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3 Was sind Kompetenzen, und warum Kompetenzorientierung?
ОглавлениеWas aber ist unter einer Kompetenz zu verstehen? Woher kommt, wissenschaftlich gesehen, der Begriff «Kompetenz», den wir auch im Alltag kennen – etwa durch den Umstand, dass es heutzutage fast keine Institution gibt, die nicht ein Kompetenzzentrum ist? Wie lässt sich der Aufbau von Kompetenzen unterrichtlich fördern? Was bedeutet des Weiteren Kompetenzorientierung im Unterricht, in der Ausbildung und im Studium, etwa jenem für Lehrerinnen und Lehrer, wenn es generell darum geht, kompetent zu werden?
Mit der Frage, was uns den Eindruck von Kompetenz gibt und was Kompetenz ist, haben sich u. a. Ziegler, Stern und Neubauer (2012) befasst. Ob wir uns ein Geigentalent, ein Mathematikgenie oder eine Schachkoryphäe vorstellen, spielt keine Rolle, es ist die Souveränität des Könnens, die den Eindruck von «kompetent» entstehen lässt. Kompetenz zeichnet sich aus durch einen hohen Grad an Perfektion. Den Begriff «Kompetenz» fassen Ziegler, Stern und Neubauer allgemein, sodass er auf alle Menschen und alle Altersgruppen bezogen werden kann:
«Kompetenz gibt es auf verschiedenen Stufen, je höher diese ausgebildet sind, desto souveräner kann man sich in einem Gebiet bewegen, und desto effektiver kann man Aufgaben und Probleme lösen. Sie zeigt sich ‹in der Flexibilität, mit der sich jemand in einer Materie bewegt›. Kompetenz ist immer inhaltsbezogen; niemand kann per se kompetent sein.
Die Verbindung zu einem Inhaltsgebiet steckt bereits in der Herkunft des Wortes: Kompetenz leitet sich von competere (lat.) her, was zusammentreffen oder entsprechen bedeutet. Kompetenz aus Sicht der Kognitionspsychologie betont genau dieses Zusammentreffen von individuellen Voraussetzungen mit den Anforderungen der Umwelt. Kompetent ist man nicht allein durch ein vorhandenes Potenzial, sondern wenn man in einer Situation handelt und eine Anforderung bewältigt, d. h. wenn die Fähigkeit und das Wissen in einem Inhaltsgebiet auch angewandt werden.» (Ziegler, Stern und Neubauer 2012, 14)
Überragende Kompetenzen werden mit Begriffen wie Expertise oder Genie bezeichnet. Nach Deci und Ryan (1985, 1993; Ryan u. Deci 2000) ist der Wunsch, sich als kompetent zu erleben, ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das tief in uns verankert ist. Indem wir uns über das definieren, was wir sind, ist Kompetenz ein wichtiger Teil unseres Selbstkonzepts. Auch andere Menschen sind für uns vor allem das, was sie können. Sehr früh haben Kinder «schon den Ehrgeiz, die Anforderungen der Welt zu meistern und zu zeigen, was sie können» (Ziegler, Stern u. Neubauer 2012, 15). Ohne Belohnung und äussere Kontrolle streben sie danach, sind stolz, wenn sie etwas können, und versuchen es nach einem Misserfolg mit oft erstaunlicher Ausdauer erneut. Für Deci und Ryan zeigt sich darin die Neigung des Menschen, sich mit Neugier und Interesse mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. In der Folge führt dies dazu, «immer neue Herausforderungen zu suchen und diese zu meistern, was schrittweise zu einer Erweiterung der Kompetenzen führt», im erfolgreichen Fall begleitet von positiven Gefühlen. «Sich als kompetent erleben ist Selbstwert fördernd» (ebd.).
Als zentrale, schulisch zu erwerbende Kompetenzen gelten seit PISA die Lesekompetenz, die mathematische Kompetenz und die naturwissenschaftliche Kompetenz (z.B. Klieme et al. 2010). Es gibt fast beliebig viele weitere Kompetenzen. Sich auf Französisch, Spanisch oder Italienisch auszudrücken, erfordert Kompetenzen, ebenso das Verfassen von Texten (z.B. Baer 1998). So wenig es für die Pilotin, den Lokomotivführer, den Fremdsprachenlernenden, den Arzt und die Ärztin, aber auch für Berufslernende genügt, in der Ausbildung, in der Schule und im Studium «nur» Wissen zu erwerben, so wenig ist für Lehrpersonen der Erwerb von Wissen allein ausreichend. Umgekehrt ist ebenso falsch – wie bei vielen angehenden, aber auch erfahrenen Lehrpersonen (noch) oft der Fall – zu meinen, Praxiserfahrung allein reiche aus und (umfangreiches) Wissen zu erwerben, sei nicht nötig. Die Expertiseforschung zeigt: Wer etwas wirklich beherrscht, hat als Basis des expertenhaften Könnens über Jahre systematisch umfangreiches Wissen erworben. Zudem spielt die Art und die Qualität des Wissens eine Rolle. Lehrerinnen und Lehrer müssen im Studium erworbenes Wissen in der Praxis rasch und sicher umsetzen können. Voraussetzung dafür sind Kompetenzen, die zu erwerben bzw. weiterzuentwickeln die je individuell zu bewältigende, in mancher Hinsicht herausfordernde Entwicklungsaufgabe ist – zunächst während der Grundausbildung und dann in der Weiterbildung.
Beeinflusst von Antworten, die gegen das Ende des 20. Jahrhunderts von amerikanischen und australischen Lehrerverbänden zur Frage ausgearbeitet wurden, was das Besondere des Lehrerberufs ist und was ihn von anderen anspruchsvollen Berufen unterscheidet, was also Lehrerinnen und Lehrer wissen und können (müssen), wenn sie kompetent handeln (wollen), werden im Kompetenzstrukturmodell der Pädagogischen Hochschule Zürich – auf das hier als Beispiel Bezug genommen wird – zwölf Kompetenzen als Ziel der Aus- und Weiterbildung für Lehrpersonen aller Schulstufen beschrieben (PHZH 2014). Durchaus anspruchsvoll, müssen die Studierenden diese Kompetenzen theoretisch (Wissen) und praktisch (Können) erwerben und sollten Lehrpersonen sie in der Weiterbildung weiterentwickeln. Wie bei den Kompetenzen für das Lesen, die Mathematik und die Naturwissenschaften gibt es bei jedem der zwölf als Standards bezeichneten Kompetenzen Unterbereiche mit jeweiligen Teilkompetenzen.
Jeder der zwölf Standards besteht aus drei Bereichen: (1) dem «Wissen», (2) der «Lern- und Umsetzungsbereitschaft» und (3) dem «Können als wissensbasiertem Handeln». Das Ziel jedes Kompetenzerwerbs ist professionelles Können, Kompetenz im dargestellten Sinn. Fast immer beruht das Können auf umfangreichem, auf jeden Fall auf sicher verfügbarem Wissen, was zeigt, wie wichtig es ist, anhaltend und systematisch Wissen zu erwerben. Können setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, Wissen aufzubauen und zu lernen, es in Anwendungssituationen umzusetzen und anzuwenden. Reusser (2014a, 328) weist darauf hin, dass aus «einer erweiterten wissenspsychologischen Optik […] Kompetenzen für eine Verschmelzung von Wissen und Können» stehen. «Bildung in einem modernen, anspruchsvollen Sinne von ‹literacy› aufgefasst steht für ein Amalgam, die Verschmelzung von Fachwissen und Fähigkeiten (also fachlichen) und von überfachlichen, transversalen (methodischen, sozialen, personalen) Kompetenzen» (Reusser 2014b, 86). Auch für Lersch und Schreder (2013, 37–38) fallen Wissen und Können zusammen; ihre Kurzformel lautet: Kompetenz = Wissen + Können.