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4 Zur Herkunft und weiteren Bestimmung von Kompetenz
ОглавлениеDie Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff ist schon älter (zusammenfassend: Bach 2013, 15–21). Als Folge der zumindest teilweise ernüchternden Ergebnisse wird die Diskussion seit PISA – vor allem bezogen auf den Unterricht in der Schule – intensiver und gleichzeitig kontroverser geführt. Sie widerspiegelt sich in sehr vielen wissenschaftlichen und weiteren Publikationen wie dem Lehrplan 21 und den Bildungsstandards in Deutschland und der Schweiz. In fast jedem Fachbereich spielt der Begriff heutzutage eine Rolle. Kaum ein Begriff prägte in den letzten Jahren die Sozial- und Erziehungswissenschaften derart wie der Begriff «Kompetenz» (Bach 2013, 15). Klieme und Hartig (2007) sprechen von einem Modebegriff. Weitere Autoren verweisen auf seine inflationäre Verwendung (z.B. Arnold u. Schüssler 2008; Bodensohn 2003; Weinert 2001). Kritisiert werden seine Unschärfe und die Traditionslosigkeit, mit welcher er verwendet wird. Gefragt wird sogar, «ob die Begriffe ‹Kompetenz› und ‹Kompetenzentwicklung› nicht lediglich eine neue Begriffsmode im Reigen einer sich hochschaukelnden Fachrhetorik» seien (Arnold 2002, 27). Weitere lehnen den Begriff für die Schule ganz ab (Koch 2013).
Gleichwohl ist der Begriff selbstverständlich nicht beliebig definierbar: «Wer ihn nutzt, stellt damit heraus, dass er Fähigkeiten und Bereitschaften (a) im Blick auf konkrete Situationen und Aufgaben betrachtet und zugleich (b) ihre Anwendbarkeit in einer Vielzahl solcher Situationen und Aufgaben unterstellt» (Klieme u. Hartig 2007, 14). In der Lehrerbildung kommen Standards, die Kompetenzen beschreiben, seit den 1990er-Jahren vor, in der Schweiz auch verbunden mit dem Nationalen Forschungsprogramm 33 «Wirksamkeit unserer Bildungssysteme», insbesondere der in dessen Rahmen durchgeführten Untersuchung von Oser und Oelkers (2001) zur Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme. Die damalige Quintessenz lautete: «Die Professionalisierung als komplexer Kompetenzerwerb in der Ausbildung zum Lehrerberuf liegt im Argen. Man ist erstaunt, feststellen zu müssen, dass die Verarbeitungstiefe bei zentralen Fähigkeiten zur Bewältigung der Aufgaben in diesem Beruf kaum ausgeschöpft wird […]. Das, was im Kopf der Lehramtskandidaten und -kandidatinnen entsteht, ist nicht professionelles Können und Beherrschen, sondern bloss partikuläres, verinseltes Wissen» (Oser 2001, 310). Für die Forschung zur Lehrerbildung ist Kompetenz inzwischen zu einem «konstitutiven Grundbegriff» (Bach 2013, 16) geworden.
In der Auseinandersetzung mit dem Begriff lassen sich drei Positionen unterscheiden. Wie für die Lehrerbildung aufgezeigt (Terhart 2007), werden Kompetenzen auch im Zusammenhang mit Schule und Unterricht einerseits «als die zentrale und zukunftsweisende pädagogisch-didaktische Innovation im Bildungssystem der Gegenwart» verstanden, andererseits jedoch «als ein verhängnisvoller enthumanisierender Irrweg zur Verzweckung des Menschen im Kontext einer Ökonomisierung des Bildungssystems gesehen» (Matthes 2013, 121). Dritte gehen einen Zwischenweg und sehen im kompetenzorientierten Unterricht nichts als neuer Wein in alten Schläuchen (ebd.). Unbestritten ist nur, dass der Begriff vielfach und vielfältig diskutiert und verwendet wird und die Gemüter teilweise heftig bewegt (z.B. Koch 2013; Liessmann 2014). Die Stichwortsuche zu «Kompetenz» in der Literaturdatenbank FIS Bildung ergibt über 30000 Treffer und zeigt eine rasante Zunahme von Publikationen ab den 1970er-Jahren.
Klieme und Hartig (2007), Bach (2013, 15–16) und Maag Merki (2009) machen zu Recht darauf aufmerksam, dass der Kompetenzbegriff im 20. Jahrhundert in der Sprachwissenschaft, in der Philosophie und in der Psychologie eine zentrale Rolle spielte. In seiner Theorie der Sprachkompetenz unterscheidet der amerikanische Linguist Noam Chomsky (*1928) zwischen Kompetenz als allgemeiner Sprachfähigkeit und Performanz als individueller Sprachverwendung (Sprachwissen im Gegensatz zu Sprachkönnen) und knüpft damit an die Dichotomie von langue und parole des Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure (1857–1913) an. In der Erziehungswissenschaft geht der Kompetenzbegriff auf Heinrich Roth (1906–1983) zurück, der in den 1960er-Jahren durch seine Forderung nach einer «realistischen Wende» der deutschen Erziehungswissenschaft bekannt wurde. Darunter verstand er die Entwicklung und Verwendung auch von erfahrungswissenschaftlichen – also empirischen – Forschungsmethoden in der Pädagogik zusätzlich zu den bisher verwendeten historischen und philosophischen. Roth (1971) spricht von der «Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit» und meint damit «die seelische Verfassung einer Person, bei der die Fremdbestimmung soweit wie möglich durch Selbstbestimmung abgelöst ist». Diese besteht «(a) als Selbstkompetenz […] d.h. die Fähigkeit, für sich selbstverantwortlich handeln zu können, (b) als Sachkompetenz, d.h. die Fähigkeit, für Sachbereiche urteils- und handlungsfähig und damit selbstständig sein zu können, und (c) als Sozialkompetenz, d.h. die Fähigkeit, für sozial, gesellschaftlich und politisch relevante Sach- und Sozialbereiche urteils- und handlungsfähig und also ebenfalls zuständig sein zu können» (Roth 1971, 180; zusammenfassend: Klieme u. Hartig 2007, 19–20; vgl. auch Reusser 2014a).
In die Diskussion des Kompetenzbegriffs bezieht Reichenbach (2008, 44) den Soziologen Basil Bernstein (1924–2000) ein, dessen Unterscheidung zwischen restringiertem und elaboriertem Sprachcode und damit schichtspezifisch unterschiedlichen Sprachkompetenzen in der Linguistik breit rezipiert wurde. Zudem verweist er auf den Linguisten Dell Hymes (1927–2009), der für die Soziolinguistik den Begriff der kommunikativen Kompetenz prägte. Ebenso macht er auf Piagets Ausführungen zur kognitiven Kompetenz (die auch in Chomskys Sprachtheorie von zentraler Bedeutung ist) und auf Lévi-Strauss’ kulturelle Kompetenz in der Ethologie aufmerksam. Der damaligen Diskussion von Kompetenz gemeinsam war das «anti-behavioristische […] Selbstverständnis […]: Welt wird hier in Interaktion mit der Umwelt konstruiert, als Leistung individueller und sozialer Aktivität» (ebd.).
Nach der langen Zeit des amerikanischen Behaviorismus waren Piaget, Frederic Ch. Bartlett (1886–1969), Aebli, Chomsky sowie Jerôme Bruner (*1915), Ulric Neisser (1928–2012) und Weitere die Wegbereiter und Gestalter der «kognitiven Wende» Ende der 1960er-Jahre. In der Folge entwickelte sich in den nächsten dreissig Jahren das heutige kognitiv-(sozial-)konstruktivistische, adaptive Lehr- und Lernverständnis (z.B. Reusser 2006; Hasselhorn u. Gold 2013; Woolfolk 2014), welches dem kompetenzorientierten Unterricht zugrunde liegt.
Mit Kompetenz verbindet sich Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft. Sie ist vorhanden, wenn sich diese drei Aspekte «in Deckung befinden» (Klieme u. Hartig 2007, 12; vgl. auch Duden Fremdwörterbuch). «Kompetenz im Sinne einer Zuständigkeit bzw. Befugnis verweist auf die Verwendung in einem vor allem juristischen Kontext. Kompetenz verstanden als Fähigkeit bestimmt dagegen u.a. das linguistische, psychologische und erziehungswissenschaftliche Begriffsverständnis» (Bach 2013, 16). Mit «Fähigkeit» werden in den heutigen Sozialwissenschaften psychische Dispositionen bezeichnet, die Handeln ermöglichen. «Bereitschaft» bezieht sich auf die kontext- und situationsgebundene Verwendung der «Fähigkeit» im Zusammengehen mit Motivation und Volition (Wollen). Hinzu kommt oftmals eine «normative Komponente», bei der es um die Frage geht, «wer warum welche Dispositionen erwerben und nutzen soll bzw. darf» (Klieme u. Hartig 2007, 13).
Kompetenz bezieht sich aus der Sicht nach PISA «sowohl auf Handlungsvollzüge als auch auf die ihnen zugrunde liegenden mentalen Prozesse und Kapazitäten, zu denen Kognition, Motivation und Volition bzw. Wissen und Können gehören» (Klieme u. Hartig 2007, 13). Sie umfasst netzartig zusammenwirkende Facetten wie Wissen, Fähigkeit, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation (Klieme et al. 2003, 72–73). Als Disposition befähigt Kompetenz eine Person, konkrete Anforderungssituationen zu bewältigen – beispielsweise Deutschunterricht zu planen, durchzuführen und bei den Schülerinnen und Schülern hinsichtlich des angestrebten Zuwachses an Wissen und Können zu beurteilen. Sie zeigt sich in der Performanz einer Lehrperson, nach heutigem kognitiv-(sozial-)konstruktivistischem, kompetenzorientiertem Verständnis (zusammenfassend z.B.: Lersch u. Schreder 2013) zu unterrichten. Als adaptive Lehrkompetenz bildet sie die Voraussetzung, um den Unterricht – der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragend – zu gestalten (Beck et al. 2008; Rogalla und Vogt 2008; Brühwiler 2014). Sie schliesst die (fach-)didaktische Strukturierung des Unterrichts ein, mit der die heterogene Schülerschaft der Klasse möglichst passend kognitiv aktiviert wird. Gemäss den Bildungsstandards in Deutschland und dem Lehrplan 21 in der Schweiz soll Unterricht den Erwerb von mindestens grundlegenden Kompetenzen im betreffenden Schulfach durch alle Schülerinnen und Schüler ermöglichen.
Für Weinert (2001, 27), dessen weitverbreitete Definition auch dem Lehrplan 21 zugrunde liegt, umfasst Kompetenz
«die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können».
Kompetenzen sind weder angeboren, noch beruhen sie auf Reifungsprozessen, sondern sind das Ergebnis intelligenter Wissenskonstruktion (Ziegler, Stern u. Neubauer 2012, 17–20). White (1959, 297, zit. in Bach 2013, 16) bezeichnet Kompetenz als «an organism’s capacity to interact effectively with its environment». Nach ihm – und wie dargestellt auch mit Deci und Ryan (1985) – hat das Individuum ein intrinsisch motiviertes Bedürfnis nach Kompetenz, um Einfluss auf die eigene Umwelt zu nehmen und ihre Anforderungen effektiv zu bewältigen. Kompetenz ist keine generelle Fähigkeit, womit sie sich unterscheidet von Intelligenz als einer allgemeinen kognitiven Fähigkeit. Sie ist auf spezifische Inhalte, Kontexte und Situationen bezogen und schlägt sich nieder in konkretem Handeln (Maag Merki 2009). Neuere Publikationen (z.B. Paechter et al. 2012) thematisieren Kompetenz im fachdidaktischen Zusammenhang mit Schulfächern (Domänen). So etwa gehen Gailberger und Wietzke (2013) mit verschiedenen Beiträgen auf die Kompetenzorientierung im Deutschunterricht ein.