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6 Kompetenzorientierter Unterricht
Оглавление6.1 Neue Aufgaben für Unterricht und Lehrperson
Generationen von Pädagogen, Erziehungswissenschaftlern, Lehrerinnen und Lehrern haben sich im Sinne von Roth (1971) auf Kompetenzen bezogen, und weiterhin ist auch im Alltags-, Berufs- und Geschäftsleben oft von Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz die Rede. Eine Schwäche von Roths Konzepts ist, dass es in Bezug auf die Unterrichtsfächer und -inhalte keine genauen Aussagen macht (Müller, Gartmeier u. Prenzel 2013, 140). Im Gegensatz dazu werden in PISA «zentrale und grundlegende Konzepte […] aus dem jeweiligen Fachkontext getestet, die für ein Verständnis der Welt aus der Perspektive des Faches zentral sind» (Prenzel et al., 2003). Dasselbe Verständnis liegt – wie oben dargestellt – den Bildungsstandards und dem Lehrplan 21 zugrunde, ebenso dem sich daraus ableitenden kompetenzorientierten Unterricht. Der zentrale Punkt ist, «dass in der Schule erworbenes Wissen in unterschiedlichen Situationen flexibel anwendbar und anschlussfähig für nachfolgendes Lernen sein soll» (Müller, Gartmeier u. Prenzel 2013, 128). Indem zudem «weniger Inhalte abgehandelt werden und diese von den Schülerinnen und Schülern aktiver, lebensweltbezogener und kooperativer erarbeitet» werden, «wird die im Unterricht realisierte Verarbeitungstiefe eher erhöht als gesenkt» (ebd.). Dies hat Konsequenzen für die Lehrpersonen.
«Diese sind nunmehr gefordert, ihren Unterricht kompetenzorientiert zu gestalten. Damit rückt das blosse Faktenwissen in den Hintergrund und das konzeptuelle Verständnis sowie das kumulative Lernen in den Vordergrund. Bedeutung gewinnen nicht nur Lern- und Problemlösestrategien; ins Blickfeld rücken etwa auch motivationale Orientierungen, die Fähigkeit zur Selbstregulation sowie fächerübergreifende Fähigkeiten.» (Ebd.)
Übergreifend gesehen, findet gemäss Reusser (2014a, 325) «seit geraumer Zeit eine schulform- und stufenübergreifende Akzentverschiebung curricularer Vorgaben» statt, nicht jedoch ein radikaler Paradigmenwechsel. Der Lehrplan 21 ist als «Fortschreibung einer seit Langem im Gang befindlichen Entwicklung» zu sehen, «wonach es in der schulischen Allgemeinbildung um eine tief verstandene, fachliche und überfachliche, auf mehrdimensionale Outcome-Variablen gerichtete Fähigkeits- und Wissensbildung geht». Es liegt «keine Abkehr von einer fachlichen Wissensbildung und schon gar nicht von der Leitidee des verständnisorientierten und problemlösenden Lernens vor» (ebd., 326). Kompetenz als Orientierungspunkt für den Unterricht (die Output-Orientierung) schlägt vielmehr «eine Brücke vom Wissen zum Handeln» (Prenzel et al. 2007, zit. in: Müller, Gartmeier u. Prenzel 2013, 132). Allerdings bleiben die als Folge von PISA eingeführten Bildungsstandards wirkungslos, wenn sie «nicht bis zum Unterricht durchdringen und […] nicht die Lehrpersonen und letztendlich die Schülerinnen und Schüler als eigenständige Lernende erreichen» (Oelkers u. Reusser 2008, 324). Im kompetenzorientierten Unterricht stehen deshalb (a) die Fähigkeiten, welche die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen, im Zentrum und dass (b) im Unterricht Gelegenheiten geschaffen werden, damit die Lernenden diese Fähigkeiten entwickeln können. Das Ziel des Unterrichts sind Kompetenzen – nicht mehr allein Wissensziele wie nach den bisherigen Lehrplänen – «zur bewussten Bewältigung bestimmter Anforderungen in Form von Denkoperationen oder Handlungen; ([diese sind] immer bereichsspezifisch: bei bestimmten Dingen kennt man sich aus und weiss, was man tut, oder kann begründen, warum man es so und nicht anders macht)» (Lersch u. Schreder 2013, 37).
Nach dem Lehrplan 21 ist «eine Schülerin oder ein Schüler beispielsweise in einem Fachbereich kompetent, wenn er/sie
•auf vorhandenes Wissen zurückgreift bzw. das notwendige Wissen beschafft,
•zentrale fachliche Begriffe und Zusammenhänge versteht, sprachlich zum Ausdruck bringen und in Aufgabenstellungen nutzen kann,
•über fachbedeutsame (wahrnehmungs-, verständnis- oder urteilsbezogene, gestalterische, ästhetische, technische …) Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Lösen von Problemen und zur Bewältigung von Aufgaben verfügt,
•sein oder ihr sachbezogenes Tun zielorientiert plant, in der Durchführung angemessene Handlungsentscheidungen trifft und Ausdauer zeigt,
•Lerngelegenheiten aktiv und selbstmotiviert nutzt und dabei Lernstrategien einsetzt,
•fähig ist, ihre bzw. seine Kompetenzen auch in Zusammenarbeit mit anderen einzusetzen». (Lehrplan 21: Grundlagen → überfachliche Kompetenzen)
6.2 Merkmale des kompetenzorientierten Unterrichts
Die folgenden Merkmale kennzeichnen nach Müller, Gartmeier u. Prenzel (2013, 133–134) den kompetenzorientierten Unterricht:
1. Bezüge zwischen Lerninhalten und realen Problemsituationen: Wissen ist weder Selbstzweck noch bloss eine Bedingung für das Bestehen der nächsten Prüfung in der Schule. Vielmehr ist es nützlich für das Lösen vielfältiger, komplexer, alltagsnaher Probleme. «Deshalb stellt kompetenzorientierter Unterricht (in Form von Aufgaben) Probleme in den Mittelpunkt des Lernens und kreiert so wirklichkeitsnahe Lernanlässe» (ebd.).
2. Aktive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand (kognitive Aktivierung): Für das Lernen zentral sind die kognitiven Aktivitäten der Lernenden, da die eigene aktive mentale Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand die Voraussetzung ist, dass Lernen stattfindet. Der kompetenzorientierte Unterricht erfüllt die nötigen Bedingungen dafür, indem Schülerinnen und Schüler beispielsweise dazu veranlasst werden, Fragen zu formulieren, verschiedene Lösungswege auszuprobieren, die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand zu dokumentieren und zu interpretieren. «Das Konzept hebt sich somit ab von Unterrichtsmodellen, bei denen das von Schülerinnen und Schülern geforderte Verhaltensrepertoire aufmerksames Zuhören, gelegentliches Beantworten von an die Klasse gerichteten Fragen oder minutiöses Übertragen eines Tafelbildes ins Schulheft umfasst» (ebd., 133), wie es im traditionellen Klassenunterricht der Fall ist.
3. Soziale (kooperative) Lernaktivitäten: Indem ein Austausch über fachliche Inhalte stattfindet, eröffnet sich den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, ihre Vorstellungen und mentalen Modelle zu verbalisieren und zu vergleichen, diskursiv zu bearbeiten und auf diese Weise zu differenzieren und weiterzuentwickeln (ebd.).
4. Adaptivität für die Heterogenität der Lernenden: Die Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, sich auf unterschiedlichen Anspruchsniveaus (Kompetenzstufen) und somit auf eine Art und Weise mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen, die ihren individuellen kognitiven (Wissens- und Könnens-)Voraussetzungen entspricht. Kompetenzorientierter Unterricht enthält deshalb «Aufgaben, die von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Voraussetzungen bearbeitet werden können» (ebd.).
Die Kompetenzorientierung bedeutet die Abkehr von einem durch die mit dem Lehrplan vorgegebenen Themen und Inhalte gesteuerten Unterricht, das heisst von der Input-Steuerung (aufgrund detaillierter Vorgaben für die Unterrichtsfächer) zugunsten der Output-Steuerung durch Beurteilung, ob der Unterricht den Erwerb der erwünschten Kompetenzen möglich gemacht hat. Gefragt wird nicht mehr nur, was im Unterricht behandelt wird, sondern was dieser bei den Lernenden bewirkt und erreicht, den Erwerb welcher Kompetenzen er wie gut ermöglicht (hat). Zudem zielt der kompetenzorientierte Unterricht darauf ab, die «Schülerinnen und Schüler anzuregen, das eigene Interesse an einem Lerngegenstand zu entdecken, eigene Lösungswege für Problemstellungen zu finden und so auch mehr Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen» (ebd.). Basierend auf den sogenannten Angebots-Nutzungs-Modellen (Fend 1981; Reusser u. Pauli 2010, 18; Helmke 2012, 71), werden im kompetenzorientierten Unterricht des Weiteren die Eigenständigkeit und die Selbstreflexivität beim Lernen gefördert. Dafür wird den Lernenden ermöglicht, durch bewusstes Nachdenken über das eigene und das kooperative Lernen metakognitives Wissen für die eigenständige Steuerung ihres Lernens und soziale Kompetenzen zur problemlösenden Zusammenarbeit in der Gruppe aufzubauen.
6.3 Bedeutung von Vorkenntnissen und weiterem Wissenserwerb
Wissen und weiterer Wissenserwerb sind für den Erwerb von Kompetenzen von grundlegender Bedeutung: «Fachwissen und Kompetenz, Wissen und Können bilden […] keine Gegensätze. Kompetenzen beziehen sich nicht, wie absurde Zerrbilder des Begriffs der Kompetenzorientierung dies glauben machen möchten, auf inhaltsfreie kognitive Dispositionen, sondern auf wissensbasierte Fähigkeiten in fachkulturellen und lebensweltlichen Domänen. Der Kern jeden fachlichen Kompetenzaufbaus ist eine anspruchsvolle Kultur- und Wissensbildung» (Reusser 2014a, 327). Der kompetenzorientierte Unterricht ermöglicht den Lernenden deshalb,
•sich intelligentes, weil in der kognitiven Struktur gut verankertes und vernetztes Wissen anzueignen;
•dieses Wissen mit Können zu verbinden, indem Aufgaben oder Probleme gelöst werden, in denen dieses Wissen Verwendung findet;
•dieses Wissen zu sichern und zu verbessern, indem auf seiner Basis variable Anforderungen auch mit steigendem Schwierigkeitsgrad zu bewältigen gelernt werden;
•jeden Wissenszuwachs auch an Fortschritte im Können zu koppeln, indem erfahren werden kann, auf der Basis neu gelernten Wissens etwas zu können, was vorher noch nicht gekonnt wurde. (Lersch u. Schreder 2013, 42)
Wiederholt konnte empirisch gezeigt werden (z.B. Schneider, Grabner u. Paetsch 2009), dass das domänenspezifische Vorwissen nicht nur am besten den Erfolg beim Lösen von Problemen voraussagt, sondern dass Analoges auch für den Erwerb von neuem Wissen gilt: Je mehr domänenspezifisches Wissen bereits vorhanden ist, desto einfacher gestalten sich Problemlösung und neuer Wissenserwerb (Matthäus-Effekt). Was eine Person leisten kann – so eine weitere Erkenntnis der neueren kognitionspsychologischen Forschung (u.a. der Expertiseforschung) –, hängt sehr viel stärker von ihrem reichhaltigen und gut organisierten Wissen ab als von ihrer Intelligenz. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung kompensiert höhere Intelligenz bei anspruchsvollen Aufgaben und Problemstellungen fehlendes (Fach-)Wissen nicht (z.B. Weinert 1994, 183–205; Stern 2001). Nur bei sehr einfachen Aufgaben vermag hohe Intelligenz nicht vorhandenes (Vor-)Wissen auszugleichen.
6.4 Kognitive Aktivierung als Voraussetzung für Lernen
Nach der neueren Unterrichtsforschung sind die Dimensionen «Instruktionseffizienz», «Schülerorientierung», «Klarheit und Strukturiertheit» und «kognitive Aktivierung» lernwirksame Merkmale guten Unterrichts (z.B. Helmke 2012; Klieme 2012). Kleinknecht (2010) fasste die empirisch begründbaren Merkmale von gutem Unterricht mit den Dimensionen «Klassenführung/Strukturierung», «Schülerorientierung/Unterstützung» und «kognitive Aktivierung» zusammen. Guter Unterricht liegt für die «kognitive Aktivierung» dann vor, wenn die Lernenden in (eigen-)aktiver Weise vertieft Denkprozesse vollziehen, d.h. sich ihren intellektuellen und wissensmässigen Voraussetzungen entsprechend (also adaptiv) kognitiv anspruchsvoll (in Beziehung setzend) mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. Mit problemhaltigen Aufträgen, herausfordernden Fragen, anspruchsvollen Unterrichtsgesprächen usw., allgemein mit Lernaufgaben, veranlasst die Lehrperson die für den Lernprozess notwendige kognitive (Eigen-)Aktivität für den Aufbau von neuen Wissens- bzw. Handlungsstrukturen. Mit dem durch die Bearbeitung von Lernaufgaben in die Wege geleiteten strukturellen Lernen erweitern und differenzieren die Lernenden ihr Wissen und Können. Dabei macht die Lehrperson die Lernziele, also die angestrebte(n) Kompetenz(en), deutlich, gibt Aus- und Rückblicke, fasst die aufgebauten kognitiven Strukturen zusammen, unterstützt und begleitet mit eigenen Beiträgen die eigenständige und/oder gemeinsame (kooperative) kognitive Auseinandersetzung.
Die TIMSS Video Studies von 1995 und 1999, bei denen der Mathematikunterricht in Japan, in Deutschland und in den USA bereits vor PISA miteinander verglichen wurde (z.B. Pauli u. Reusser 2006), weist darauf hin, dass die problem- und verständnisorientierte Ausrichtung des japanischen Unterrichts ausgeprägt mit dem heutigen konstruktivistischen, kompetenzorientierten Lehr- und Lernverständnis übereinstimmt. Kognitiv herausfordernde Problemstellungen, durch welche anspruchsvolle Denk- und Problemlöseprozesse in Gang kommen, spielen in ihm eine zentrale Rolle. Dem am wenigsten entspricht der amerikanische Unterricht mit seinem behavioristisch geprägten Einüben von Prozeduren, die von der Lehrperson vorgegeben werden, während das von Wuttke (2009) zu Recht monierte kleinschrittige lehrergeleitete Entwickeln des Stoffes (traditioneller Klassenunterricht), «das Kleinarbeiten von Aufgaben in einem eng geführten, fragend-entwickelnden Lehrgespräch» (Pauli u. Reusser 2006, 779) das Kennzeichen des deutschen gymnasialen Unterrichts ist (Seidel 2003, 2011) – aber auch des Unterrichts, der auf der Primarschulstufe in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbreitet vorgefunden wurde (Mackowiak et al. 2013; Kocher u. Baer 2013, Wyss u. Baer 2013; Baer et al. 2009, 2011, 2014, 2015). Kennzeichen dieses Unterrichts sind viele enge Lehrerfragen, die von einzelnen Schülerinnen und Schülern stichwortartig beantwortet werden, sowie eine Lehrperson, die im (zu) häufig vorkommenden fragend-entwickelnden Klassenunterricht vieles einfach erklärt, anstatt die Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken und Argumentieren anzuregen.
Der japanische Unterricht (und vergleichbarer Unterricht an südostasiatischen und osteuropäischen Standorten) gilt nach wie vor als in hohem Masse übereinstimmend mit der konstruktivistischen, kompetenzorientierten Vorstellung von gutem (Mathematik-)Unterricht. Seine Kennzeichen sind: (a) zeitintensive, gründliche Auseinandersetzung mit (b) wenigen, aber kognitiv anspruchsvollen, mehrheitlich komplexen Aufgaben mit Lebensweltbezug, die (c) (im Mathematikunterricht) häufig mit angewandten Aufgaben (und Beweisen) verbunden sind, (d) eine anspruchsvolle Bearbeitungsqualität (Beziehungen herstellen statt auswendiggelernte Prozeduren ausführen) und (e) ein hoher Anteil problemlösender Aktivität während der Schülerarbeitsphasen (z.B. Pauli u. Reusser 2006). Der aktuelle Forschungsstand weist aus, dass «ein kognitiv herausfordernder Unterricht [...] (er fördert die Leistungsentwicklung)» (Klieme, Steinert u. Hodweber 2010, 250) – zusammen mit einem unterstützenden Lehrerverhalten (Krammer 2009), das die Motivationsentwicklung begünstigt – entscheidend ist für die Leistungsentwicklung und die Lernmotivation. Auch die Metaanalyse von Seidel und Shavelson (2007) zeigt, dass für tiefes Verstehen als Ziel des Unterrichts (a) kognitiv herausfordernde, gut strukturierte Lernangebote ausschlaggebend sind, verbunden mit (b) einer lernprozessbezogenen, adaptiven Lernbegleitung und (c) einer wirksamen Klassenführung mit gutem Zeitmanagement für hohe Time-on-task-Anteile der Lernenden.
6.5 Lernaufgaben als Dreh- und Angelpunkt des kompetenzorientierten Unterrichts
Die Zeichen stehen spätestens nach PISA wohlbegründet auf Veränderung:
«Noch kaum je in der Geschichte der Volksschule haben sich die Ansprüche an Schule und hat sich die didaktische Gestalt des Unterrichts so schnell und so sichtbar verändert, wie dies aktuelle Entwicklungen in Richtung eines methodisch variablen binnendifferenzierenden, individuell förderorientierten und verstärkt personalisierten Lernens manifestieren.» (Reusser 2014b, 77)
Bei dieser «Entverselbstverständlichung» (Blumberg 1981, zit. nach: Reusser 2014b, 77) «des bis anhin selbstverständlichen Funktionierens von Schule und Unterricht» spielen Aufgaben als Aufforderung zur gezielten Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand eine zentrale Rolle. Als für das betreffende Fach bedeutsame Lernaufträge bilden sie in Form von Einstiegs-, Vertiefungs-, Übungs-, Anwendungs- und Prüfungsaufgaben als «Aktivierungs- und Gestaltungsmittel das Rückgrat» von (fach-)didaktischen Lernarrangements und eines schüleraktivierenden Unterrichts. Mit dem kompetenzorientierten Unterricht
«sind wir bei jenem Punkt angelangt, bei dem die Funktion und Qualität von Aufgaben und ihrer angeleiteten und selbstständigen Bearbeitung in Hinsicht auf den mit heterogenen Lerngruppen zu erreichenden Bildungsauftrags hervortreten: als Lernaufgaben im Dienste des Aufbaus und der Förderung fachlicher und überfachlicher Kompetenzen in allen Inhaltsbereichen und als in Tests eingebetteten Leistungsaufgaben, die der Überprüfung von Bildungsstandards bzw. der Evaluation der Zielerreichung (ob die erwünschten Kompetenzen erworben wurden, M. B.) dienen». (Ebd., 79)
Im oben dargestellten Sinn sind Lernaufgaben Aufforderungen zur gezielten kognitiv und motivational/emotional (eigen-)aktiven (und kooperativen) Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand mit dem Ziel, Kompetenzen zu erwerben.
Die erwähnten TIMSS Video Studies machten international bereits Jahre vor PISA Forschungskreise auf schockierende Defizite aufmerksam, auch – aber nicht nur – im deutschsprachigen Raum (Reusser u. Pauli 2003). Von nicht weniger als 15000 (!) untersuchten Aufgaben aus 700 videografierten Mathematikstunden entfielen mit Ausnahme von Japan 66 Prozent auf blosses «Using Procedures», 12 Prozent auf «Stating Concepts» und 22 Prozent auf «Making Connections», der anspruchsvollsten der drei Kategorien, bei der es um sachlogisch richtige In-Beziehung-Setzungen geht, was tiefes Verstehen und richtiges Anwenden von Wissen erfordert. Der Anteil solcher Aufgaben ist im japanischen Unterricht mit 54 Prozent wesentlich höher! Ebenfalls zugunsten Japans mit nur 17 Prozent macht der Anteil repetitiver Übungsaufgaben in der unterrichtlichen Stillarbeit dagegen 83 Prozent aus. «Die Diskussion entbrannte, was von einer mathematikdidaktischen Aufgaben(bearbeitungs)kultur zu halten ist, in der zum grossen Teil repetitive Aufgaben auf niedrigsten Komplexitätsstufen gelöst werden» (Reusser 2014b, 81). Dies und weitere Gründe (vgl. ebd.) haben dazu geführt, dass qualitativ gute Lernaufgaben der gegenwärtig prominenteste, weit über den Mathematikunterricht hinausreichende Gegenstand der fachdidaktischen Unterrichtsentwicklung sind. Reusser bringt dies wie folgt zum Ausdruck (ebd.):
«Attraktive – inhaltlich und methodisch durchdachte – fachliche Probleme und Lernaufgaben, seien es Einstiegs-, Vertiefungs-, Übungs- oder Testaufgaben, bilden das Rückgrat eines schüleraktivierenden Unterrichts – als Quellen der Motivation und Ausgangspunkt für Schülerinnen und Schüler, sich auf Gegenstände einzulassen und dabei fachliche und überfachliche Kompetenzen auszubilden.»
Gute Lernaufgaben nach Reusser (2013, 2014b, 81) …
•repräsentieren fachliche Kernideen und erfordern zu ihrer Bearbeitung fachspezifische Kompetenzen,
•eröffnen Zugänge zur Erfahrung und Übung fachspezifischer Strukturen, Standards und Denkformen und regen Lernprozesse an, die in die Tiefe des Wissens und Denkens eines Faches gehen,
•wecken Neugier und motivieren, sich auf einen Gegenstand einzulassen (durch Handlungs- und Alltagsnähe, Anschaulichkeit, Authentizität, Spielcharakter, Überraschungsmomente, kognitiven Konflikt),
•sind in Lernumgebungen eingebettet und funktional auf Kompetenzziele und curriculare Inhalte ausgerichtet bzw. bezogen,
•laden ein zu tiefem Verstehen und Problemlösen und zum Austausch darüber,
•erlauben multiple Zugänge, Denk- und Lernwege und lassen sich auf unterschiedlichen Niveaus lösen,
•sind lerngruppengerecht, haben Differenzierungseigenschaften und eignen sich gleichermassen für schwächere und starke Schülerinnen und Schüler,
•ermöglichen schüleraktives (individuelles und kooperatives) Lernen und trainieren damit fachliche und überfachliche (soziale, methodische, personale) Kompetenzen,
•ermöglichen den Austausch von Ergebnissen, das Vergleichen, Strukturieren, In-Beziehung-Setzen und Einordnen von Ideen und Konzepten, einschliesslich variable Formen des Festhaltens und der Dokumentation von Erkenntnissen,
•lassen Raum für Mitbestimmung und Mitgestaltung bei Lerninhalten und Lernwegen (enge, halboffene und offene Aufgabenstellungen).
Darauf hinzuweisen ist, dass selbstverständlich nicht jede Lernaufgabe alle genannten Merkmale erfüllen kann und muss, einige der Merkmale so anspruchsvoll sind, «dass sie ihr Potenzial vor allem in den höheren Stufen der Bildungsgänge entfalten dürften» (ebd., 82), und dass «die angestrebten Kompetenzniveaus über die Elementarstufen des reproduktiven und des rezepthaften Könnens hinausgehen sollen; nicht Auswendiglernen, nicht das mechanische Abarbeiten von Aufgabenserien nach dem gleichen Schema ist das Ziel, sondern sich kognitiv und emotional engagiert auf die Gegenstände einlassen, nachdenklich werden, Dinge verstehen und in sie eindringen wollen» (ebd.).
6.6 Adaptivität: Wissen und Können auf unterschiedlichen Niveaus
«Kompetenz gibt es», wie dargestellt, «auf verschiedenen Stufen» (Ziegler, Stern u. Neubauer 2012, 14). Unterschiedliche Anspruchsniveaus liegen als wegleitende Idee bereits der «Taxonomie von Lernzielen» zugrunde, die der amerikanische Erziehungswissenschaftler Benjamin Bloom (1913–1999) 1956 vorlegte (Bloom et al. 1956). Zwar spricht er von Lernzielstufen, der Schritt hin zu Kompetenzstufen ist aus heutiger Sicht jedoch naheliegend. In aufsteigender Ordnung unterschied er (1) einfaches Erinnern und Können, (2) Verstehen, (3) Anwenden, (4) Analysieren, (5) Urteilen und (6) Entwickeln. Reusser (2014a, 329–330) entwickelt Blooms Taxonomie zu einem brauchbaren Instrument für Lernaufgaben für den kompetenzorientierten Unterricht weiter (und illustriert Blooms Idee am Beispiel des Epochenbegriffs «Weimarer Republik»). «Verallgemeinernd sind es folgende kognitive Tätigkeiten und Operationen niedrigerer und höherer Ordnung, die sich im Unterricht der meisten Fächer beobachten lassen und an deren Vorkommen und Verteilung man ablesen kann, auf welchem Kompetenzniveau sich das geistige Leben in einer Lerngruppe abspielt bzw. durch welches Niveau von Lerngelegenheiten sich eine fachdidaktische Aufgabenkultur auszeichnet» (ebd., 329):
Einfaches Kennen und Können: Die Lernenden können Informationen abrufen und wiedergeben.
•Wiedererkennen, Identifizieren, Abschreiben, Kopieren
•Benennen, Abrufen, (wörtliches) Wiedergeben, Aufzählen von Fakten, Formeln, Definitionen
•Ausführen von elementaren Automatismen, Prozeduren, Fertigkeiten
•Auffinden von Informationen im Internet
Verständnis im engeren Sinn: Die Lernenden verstehen eine Sache, wenn sie ihre Bedeutung rekonstruieren können.
•Sich ein inneres Vorstellungsbild einer Situation machen
•Eine Sache, einen Zusammenhang in eigenen Worten ausdrücken, paraphrasieren einordnen, zusammenfassen, auf den Punkt bringen
•Erklären: jemand anderem, sich selbst (Selbsterklärung)
•Exemplifizieren, Erläutern an Beispielen, modellhaftes Darstellen
Anwendung: Die Lernenden können das erworbene Wissen in einer gegenüber der Lernsituation neuen, veränderten Situation anwenden.
•Informationen zur Lösung von Problemen nutzen, Wissen in einen neuen Zusammenhang einbauen, Fertigkeiten in veränderten (praktischen) Situationen anwenden
•Verknüpfungen und Beziehungen erkennen
•Situationsgerechtes Transformieren, Anpassen von Wissen und Fertigkeiten an neue Anforderungen
•Mit dem Wissen argumentieren, diskutieren
Analyse: Die Lernenden können das, was sie wissen, in seine Elemente und Beziehungen zerlegen und tiefer analysieren.
•Struktur zerlegen um im Einzelnen darlegen, Verarbeitungstiefe suchen
•Zu den Elementen, den logischen und semantischen Beziehungen eines Begriffs/eines Zusammenhangs vorstossen
•Unter verschiedenen Gesichtspunkten, Perspektiven einen Sachverhalt in seiner Struktur durchschauen
•Eine Struktur vergleichend mit einer anderen Struktur betrachten
Evaluation, Urteil, Synthese: Die Lernenden können Situationen reflektieren, beurteilen und kritisch prüfen.
•Gedanklich oder real experimentierend eine Sache prüfen, sich ein Urteil bilden
•Situationen vor dem Hintergrund von Normen und Wertgesichtspunkten prüfen, beurteilen, infrage stellen
•Positionen vergleichend darstellen, kritisieren oder verteidigen
•Sachverhalte abwägen, kriteriengeleitet und perspektivenbezogen erörtern
Entwicklung: Die Lernenden entwickeln neue Ideen, neues Wissen und darauf aufbauende Techniken und Produkte.
•Planen, Entwerfen, Entwickeln, Erfinden, Konstruieren
•Design von Produkten aus der kreativen Kombination von Dingen und Ideen
•Nutzung von Einsichten zur Herstellung neuer gedanklicher Strukturen
•Gestalten, Weiterentwickeln von Techniken, Abläufen und Produkten
Den dank unterschiedlich herausfordernden Lernaufgaben adaptiven Unterricht (Beck et al. 2008; Brühwiler 2014), der aus heutiger Sicht zudem auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichtet ist, beurteilten Helmke und Weinert schon im Jahre 1997 als zukunftsträchtig:
«Das gleichermassen variable wie flexible Modell des adaptiven Unterrichts ist gegenwärtig das wissenschaftlich fundierteste und didaktisch aussichtsreichste unterrichtliche Konzept, um auf die grossen und stabilen interindividuellen Unterschiede der Schüler in didaktisch angemessener Form zu reagieren.» (Helmke u. Weinert 1997, 137)