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Michael Heim: Reifen, Leisten, Leben – Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen
ОглавлениеMichael Heim * 1966, Dr. Ing., Coach, Berater, Systemischer Naturtherapeut, studierte in Aachen und Lyon Energie- und Verfahrenstechnik. Bis 2015 Bereichsleiter für Strategisches Produkt-Marketing bei Endress + Hauser. Seit 2016 selbstständiger Berater: www.nature-and-progress.de. |
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Reifen, Leisten, Leben – Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen
Um meine Erfahrungen mit Absolventinnen und Absolventen eines Studiums nach Inkrafttreten des Bologna-Prozesses und der daraus abgeleiteten Empfehlungen einordnen zu können, möchte ich zunächst meinen eigenen Werdegang offenlegen. Meine Bildungserfahrung ist recht typisch für einen naturwissenschaftlichen Akademiker, der in den 60er-Jahren in Deutschland geboren wurde. Sie ist geprägt von Erfahrungen auf einem humanistischen Gymnasium mit 1400 Schülern in sechszügigen Jahrgängen; von Erfahrungen auf einer Massenuniversität, an der allein im ersten Semester des Maschinenbau-Studiums knapp 1000 fast ausschließlich männliche Studenten sich einen klassischen, angesichts des aufkommenden digitalen Zeitalters teils schon veralteten Kanon einverleibten; von Eindrücken distanziert wirkender Professoren, von denen einige explizit bedauerten, dass es uns zum Medizinstudium ja offensichtlich nicht gereicht hat.
Aber sie ist auch geprägt von einer herzlichen und interessierten Institutsatmosphäre im Hauptstudium, von einem Erasmus-Programm, das mir in Frankreich eine andere, viel wertgeschätztere Art des Studiums ermöglichte. Und sie ist schließlich geprägt von der Abhängigkeit von einem patriarchalischen Doktorvater, der einen Touch großindustrieller Herrlichkeit in die beschaulichen Hallen des universitären Forschens brachte – im Gegenzug aber standesgemäß seine schützenden Hände über seine Zöglinge hielt und über Drittmittel erstaunliche Kontakte und Projekte umsetzte. Es liegt mir also fern, hinsichtlich unserer Bildungslandschaft von einer guten alten Zeit zu reden. Dennoch gibt es Aspekte des klassischen Studiums zum Diplomingenieur, die mir bewahrenswert erscheinen.
In meine Reflexionen fließen schließlich 20 Jahre industrielle Praxis ein – in den letzten acht Jahren aus der Perspektive des Verantwortlichen für das strategische Marketing an einem Standort eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmens mit rund 14 000 Mitarbeitern weltweit und einem Jahresumsatz von gut 2,5 Milliarden Euro. In diesem Unternehmen hat die Ausbildung einen hohen Stellenwert. Jedes Jahr stellt der von mir referenzierte Standort mit knapp 2000 Mitarbeitern 40 Lehrlinge ein, er unterstützt aktiv 50 Studenten auf unterschiedliche Weise in ihrem Studium und begleitet etwa 70 Bachelor- und Masterarbeiten.
Erfahrungen
Aus meiner Perspektive gibt es einige sehr deutliche Beobachtungen bei der Rekrutierung und Beschäftigung von Absolventinnen und Absolventen des Bologna-Systems.
•Die Bewerberinnen und Bewerber sind in der Regel sehr jung. Viele bewerben sich mit 21 oder 22 Jahren nach abgeschlossenem Studium auf eine erste Festanstellung. Das bedeutet in Deutschland eine drastische Verjüngung um etwa fünf Jahre gegenüber dem früher Üblichen. Dahinter stehen die Verkürzung der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre bis zum Abitur (Matur), der Wegfall von Wehr- oder Zivildienst und die Verkürzung der Regelstudienzeiten.
•Die persönliche Reife der Bewerber – kenntlich an der Fähigkeit zur kritischen Selbststeuerung, dem Umgang mit Hindernissen sowie einer reflektierten Wertebasis – wird in Bewerbungsgesprächen nicht immer offensichtlich und scheint oft auch nicht ausreichend gegeben.
•Bachelorabsolventen bringen oft kein ausreichend breites Methodenwissen mit, sodass in den ersten Jahren kein selbstständiges, ingenieurmäßiges Arbeiten möglich ist. Der Betreuungsaufwand für diese Absolventen ist dementsprechend hoch. Aus industrieller Sicht ist ein derartiges Nachreifen unrentabel und unerwünscht.
•Einige Absolventen wirken erstaunlich erfolgsverwöhnt. In Deutschland finden heute 55 Prozent der Schüler einen Platz im Gymnasium (vor 30 Jahren waren es nur rund 30 Prozent), und in vielen Hochschulen und Fachhochschulen werden Studenten heute – ganz anders als vor 30 Jahren – sehr behutsam behandelt. Es mag im Interesse der Hochschulen sein, im internationalen Ranking eine geringe Abbrecherquote auszuweisen. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist das aber sicher nicht der Königsweg.
•Erstaunlich viele Absolventen haben sehr hohe Erwartungen an eine schnelle Karriere. »Nach dem ersten erfolgreichen Projekt wird gerne nach Führungsverantwortung gefragt«, so ein Kollege auf meine Nachfrage nach seinen Erfahrungen in diesem Kontext. Angesichts der oben skizzierten Qualifikationen mag das nicht sehr realistisch sein.
Bei der Beurteilung der Studienabschlüsse findet sich die Industrie vor neue Herausforderungen gestellt.
Bedingt durch den Wettbewerb der Hochschulen untereinander ist das Curriculum an den verschiedenen Hochschulen sehr individuell, oft auch sehr ansprechend gestaltet. Die Anzahl der Studiengänge in Deutschland ist – so die statistischen Daten zu Studienangeboten der Hochschulrektorenkonferenz 2015, www.hrk.de – zwischen 2007 und 2015 von gut 11 000 auf 18 000 gestiegen.
•Diese Diversifikation macht es für Personaler, Ausbilder und Fachvorgesetzte manchmal sehr schwer, die Qualifikation der Bewerber einzuschätzen. Manche Studiengänge vermitteln hochspezialisierte Teilaspekte, deren Anwendbarkeit in der Praxis sehr fraglich ist, etwa wenn ein Studiengang statt auf Grundlagen der Informatik auf ein anwendungsorientiertes Webdesign im neusten Sprachenmix fokussiert.
•Eine Flut von Bewerbern mit Bestnoten lässt eine wohlwollende Notenvergabe vermuten.
Firmenspezifische Initiativen
Um diesen Schwachpunkten entgegenzuwirken und junge Studenten als künftige Mitarbeiter solide und passgenauer auszubilden, bietet unsere Unternehmung in enger Zusammenarbeit mit regionalen Hochschulen zwei Studiengänge an.
•Mit einer dualen Hochschule wird ein Bachelor in Maschinenbau, Wirtschaftsingenieurwesen und Elektrotechnik angeboten. Die Studierenden arbeiten alternierend drei Monate im Unternehmen und in der Hochschule.
•Mit anderen Hochschulen wird ein Studium Plus mit integrierter Fachausbildung angeboten. Es ermöglicht eine kompakte Ausbildung zum Elektroniker in der Unternehmung, ein praxisorientiertes Studium der Elektrotechnik, Informatik, Informationstechnik oder Sensorik sowie einen Auslandsaufenthalt in internationalen Dependancen, durchgängig mit finanzieller Unterstützung des Unternehmens.
Diese Initiativen halte ich für sinnvoll, insofern sie einen frühen Praxisbezug und eine soziale Integration begünstigen. Hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung hoffe ich allerdings, dass diese Absolventen sich nicht zu einer lebenslangen Anstellung in nur einem Unternehmen verführen lassen, da ansonsten der Blick für die Vielfalt der Organisationsformen und des Lebens generell zu sehr eingeschränkt wird.
Impulse zur Entwicklung künftiger Führungskräfte
Fredmund Malik (2000) hat in seinem bekannten Klassiker »Führen, Leisten, Leben« sehr klar beschrieben, wie gute Führung komplexer Systeme gelingen kann – und was es braucht, um Selbstorganisation, Selbstregulation und Evolution von solchen Systemen zu unterstützen. Mit seinem Führungsrad gibt er eine übersichtliche Gliederung der notwendigen Kompetenzen.
•Die Fachkompetenz im Sachgebiet setzt er explizit als selbstverständlich voraus. Indes ist sie bei Bachelorabsolventen nicht immer gegeben.
•Die Aufgaben und Werkzeuge der guten Führung stuft er als in der Praxis erlernbare Fähigkeiten ein.
•Die Grundsätze guter Führung – also die innere Haltung der Führungskraft – und die Verantwortung, die Ethik des Führens sieht er als die kritischen Schlüsselkompetenzen. Für sie sind Lebenserfahrung, innere Klarheit und aktive Entschiedenheit unabdingbar. Leider geht Malik in seinem Buch nicht auf die Frage ein, wie diese Haltungen gewonnen werden kann.
Hier knüpfen meine eigenen Überlegungen an. Wie kommt es zur Reifung der Persönlichkeit, und wie können Studium und Arbeit sie unterstützen? Können Zahlen, Daten und Fakten, können neueste Techniken, Methoden und äußere Strukturen den alleinigen Ausschlag geben? Wohl kaum. Es ist vielmehr der kontinuierliche innere Prozess eines zunehmenden Weltbezugs, der die eigene Identität finden lässt und die persönliche Reifung voranbringt. Dieser Prozess beginnt – nicht: endet – in den allermeisten Fällen erst mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter. Hierzu möchte ich eine Analogie aus der Welt des Handwerks anbieten.
•Der Lehrling hat seine Aufgaben unter Anleitung vollständig, handwerklich gut und fachlich richtig zu lösen. Er beantwortet Fragen in ihrem bekannten Kontext.
•Der Geselle ist mit der Herausforderung konfrontiert, selbstständig zu arbeiten – und gegebenenfalls gute Fragen zu stellen. Ab und an geht er über den bekannten Kontext hinaus. In den klassischen Zünften verwirklichten die Jahre der Walz dies eindrücklich. Das Verlassen der heimatlichen Welt führte zu neuen Meistern, in andere Techniken und Umgangsformen. Vom Selbstbezug zum zunehmenden Weltbezug!
•Der Meister hat Gesellen und Lehrlinge anzuleiten – und seine Unternehmung in der Welt zu vertreten, zu leiten und zu entwickeln. Er muss in der Lage sein, neue Fragen zu finden, will er sein Geschäft langfristig erfolgreich führen.
Die handwerkliche Analogie zeigt ein Wachstum der inneren Weite in der jeweils größeren Verantwortung. Die individuelle Reifung ereignet sich in aktiver Auseinandersetzung mit der größer werdenden Welt – ein Leben lang! Der zunehmende Weltbezug erweitert den Kontext der eigenen Identität und der eigenen Interessen.
Vergleichen wir die Lehrzeit bis zum Gesellenbrief mit dem Bachelorstudium und das Reifen des Gesellen bis zur Meisterprüfung mit dem Masterstudium, so wird deutlich, dass das Bologna-System die Anforderungen unzulässig verschoben hat. Aufgrund des zeitlich und inhaltlich allzu straffen Curriculums ist der Bachelor nicht in der Lage, sein Fachgebiet selbstständig zu vertreten. Zudem fehlt ihm für die Erlangung der Reife eines Gesellen die Zeit des eigenständigen Praktizierens. Im Diplomstudium waren zwei Studienarbeiten mit selbstständiger Arbeit Pflicht, in der Regel brauchten Studenten je drei volle Monate für Einarbeitung in die Aufgabe und ihre Erfüllung. Aus Sicht der Unternehmer, der industriellen Empfänger der Ausgebildeten, ist beim Bachelor daher erheblicher Korrekturbedarf gegeben.
Auch der Master erfüllt nach unseren Erfahrungen selten die Anforderung, selbstständig arbeiten oder gar führen zu können. In der industriellen Praxis ist oft ein erheblich gestiegener Betreuungsaufwand während der ersten zwei Jahre nach Eintritt in die Unternehmung zu verzeichnen.
Schließlich der Aspekt des Weltbezugs: Angesichts des sehr verschulten und behüteten universitären Alltags ist die Frage zu stellen: Wo und wie findet eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt heute ernsthaft statt? Sehr viele heutige Führungskräfte haben diese Auseinandersetzung vor 30 Jahren parallel zu ihrem Studium gefunden, etwa in ehrenamtlichen Aufgaben, die einen erweiterten Weltbezug gaben. Nicht selten hat man den Eindruck, dass Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer – denen MINT-Vertreter gern herablassend begegnen – einen anderen, weiteren Zugang zur Weltwirklichkeit mitbringen. Reifung braucht Zeit, und Leben kann man nur im Leben lernen, das sich gerade auch außerhalb behüteter Räume zeigt.
Thesen
Abschließend möchte ich folgende Thesen aufstellen:
•Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit – effizientes Lernen ist hierfür kein ausreichender Maßstab, Freiräume müssen für die Studenten möglich sein.
•Persönlichkeitsentwicklung braucht Vorbilder – Menschen, die wir in der direkten Auseinandersetzung erleben. Menschen, die vorleben, wie man aus einer Haltung der inneren Freiheit heraus handeln und leben kann. Der fortschreitenden Digitalisierung und Virtualisierung unserer Ausbildung sollten unter diesem Aspekt Grenzen gesetzt werden.
•Persönlichkeitsentwicklung braucht soziale Interaktion mit der Welt – zum Beispiel über ehrenamtliches Engagement, Reisen, physische – nicht virtuelle, rein kognitive – Kontakte mit der Natur und mit Menschen.
•Persönlichkeitsentwicklung braucht Konfrontation mit Diversität. Heute mehr denn je sollten Studenten – und Lehrende! – interkulturelle Kompetenzen erlangen. Sie setzen eine entwickelte Selbstreflexion voraus. Reifung ist mehr als Schulung und Perfektionierung der kognitiven Kompetenz!
Albert Einstein sagte treffend: »Die Schule sollte stets danach trachten, dass der junge Mensch sie als harmonische Persönlichkeit verlässt, nicht als Spezialist!«