sehr schmerzlich war nicht nur das Scheitern meiner Ehe, sondern auch die damit verbundene Erkenntnis, dass ich nicht nur meine emotionale Heimat verloren hatte, sondern auch die Solidarität meiner Kirche. Denn wie soll ich Trost und Beistand auf jeder Ebene finden, wenn meine Kirche mir dies dadurch verweigert, dass ich an keinem Abendmahl mehr teilnehmen darf, dass ich von einer erneuten kirchlichen Heirat ausgeschlossen werde, dass mein persönlicher Karfreitag meine Kirche nicht interessiert? Ich hätte mich gerne wenigstens spirituell aufgehoben und geborgen gefühlt, ich verbinde mit einer lebendigen Kirche auch eine seelsorgliche Anteilnahme und Begleitung in Krisenzeiten, damit man wieder gestärkt und geläutert eine „Auferstehung“, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, als Neuanfang erleben kann. Ich denke, dass Gott einem nie näher ist als in Zeiten der Krise, des Scheiterns und der durchkreuzten Lebenswege. Das lehrt mich jedenfalls der gekreuzigte und wieder auferstandene Jesus.

Scheidung - Wiederheirat - von der Kirche verstoßen?

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