Читать книгу Welche Bildung braucht die Wirtschaft? - Группа авторов - Страница 8

Thomas Sattelberger: Bildung neu denken – Kreation und Transformation statt Ökonomisierung und Anpassung

Оглавление
Thomas Sattelberger * 1949, gehört zu den führenden Personalmanagern Deutschlands. Er begann seine Karriere bei Daimler Benz. 1994 wechselte er zur Lufthansa. Dort gründete er mit der Lufthansa School of Business die erste Corporate University in Deutschland; 1999 wurde er Vorstand Passagiergeschäft. 2003 wurde er Personalvorstand beim Automobilzulieferer Continental, 2007–2012 nahm er dieselbe Position bei der Deutschen Telekom ein. Dort führte er u. a. eine Frauenquote von 30 Prozent im gesamten Führungsteam ein. Sattelberger ist vielfältig engagiert, u. a. als Vorstandsvorsitzender der BDA-/BDI-Initiative MINT Zukunft schaffen. Er kandidiert für die FDP für den Deutschen Bundestag.

Bildung neu denken – Kreation und Transformation statt Ökonomisierung und Anpassung

> Interview: Thomas Philipp, Marielle Hofer

Thomas Sattelberger, seit 40 Jahren sind Sie im Personal- und Bildungswesen tätig und gestalten es in führenden Positionen mit. Wo stehen wir heute?

In einer ganzen Reihe von Paradigmenwechseln! Was das Thema Demokratie betrifft. Das Thema Migration. Und den Übergang von der Industrie- in die Wissens- und Kreationsgesellschaft. In der Wirtschaft wissen heute viele, dass Kreation angesagt ist, wir aber noch in Strukturen leben, die Effizienz optimieren. In den einzelnen Zellen des Gefängnisses ist das Wissen da, aber das System wird noch nicht geöffnet. Eine schwierige Lage, weil man jetzt beide Systeme nebeneinander fahren müsste! Man kann nicht abrupt umschalten, sondern muss – was man Kannibalisierung nennt – aus den alten Systemen noch die Renditen erwirtschaften, um in unbekanntem, neuem Terrain zu investieren. Ohne zu wissen, ob das erfolgreich sein wird.

Entsprechend sieht es im Bildungssystem aus. Es war überfällig, es mit Effizienzkriterien zu konfrontieren. Wie lang braucht man für eine Ausbildung? Wie lang darf man studieren? Kann man die Schule verkürzen? Kann man Inhalte effizienter aneinanderketten? Kann man Prüfungsleistungen vergleichen und optimieren? Die Industrie hat diese Fragen schon in den 90er-Jahren gestellt, während sich die Bildungspolitik damals in Deutschland und auch in der Schweiz ganz aus internationalen Bewertungen zurückzog, ohne zu merken, dass sie nur noch Überzeugungstäterdebatten führte. PISA schallte als Weck- und Alarmruf der Effizienz durch Europa; die Skandinavier und einige Asiaten hatten mit Sieben-Meilen-Stiefeln ein effizientes Bildungssystem aufgebaut. Wir nicht!

Von der Effizienz zur Kreation

Wie so oft wurde daraus ein Übermaß; das Pendel schwang viel zu weit aus. Denn am Horizont deutete sich schon an, dass sich das Zeitalter der industriellen Massenproduktion und der industrialisierten Bildung dem Ende entgegenneigt. Ich sage das nicht, um anzuklagen, sondern einfach historisch: So ist es gelaufen. So wie die Wirtschaft Räume braucht, wo sie noch ihre Margen erwirtschaftet, um in unbekannten Terrains zu innovieren, muss die Hochschule in den Räumen der Effizienz Wissen reproduzieren, aber deutlich weniger als bisher, und schnell viel mehr Räume für Kreation öffnen.

Ich habe mit Interesse gesehen, dass die deutsche Kultusministerkonferenz (2016) eine Reform der Reform ankündigt: Im ersten Jahr sollen nicht alle Noten für den Bachelorabschluss zählen, der Druck auf die Studiendauer wird etwas zurückgenommen, die Prüfungsordnung leicht enttaktet. Es ist nur eine Absichtserklärung, und wahrscheinlich wird es sehr lang dauern. Ein erstes zartes Pflänzchen.

Ob die Kultusminister die Zeichen der Zeit erkannt haben? Wir brauchen keine apolitischen Absolventen, die nur auf Job und Sicherheit schauen, ohne den Kontext, in dem sie arbeiten, reflektieren zu können. Wir haben eine Generation von Anpassern produziert. Der Studierendensurvey (2012/13) des deutschen Bildungsministeriums zeigt, dass sich nur noch eine Minderheit der deutschen Studierenden politisch interessiert. Die meisten sehen ihre Zukunft im öffentlichen Dienst oder im Großkonzern (vgl. S. 202). Das zeigt etwas! Sodass ich jetzt hoffe – Absichtserklärungen sind ja immer Hoffnungen –, dass das Pendel ein kräftiges Stück zurückschwingt. Sodass aus der Kultur der Maschine – man kann auch die Universität wie eine Maschine betreiben – in großen Bereichen wieder eine Kultur der Kreation entsteht. Aus einer Kultur purer Reproduktion von Wissen, zu der die Bologna-Reform verkommen ist, soll auch wieder eine Kultur der Neuschöpfung und Neukombination von Wissen werden!

Wie geraten Effizienzdenken und Kreation denn in Widerspruch?

Die wirkliche Frage ist, ob ich in der Steuerung einer Universität oder eines Unternehmens beide Logiken vereinen kann. Das fordert Ambidextrie, Beidhändigkeit. Mit der linken Hand so gut sein wie mit der rechten. Innovation ermöglichen und Margen reinbringen. Die meisten Unternehmensführer – Frauen gibt es ja ganz wenige – tun sich extrem schwer, in der Phase des Übergangs zwei Welten zu schaffen. Sie sind ja in alten Routinen ausgebildet worden und haben mit ihnen ihre Erfolge gezeitigt. Das gilt auch für Hochschulrektoren und Dekane, die 15 Jahre Effizienz gestaltet haben. Können Menschen des alten Systems es öffnen und erneuern? Das ist die größte Schwierigkeit. Den Studierenden gelingt dieses Um- und Verlernen schneller.

Das Problem liegt also nicht so sehr in der Sache als in der Bildung, in der Formung einer Generation von Verantwortlichen?

So ist es. Wie können Manager, vor 30 Jahren für die Effizienzmaschinen des 20. Jahrhunderts ausgebildet, oft in Unternehmen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, eine neue Ära einläuten? Das Gleiche gilt für Hochschulrektoren. An der Universität hängen wenige Experimente häufig an wenigen fortschrittlichen Professoren oder Dekanen. Mit deren Pensionierung sind selbst diese zu Ende. Ein Subsystem bleibt abhängig vom Gesamtsystem; nachhaltig ist nur ein Wandel des Gesamtsystems. Deshalb ist die Schlüsselfrage: Wie schaffen wir die institutionelle Weiterentwicklung des Gesamtsystems? Da gibt es zwei Wege. Der eine besteht sozusagen in einer Reevangelisierung der gesamten Universitäten mit alt-neuem Geist. Solche Kulturreformen sind mühselig, Systeme sind ja so träge!

Ich staune, dass Sie das religiöse Wort verwenden! Was verstehen Sie unter Evangelisierung?

Ich kann auch humanistische Aufklärung sagen. Bewusstsein verändern, mit Hegel: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Der zweite Weg liegt in einer neuen Struktur, eher marxistisch: Neues Sein ermöglicht neues Bewusstsein. Wahrscheinlich ist beides wahr.

Heute teilen sich manche Firmen. Das alte Geschäft – etwa alte Energien und zentrale Energieversorgung – wird in der alten Struktur unter Effizienzgesichtspunkten weitergeführt; das neue Geschäft – etwa regenerative Energien und dezentrales Energiemanagement – tritt in einer eigenen Struktur daneben; verzahnt, aber eigenständig. An der TU München bin ich Schirmherr des MakerSpace: 2000 Quadratmeter modernster Technologie, teure große und kleine Geräte, etwa 3D-Drucker. Mit einer neuen Lernphilosophie: Die Studierenden überlegen selbst, was sie machen möchten, und probieren es aus. Warum hat die TU den MakerSpace nach Garching ausgelagert, als eigenes Institut?

Um dem Neuen Raum zu geben?

Ja! In der Hoffnung, dass das alte Immunsystem es so nicht abstößt. Mit dem Risiko, dass das Neue sich nie richtig verzahnt mit dem Alten. Wähle ich also einen evangelisierenden, humanistischen Ansatz der Veränderung, wie eine Graswurzelbewegung, bottom-up, oder top-down einen strukturpolitischen Ansatz? Oder ein Hybrid?

Thomas Kuhn meinte, dass sich ein neues Paradigma in der Wissenschaft erst dann durchsetze, wenn die Alten gestorben seien. Da war er pessimistisch …

Auch Max Planck hat gesagt: Fortschritt der Wissenschaft bewegt sich nur über den Tod des Alten … Wahrscheinlich sollen wir beide Ansätze mischen. Einerseits Evangelisierung, mit neuem, wirklich bekehrtem Personal an der Spitze. Pfingst­erlebnisse gibt es ja immer noch. Dass Saulus zum Paulus wird, ist möglich! Daneben brauchen wir strukturell separierte Experimentierräume, die zeigen können, dass das Neue blüht und gedeiht. Nicht bloß kleine Höhlen oder unterirdische Gänge, die ein fortschrittlicher Professor anlegt und hofft … Ich habe zu viele isolierte Reformanstrengungen an Schulen und Hochschulen erlebt, um noch zu glauben, dass das der erfolgreiche Weg sei. Den Leuchttürmen drehen die Menschen meistens den Rücken zu. Also braucht man neue Führung.

Die Wahl eines neuen Universitätsrektors bedeutet meist einen Machtkampf. Die einen verbinden Macht mit Erhaltung des Status quo, die anderen verbinden Macht mit Reform. Die dritten verbinden Macht mit Macht. Schaffen es da die fortschrittlichen Kräfte, eine Koalition zu bilden, sodass die Spitze Reformen in die richtige Richtung dirigiert, in diskursivem Prozess mit den Stakeholdern? Ich sehe Rektoren nicht als Heroen, es geht um stakeholderbasierte Diskursprozesse.

Ein guter Freund hat das an der Universität Innsbruck lange Jahre versucht. Ich kenne die Wunden, die das hinterlässt. Sie müssen alte Mächte ablösen und einen Teil der Organisation evangelisieren. Und Sie müssen Sorge tragen, dass neue Strukturen das Neue schützen. Vor dem Alten! Im Dreiklang – alte Struktur, Kulturwandel und Parallelstruktur – kann sich die Institution nach vorn bewegen. Auch die Universität, die durch Ordinarienstruktur und Silo-Disziplinen träge ist. Bis die Human- in die Ingenieurwissenschaften einfließen, gehen in den deutschsprachigen Ländern noch 20 Jahre ins Land! Oder bevor die Technologie in die Humanwissenschaften einfließt oder die Sozialwissenschaften in die Ökonomie. Wir brauchen eine Aufweichung der Ordinarienstruktur und der Disziplinen, um nicht überall vor Gefängniszellen zu stehen und zu sagen: Da müssen wir ausmisten!

Leider haben wir nicht so viel Zeit, wie Thomas Kuhn einem Paradigmenwechsel gab. Viele Unternehmen haben extremen Bedarf, Kreativität zu gewinnen und unkreative Räume zu tilgen. Wie schnell wächst China heran, in unserem alten System, im Maschinenhaus! Wie schnell enteilen uns die USA, wirtschaftlich und digital! Wir können es uns nicht leisten, für die teilweise Rückabwicklung der Bologna-Reform so lang zu brauchen wie für ihre Einführung. Es muss schneller gehen.

Im Mittelpunkt Ihrer These steht die Kreation. Was genau verstehen Sie darunter? Kann es davon auch zu viel geben?

Wo es wenig Raum für Kreativität gibt, diskutiere ich ungern schon über Grenzen. Leben lassen, bevor ich eingrenze und normiere! Veränderung fängt in grauen, schmutzigen, manchmal chaotischen Räumen an. Wer gleich mit Angst herangeht und fragt, wie er das Überflüssige begrenzen kann, macht zarte Pflänzchen kaputt. Heute geht es darum zu ermöglichen, dass das Individuum wieder sucht, reflektiert und analysiert. Und urteilt! Was ein Mensch dann kreiert, ist gar nicht so wichtig. Es kommt darauf an, Räume zu schaffen, in denen Menschen verantwortlich Dinge untersuchen, bewerten und zu einer Entscheidung kommen, die zum Handeln befähigt. Also erstens wecken. Dann fördern: Hochschulen sollen Financiers der Interessenlagen, Motivationen und Leidenschaften ihrer Studierenden werden! Wenn sich nur wenige für frühmittelalterliche Literatur interessieren, soll man kein Streichen des Angebots diskutieren, sondern digitale Lernformen, verbunden mit anderen Universitäten, die ermöglichen, dass jemand dieser Leidenschaft frönen kann! Oder: Wie kann ich der Leidenschaft eines Ökonomen entgegenkommen, schon in den ersten Semestern empirisch zu forschen? Sodass schon früh der iterative Prozess von Theorie, Praxis, Evaluierung, Theorie, Praxis, Evaluierung … stattfindet. Die Universität muss individueller werden.

Führen hieße dann Kreation fördern: »Wie kann ich ermöglichen?«

Wie kann ich ermöglichen, ja. Wie kann ich Rahmen geben, dass? Wie kann ich Infrastruktur geben, dass? Die Aufgabe der Individualisierung stellt sich auch der Wirtschaft. Die Potenziale der Kreation jedes Menschen sind ja ganz anders, ganz einzigartig. Wenn ich alles nach DIN A4 abarbeite, fallen nicht nur die Leute raus mit IQ 140 – über die intensiv diskutiert wird –, sondern auch jene mit anderen Begabungen und anderem Potenzial. Das betrifft auch das Verhältnis von Hand- und Kopfarbeit. Ich habe Vorlesungen gesehen, in denen auch handwerklich gelernt wurde. Wo Studierende Brücken bastelten: immer zu dritt, über die Reihen hinweg – und damit selber experimentieren. Wie kann ich an Potenzialen, Begabungen, individuellen Leidenschaften ansetzen? Ein zentrales Thema! Das verlangt Räume, in denen ein Mensch sich entfalten kann. Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Normierungen, die jeder können muss. Rechnen, Schreiben, Lesen in der Schule und neu das digitale Coding, die Grundlagen des Programmierens, sind unverzichtbare Kulturtechniken, die wir effizient vermitteln müssen.

Wollen sich Menschen überhaupt zu mehr Kreation und Transformation führen lassen? Sind sie nicht ganz zufrieden, wenn man ihnen sagt: »Das ist das Nächste, und dann das, und dann ist gut, dann bekommst du deine Anerkennung«?

Ist auch in Ordnung! Wir finden vielerorts Menschen, die sagen: Ich finde den Status quo gut. Dann soll die Hochschule ihnen den Status quo ermöglichen. Die Frage heißt: Ermöglicht die Kultur und Struktur der Hochschule Vielfalt – oder normiert sie Einfalt? Die gleiche Diskussion über das Ausdifferenzieren, das Managen von Vielfalt, das Ermöglichen von Potenzialentfaltung beschäftigt die Pädagogik an den Schulen. Das Thema setzt sich in den Betrieben fort. Interessanterweise kreieren Firmen, die sich eher der Avantgarde zurechnen, Aufgaben um den Menschen herum. Sie verzichten auf Aufgabenbeschreibungen, in die der Mensch hineinzupassen hat. Eine ganz andere Form der Talentpolitik! Organisation ad rem oder ad personam? Menschenbeglückung oder die Option der Freiheit?

Also niemand zur Kreation nötigen?

Nein, ganz und gar nicht.

Ein ethischer Fortschritt?

Wer auf Kreation setzt, muss dezentraler führen. Fördert dieser Führungsstil moralisches Handeln stärker als die zentralistische Kontrolle des Effizienzmodells?

Dezentrale Strukturen erzwingen größere Verantwortung nicht, aber ermöglichen sie. Und mit Sicherheit schaffen sie mehr Transparenz. Die Organisationsforschung spricht hier von loosely coupled systems …

Lose vernetzte Systeme – das hatten Sie bei Continental …

Ja. Über diese Fragen habe ich sehr viel nachgedacht. Effizienzorientierung fragt immer nach internen Synergien, nach der Standardisierung interner Prozesse. Wie können wir siebzehn verschiedene Marken von VW auf eine gleiche Plattform stellen, um effizienter zu produzieren? Zentralismus und Synergie. Aber nur interne Synergie! Nicht Synergie beim Kunden, beim Partner, beim Lieferanten, auf den Märkten draußen! Dann beglücke ich die Menschen draußen eher mit Einfalt als mit Vielfalt. Die Synergiediskussion der letzten zehn Jahre hat interne Abläufe fokussiert: mit geringeren Ressourcen das Gleiche erreichen oder mit gleichen Ressourcen mehr. Der Blick für die Motivationen der handelnden Akteure, der Stakeholder, ging verloren. Das hat dazu beigetragen, dass Unternehmen autistisch geworden sind. In meinem Berufsleben habe ich unterschiedlichste Strukturen erlebt. Im Rückblick wird mir bewusst, dass die beste die bei Conti war. Extreme Dezentralisierung, extreme unternehmerische Verantwortung. Jeder musste ein Ergebnis bringen, das diskussionsfähig war – Antwortfähigkeit nannten wir das. Die Freiheit, über das Was zu entscheiden und nicht nur über das Wie, war außerordentlich hoch. Eine dezentrale Struktur gibt ganz andere Möglichkeiten zu experimentieren. In monolithischen Strukturen kommt gleich die Frage: Ja, was passiert denn da links nebenan? Das will ich auch haben! Oder: Das darf nicht sein! In dezentralen Strukturen können Sie eigene Logiken entwickeln. Und die Ansteckungsgefahr ist geringer, wenn ein Subsystem erkrankt. Dem steht als Nachteil gegenüber, dass die Fliehkräfte sehr stark werden. Nichts ist ohne Schatten. Deshalb hat Google begonnen, die Geschäfte aufzuteilen und sich als kleine Holding darüber organisiert. Weil monolithische Strukturen zwar Effizienzen steigern können, aber die Risiken der Normierung zu hoch sind. In der jetzigen Phase ist die beste der schlechten Organisationsformen die Dezentralität, das loosely coupled network.

Macht diese Organisationsform die Welt besser?

Ich glaube schon: weil Verantwortung und Rechenschaft transparenter werden. Die einzelnen Teile sind ja keine atomistischen Gebilde. Es gibt darüber ein Dach, es gibt einen code of conduct. Ein loosely coupled network hat meist ein ausgeprägtes Wertesystem: Wenn nicht die Struktur zusammenhält, muss es die Ideologie tun. Jeder wird gefragt: Was hast du aus dem dir Anvertrauten gemacht? In synergiesuchenden Systemen finden Sie extreme Abstimmungsrituale. Die Handlungsfähigkeit des einzelnen Akteurs ist außerordentlich beschränkt, sodass er massiv mit Koalitionen arbeiten muss. Aber Verantwortung? Danken, wenn es gut gelaufen ist? Jemand zur Rechenschaft ziehen, wenn Mist gebaut worden ist? Das ist in solchen Systemen gar nicht mehr möglich, weil das System mit seinen Ritualen und Routinen verantwortlich ist!

Die katholische Kirche veranstaltet alle paar Jahre eine Synode, die Richtungsänderungen diskutiert oder an Grundfragen weiterarbeitet. Eine ganz andere Form von Abstimmung, über Metathemen! Natürlich gibt es Situationen, wo die Zentralgewalt reagieren muss, nehmen wir die Verbrechen vieler Priester an Kindern. Da hat die Selbstverantwortung der Subsysteme nicht funktioniert. Die Zentrale hat die Möglichkeit, selektiv einzugreifen, wenn Werte verletzt werden. Ich bin Ex-Katholik. Als Ex ist man ja immer sehr bewusst und schaut sich das an … ohne loosely coupled system hätte die Kirche sich nie so ausgebreitet.

Ja, wir Katholiken haben das Modell der Einheit in Vielheit. Seit Jahrhunderten diskutieren wir über Inkulturation, immer wieder: in China, in Afrika. Die faktischen Lösungen sind oft erstaunlich offen.

Die meisten Organisationen diskutieren die Vielfalt in der Einheit. Klüger wäre vermutlich, über Einheit in der Vielfalt zu diskutieren. Diese Einheit muss sehr präzise ausgearbeitet werden, sie ist ja der kleinste gemeinsame Nenner, der alle zusammenhält. Eine konföderative Struktur. Konföderativ ist schöner als dezentral. Sie entspricht dem Trend zur Netzwerkorganisation in der Wirtschaft.

Was heißt das für die Universität? Soll sie eine konföderative Struktur entwickeln? Hat sie sie vielleicht, ist aber verkalkt? Braucht es eine Phase eines starken Präsidenten, der mit einer Koalition von Veränderern das System wieder öffnet? Einen Gorbatschow für die Universität? Eigentlich sind Universitäten durch ihre Gliederung und ihre hohen Freiheitsgrade Konföderationen. Das hat zu extremer Langsamkeit der Veränderung beigetragen, wie in der Kirche. Darin liegt ein Wert. Oder ein Problem: wenn es den Diskurs abtötet. Solange der Diskurs lebt, lebt auch die Möglichkeit der internen Erneuerung: der humanistische Weg, die Evangelisierung … Aber ich habe mehr als eine sklerotisch erstarrte Hochschule erlebt. Einmal habe ich ein Konsortium von vierzehn Firmen gewonnen, die der Universität Hannover vorschlugen, für gestandene Ingenieure ein berufsbegleitendes Masterstudium Kunststoff- und Kautschuktechnologie einzurichten. Das Thema wurde drei Jahre lang zerhackt zwischen den Dekanaten Chemie, Maschinenbau und Elektrotechnik. Und scheiterte. Ich kann Ihnen Dutzende Geschichten erzählen von begeisternden Ideen, die in sklerotischen Strukturen zerbrachen. Schauen Sie, wie lange es gedauert hat, Mechatronik als Lehrberuf zu etablieren! Heute bräuchten wir dringend eine Synthese aus Informatik und Maschinenbau. Da gibt es eine enorme Unfähigkeit zur Reform.

In Amerika diskutiert man heute, wie die Technikwissenschaften Humanwissenschaften einbeziehen könnten. In Deutschland nicht: kein Erkenntnis-, sondern ein Machtproblem! Wo konföderative Universitätsstrukturen gut und organisch funktionieren, sollen wir sie pflegen. Aber wenn Fliehkräfte und autistische Silos zu stark werden, braucht es Gegensteuerung.

Ethik und Management: Können Sie uns ein Beispiel nennen, wie Sie in Ihrer beruflichen Praxis moralisches Handeln im Unternehmen gefördert haben?

Ich erinnere mich noch gut. Ich habe 1994 meiner geliebten Daimler Benz AG wegen des damaligen DASA-Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp gekündigt und ging zur Lufthansa. Sie steckte damals voll im Privatisierungsprozess – mit allen Chancen und Risiken. Mein dortiger Chef, Dr. Heiko Lange, und ich haben das berühmte magische Dreieck geschaffen, das es bei der Lufthansa immer noch gibt. Heute ein triviales Thema, aber 1994, als der Börsenkapitalismus nach Deutschland kam, eine Revolution. Wir sagten: Unser Unternehmen soll dem Kunden, dem Mitarbeiter und dem Aktionär dienen. Exakt in dieser Reihenfolge. Das magische Dreieck! Wir haben einen Kreis außen herum gemacht – die Gesellschaft – und es im Vorstand vorgestellt. Es hat nachhaltig gewirkt, nach 9/11 zum Beispiel. Als einzige Airline der Welt haben wir damals auf Massenkündigungen verzichtet. Nach der Krise wollten wir diejenigen sein, die dem Kunden wieder möglichst angenehmen und reibungslosen Service bieten. Wir dachten in dem Dreieck, schützten unsere service professionals und hielten sie an Bord, um auf sie zählen zu können, wenn der Kunde sie brauchen würde. Für den Shareholder nahmen wir den Einbruch des Ertrags kurzfristig in Kauf. Man kann in so einem Dreieck denken und handeln!

Nach dem Datenschutzskandal bei der Telekom[3] – ich war damals etwa ein Jahr da – saßen wir abends zusammen und diskutierten die Wucht des Skandals. Wie sollten wir damit umgehen? Da habe ich zu meinem Vorstandsvorsitzenden, René Obermann, gesagt: »Aber wir reden ja überhaupt nicht über unsere beschissene Unternehmenskultur!« Er fühlte sich persönlich angegriffen, obwohl er erst seit Kurzem Vorstandsvorsitzender war. Ja, es war faktisch ein Angriff, aber er hätte elegant sagen können: »Ja, Thomas, schon recht, aber ich kann erst jetzt die Weichen stellen.« Es folgte eine erbitterte Auseinandersetzung, über Stunden! Am nächsten Morgen kam er in mein Büro: »Thomas, es war nicht so nett gesagt, aber in der Sache hast du Recht.« Dann haben wir guiding principles eingeführt.[4] Bis ich ging, gab es einen sehr lebendigen Prozess der Entwicklung von Werten. Und eine ständige Reflexion darüber, wo wir stehen, wie wir das machen. Wir haben weltweit den guiding-principles-Tag eingeführt, an dem unsere Mitarbeitenden darüber reflektieren, wie sie mit dem Thema umgehen. Wir haben in vierteljährlichen Pulsbefragungen immer wieder gefragt: Macht das Thema Fortschritte? Wird es gelebt? Um zu sehen, wo man justieren muss. Über viele Jahre war das ein Leitthema unserer Veranstaltungen für Führungskräfte.

Nachdem ich ausgeschieden war, erzählte mir ein externer Trainer, drei junge Talente hätten ihm gesagt, die guiding principles würden nicht mehr gelebt. Er habe zurückgefragt, warum. »Der Obermann hat sie in seiner Rede zum neuen Jahr nicht erwähnt, also sind sie ihm nicht mehr so wichtig!« Sagt er: »Dann fragt ihn doch selber, wie das ist!« »Wir können doch nicht fragen, wir bekommen da keine Antwort.« »Dann seid ihr selber schuld. Dann bewegt ihr an der Situation nichts.« Da hätten die drei eine Mail geschrieben: »Herr Obermann, wir haben den Eindruck, die guiding principles sind fünf Jahre nach ihrer Einführung nicht mehr wichtig, weil Sie sie in der Rede nicht erwähnt haben.« Obermann schrieb innerhalb einer Stunde zurück: »Entschuldigen Sie, ich habe tatsächlich gedacht, das Thema sei schon verinnerlicht. Ich habe nicht gespürt, dass sich die Menschen denken werden, es sei nicht wichtig, wenn es nicht erwähnt wird.«

Zwei prägende Projekte also, durch die ich mitgeholfen habe, das Thema Unternehmensethik in die Bildung von Führungskräften aufzunehmen.

Das gab es vorher noch gar nicht?

In Deutschland, 1994/95? Nein, überhaupt nicht! Damals ist das European Business Ethics Network, EBEN, erst entstanden. Den ersten Kongress haben wir in unserem Lufthansa-Bildungszentrum veranstaltet. Auch der Vorstand war dabei und hat sich mit dem Thema Ethik auseinandergesetzt.

Haben diese Prozesse ein ethisches Bewusstsein hervorgebracht, Menschen sensibilisiert und eine höhere Verantwortlichkeit in unserer Kultur verankert?

Verankert nicht, nein. Immer wenn eine neue Herrschaft antritt – ein neuer Vorstandsvorsitzender, ein neuer Personalchef –, ist die Frage wieder da: Reetabliert er oder sie das Bestehende, oder geht er oder sie einen anderen Weg? Ich habe eben zwei Evangelisierungsprozesse beschrieben. Solche Prozesse sind immer an Menschen gekoppelt, die in der Verantwortung stehen, die helfen, anschieben, ermuntern, immer wieder. Und anregen, dass man sich mit diesen Themen auseinandersetzt. Würden die Nachfolgenden das immer weitertragen, wäre es verankert. Aber meist ist das nicht so. Deshalb ist die Frage, die Karl Popper einmal stellte, ja so interessant: Wie können wir Institutionen so bauen, dass Despoten nicht zu viel Schaden anrichten können? Die Evangelisierung ist offensichtlich notwendig, aber nicht hinreichend.

Bildung und Ethik

Wie lässt sich ethische Bildung in Schule und Universität verankern?

Ich habe viel mit business schools zusammengearbeitet. Die Ethikdebatte traf diese Community heftig und von außen: Sie war mit ihren MBA-Programmen ja Lakai der Finanzwirtschaft. Sie begannen also, Ethikkurse dazuzumischen. Aber es geht nicht nur darum, Ethik in die Lehre zu integrieren, sondern eine ethische Institution zu bauen. Ein fundamentaler Unterschied! »Ich mach da ein Modul« reduziert Ethik auf die Abteilung fürs Gute. Natürlich kann Ethik in der Lehre mithelfen, aber zu einer ethischen Institution gehört viel mehr: Sie setzt bei der governance einer Institution an: Wer sitzt im Hochschulrat? Welche Rolle spielen moralische Maßstäbe bei der Berufung von Professoren? Wie sanktioniert eine Universität unethisches, wie wertschätzt sie moralisches Verhalten?

Man muss Ethik mit der Machtausübung in Beziehung setzen, sonst nützt sie nichts.

Exakt! Dann können wir vielleicht drüber reden, dass sich das Thema verankert oder entpersonalisiert hat und zu einem institutionellen Merkmal geworden ist. Den Popper’schen Begriff »Institutionen bauen« finde ich wunderschön. Wenn diese Diskussion beginnt, erschüttert sie viele Hochschulen zutiefst.

Es geht um das Selbstverständnis einer Universität und seine regelmäßige Überprüfung. Nach welchen Kriterien lassen wir Studierende zu? Welche guidelines gelten für Fakultäten, Administration, Studierende? Welche Ziele setzt sich die governance? Wie wird diversity an der Universität gelebt oder praktiziert? Berät eine Universität ihre Absolventen, Maßstäbe zu entwickeln bei der Wahl eines Arbeitgebers? Wozu dienen Alumninetzwerke? Helfen sie auch, die Institution zu justieren? Als Stiftungsvorsitzender der Zeppelin-Universität Friedrichshafen war ich einmal auf einer Alumniveranstaltung. Da brach ein Alumnus in Tränen aus: »Nach drei Jahren kann ich zum ersten Mal wieder die Sprache sprechen, die ich an der Universität gelernt habe. Die ist mir drei Jahre lang ausgetrieben worden …« Da wäre Produzentenhaftung eine interessante Frage! Welche Verantwortung übernimmt die Universität für das Ergebnis der Mühen ihrer Absolventinnen und Absolventen? Viele spannende Diskussionen! Die Frage ist nicht, wie sich ethische Bildung verankern lässt, sondern wie sich eine ethische Institution bauen lässt.

In einem Essay in einem Managermagazin habe ich die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule in Aachen richtig böse rangenommen, sie ist ja eine der Kaderschmieden für Volkswagen! Ein Professor, der dort vor zehn Jahren das Thema Ethik vertreten hat, sagte mir: »Ich bin hier vertrieben worden. Die wollten mich und meine Lehre nicht.« Die RWTH ist halt eine effizienzgetriebene Maschinenfabrik mit Menschen, die Maschinenbestandteile sein sollen. Die nicht drüber nachdenken, wie sie ökologisch klug Produkte entwickeln, sondern wie sie Zwölfzylinder bauen können. Solche Universitäten kann man nicht verbieten, aber ich glaube, man muss sie zum Gegenstand der öffentlichen Debatte machen. Professoren müssen auch wieder Public Intellectuals werden, die hinausgehen – und ebenso muss sich eine Universität der Debatte der Stakeholder draußen stellen.

Wie viel kreativen Freiraum braucht es entlang eines Bildungswegs?

Der Bildungsweg wird ja meistens mit dem formalen Bildungsweg verwechselt. Es gibt ja auch Bildung auf der Straße.

Sicher gibt es die! Ich denke an Ihr jugendliches Engagement in der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg und an ihre Tätigkeit als politischer Aktivist in der APO – das sind ja elementare Bildungserfahrungen.

Ja, der Pfadfinder macht ja eine gute Tat jeden Tag. Hoffentlich mehr als eine, aber in der Auseinandersetzung darüber, ob ich meine gute Tat schon gemacht habe, stelle ich mir die Frage »Bin ich sonst ein böser Mensch und mache einmal eine gute Tat?« Natürlich habe ich da viel gelernt. Ich habe ja die Ministranten verlassen, um Pfadfinder zu werden. Das hat mich moralisch mehr geformt als Weihwasser- und Weihrauchkessel zu schwingen, wie wir das in Abendandachten gemacht haben, bis wir vom Rauch ganz betäubt waren. Solche Lern- und Erfahrungsfelder jenseits von Schule und Familie sind ungeheuer wichtig. Wenn es nicht nur die rohe Straße ist – aber auch da lernt man ja überleben –, sondern Fußballverein oder Pfadfinder, wo hoffentlich eine gute Pädagogik das Lernen begleitet, kann das nur hilfreich sein.

Ich selbst habe in der Schule nur gelernt, exzellent zu reproduzieren. Woanders das Produzieren, etwa bei den Pfadfindern. Wie baut man ein Lagerfeuer? Wie baut man Hängebrücken? Wie seilt man sich sicher ab? Wie baut man ein Floß? Mit viel trial and error! Bei der APO habe ich gelernt, wie man koordiniert. Wie stelle ich sicher, dass morgens früh um 4:30 Uhr 90 000 Flugblätter an 70 unterschiedlichen Orten im Raum Stuttgart sind und Menschen da sind, die nicht schlafen, sondern die Flugblätter verteilen? Solche Engagements, in denen man sich selbst und seine Leidenschaften einbringt, sind ungeheuer wichtig, damit Lernen breitbandiger wird als die Schule. Es ist wichtig, in jungen Jahren ein Portefeuille an unterschiedlichen Erfahrungsfeldern zu sammeln.

Und dann gibt es noch das, was man manchmal altertümlich »Herzensbildung« nennt. Ich erinnere mich an Lehrerinnen und Lehrer, die tatsächlich geholfen haben, dass Herzensbildung wuchs. Die Zeit hatten. Raum hatten. Ein Religionslehrer für schwierige Gespräche. Eine Klassenlehrerin in der Grundschule, der ich Blumen gebracht habe und die sich mit mir auseinandergesetzt hat, mit dem, was ich mitgebracht habe an Gedanken und Fragen. Wenn Lernfelder nicht nackt sind, sondern pädagogisch betreut, ist das optimal.

Von hier aus lässt sich Ihre Frage nach den Freiräumen leicht beantworten: Es kommt darauf an, dass ich als junger Mensch stimuliert werde, nachzudenken, wo es schön sein könnte zu lernen. Wenn es in der Schule nicht schön ist: wo es dann schön wäre, und ich meine Erfahrungen sammle. Die müssen nicht immer gleich ins Schwarze treffen. Ich dachte erst, Ministrant sein sei ganz toll. Dann waren es doch die Pfadfinder, das habe ich als Zehnjähriger entschieden.

Es war Ihre eigene Entscheidung. Keine Wahlpflichtveranstaltung, sondern Sie waren frei, ja oder nein zu sagen.

Richtig. Menschen haben mich stimuliert, solche Erfahrungen zu suchen. Lehrer und Eltern sollen nicht meinen Lebensweg programmieren, sondern mich anregen, Erfahrungen zu sammeln, sie zu bewerten und zu justieren. Ich war Austauschschüler in den USA, wo es extracurriculare Aktivitäten wie football gibt. Natürlich hattest du die Freiheit, nichts zu machen. Ich habe speech gewählt, Rede- und Disputationswettbewerbe. Mir hat keiner gesagt: Geh da rein. Ich hab das Angebot gesehen, ich fand es interessant, es stimulierte mich, ich bin hingegangen. Es hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass ich mich heute passabel ausdrücken kann. Ob das »kreative Freiräume« sind, ist gar nicht so wichtig – es sind andere Räume. Man kann ihnen nicht mit den gewohnten Routinen begegnen, weil die Logiken andere sind, ergibt es sich fast zwangsläufig, dass man eine eigene Spur legt. Deswegen glaube ich an die Stimulation von Erfahrungsfeldern: frei laufend, wie bei der APO. Dann bin ich selbst verantwortlich. Noch besser nicht nackt, sondern mit Verständnis begleitet, wie im MakerSpace der TU München. Da müssen die Studierenden nicht hin, aber sie haben das Angebot. Es ist da, ich kann es nutzen. Wenn ich Ingenieur bin, mit Leidenschaft für das Entwickeln oder sonst etwas, dann werde ich juchzen: »Gott sei Dank kann ich nach Garching fahren und komme aus dem dummen Hörsaal raus!« Raum ermöglichen, Infrastruktur, und dann etwas pädagogische Begleitung in diesen anderen Orten: Das ist der Schlüssel.

Was politisch zu tun ist

Sie kandidieren für den Deutschen Bundestag: Wofür möchten Sie sich in der Bildungspolitik einsetzen?

Es ist ja Deutschland! In der Schweiz sind die Freiheitsgrade wahrscheinlich deutlich höher. Ich möchte dazu beitragen, freie, starke Schulen und freie, starke Hochschulen zu schaffen. Schulen sollen ihr Profil entwickeln können – nicht im Sinne von Marketing, sondern in dem, was sie sein möchten, worüber sich Lehrer, Schüler, Eltern, und Leitung verständigen. Ich halte es für wichtig, den Umfang staatlicher Vorgaben deutlich zurückzunehmen. Natürlich braucht es eine gute Endkontrolle, denn der Staat gibt das Geld für die Bildung. Auch eine Walldorfschule muss zeigen, dass sie Menschen zum Abitur führen kann. Aber ich möchte die Kontrolle sehr viel stärker am Ergebnis ausrichten, als im Detail zu intervenieren. Die Stakeholder sollen sehr viel mehr Freiheit bekommen zu definieren, was Schule, was Hochschule ist.

Das Zweite ist die Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Es wird immer deutlicher, dass sie, ob jung, ob erfahren, mehr und mehr überfordert sind von der Komplexität an Lebenswelten, von den unterschiedlichen Biografien ihrer Schülerinnen und Schüler. In den Curricula führt die Entwicklung von Sozialkompetenz ein Randdasein. Es kommt darauf an, hinzuschauen, wie sehr mich diese Komplexität einschüchtert, und mich zu fragen, wie ich mit der Vielfalt umgehe, die ich bei meinen jungen Menschen erlebe. Das muss im Lehramtsstudium Platz finden.

Ja, das muss sich entwickeln. Kommunikationsfähigkeit, Fremdheitstoleranz, Empathie: Diese Beziehungsqualitäten muss man üben.

Und zwar von Beginn an, nicht erst irgendwann im Praxissemester. Menschen gewinnen Erkenntnis in interaktiven Prozessen: Praxis, Theorie, Praxis, Theorie oder Theorie, Praxis, Theorie, Praxis – wie auch immer, ob induktiv oder deduktiv. Es ist immer ein Austesten von neuem Wissen in der Realität, ein Experimentieren. Sozialkompetenz und Praxisbezug des Lehramtsstudiums sind zentral.

Drittens stehen wir vor der Aufgabe, digitale Kompetenz als vierte Kulturtechnik zu integrieren, neben Lesen, Schreiben, Rechnen. Es geht nicht um das Fach Informatik, sondern darum, dass das Thema Digitalisierung in den Fächerkanon einfließt. Drei Themen – es gibt noch mehr, aber es ist schon ein ordentliches Paket.

Zum Schluss: Was zeichnet für Sie einen gebildeten Menschen aus?

Ich komme nicht aus einer Akademikerfamilie, die ausdrücklich Bildungswerte weitergegeben hätte. Ich habe ein Soziologie-, dann ein Pädagogikstudium abgebrochen. Schließlich habe ich ein duales Studium absolviert. Ich kann nicht auf eine breite akademische Bildung aufbauen; dennoch würde ich mich als halbwegs gebildet bezeichnen.

Gebildet ist, wer Verantwortung übernimmt für die eigene Entwicklung. Wer, in einer Mischung aus Neugierde und Reflexion, sein Leben in unterschiedlichen Sphären gestaltet. Und wer unterschiedliche Perspektiven in seine Urteilsfindung zu integrieren versucht.

Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

Подняться наверх