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1.4.5Macht

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Tom Levold

Das Thema der Macht in sozialen Beziehungen führte in der Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung lange ein stiefmütterliches Dasein. Seine Vorläufer, der strukturelle Ansatz von Minuchin und Fishman (1992) und der strategische Ansatz Haleys (2011), maßen noch problematischen Machtfigurationen (fehlenden oder übermäßig harten Generationengrenzen, Koalitionen von Familienmitgliedern, Verkehrung von Hierarchien etc.) einen bedeutsamen Anteil an der Entstehung familiärer Pathologien bei. Besonders Haley betonte die Rolle der Macht bei allen Versuchen, Einfluss auf die Umwelt auszuüben:

»Machttaktiken werden angewandt, um Einfluss und Kontrolle über die soziale Welt zu gewinnen. […] Ein Mensch kann anderen befehlen, ihn hochzuheben und zu tragen, während ein anderer das Gleiche erreicht, indem er in Ohnmacht fällt. Beide bestimmen, was in ihrer sozialen Umwelt geschieht, indem sie Taktiken der Macht einsetzen« (ebd., S. 26).

Therapeutische Strategien und Interventionen sind aus dieser Perspektive ebenfalls Machttaktiken, die als Instrument zur Veränderung problematischer Beziehungsmuster eingesetzt werden. Auch Mara Selvini Palazzoli, die Wegbereiterin der Mailänder Schule, beschrieb die Problemdynamik von Familien mit anorektischen oder psychotischen Mitgliedern als Folge innerfamiliärer Machtkämpfe (»schmutzige Spiele«, Selvini Palazzoli et al. 1992), wobei die Therapie darin liege, die Eltern im »Kampf gegen die Macht der Symptome« zu unterstützen (ebd., S. 93).

Eine gegenläufige Haltung nahm Selvinis wichtigster Mentor Gregory Bateson ein, der in Geist und Natur warnte:

»Die Macht selbst korrumpiert nicht so sehr wie der Mythos der Macht. […] ›Macht‹, ›Energie‹, ›Spannung‹ und die anderen quasiphysikalischen Metaphern (verdienen) kein großes Vertrauen, und unter ihnen ist ›Macht‹ eine der gefährlichsten. Wer eine mythische Abstraktion begehrt, muss immer unersättlich sein« (1995, S. 272).17«

Auch wenn Bateson sich wenig zu diesem Thema geäußert hat, dürfte klar sein, dass sich seine Kritik auf die »klassischen Prämissen der Machttheorie« (vgl. Luhmann 2012) bezieht: Sie gehen davon aus, dass Macht eine Art verfügbarer Substanz oder Eigenschaft sei, die Personen »haben« und »einsetzen« können. Damit sind immer Kausalannahmen in dem Sinne verbunden, dass A das Verhalten von B durch Einsatz von Macht festlegen kann. Zudem bestimmen klassische Machttheorien

»das Wesen der Macht vom Konfliktfall und diesen vom Kampfausgang her. In einer solchen Theorie könnte die Macht dessen, der im Kampf verlieren würde, unberücksichtigt bleiben« (Luhmann 2012, S. 25).

Im Zusammenhang mit dem Aufkommen konstruktivistischer Ideen und der Ablehnung linear-kausaler Konzepte für das Verständnis sozialer Systeme wurde die Idee radikal infrage gestellt, therapeutische Interventionen als strategische Instrumente zu betrachten (als typische Beispiele s. de Shazer 1986; Dell 1989). Das Konzept der Therapie als Machtspiel wurde durch die Idee der Therapie als Konversation und Kooperation abgelöst (Hoffman 1996).

Die Auseinandersetzung mit familialer Gewalt (Goldner et al. 1992; Levold, Wedekind u. Georgi 1993; Levold 2012a, b; Vetere u. Cooper 2007) im systemischen Kontext führte schließlich zu einer differenzierteren Sichtweise. Es wurde deutlich, dass das Problem der Gewalt therapeutisch ohne ein Verständnis von Machtverhältnissen nicht gut zu bearbeiten war. Dabei wird das Involviertsein aller Beteiligten in zirkuläre, machtbezogene, eventuell in Gewalt mündende Systemdynamiken anerkannt,18 andererseits wird diese zirkuläre Beschreibung mit einer klaren Zuschreibung von Verantwortung für die Ausübung von Gewalt durch die handelnden Akteure verbunden.

Für ein systemisches Verständnis von Macht ist es dennoch wichtig, Macht und Gewalt, deren Bedeutungshöfe aus einer Perspektive moralischer Kritik sehr nahe beieinanderliegen, deutlich voneinander zu unterscheiden, ebenso wie Macht und Herrschaft (als institutionalisiertes Machtverhältnis).

Wie lässt sich nun Macht systemisch bestimmen? Niklas Luhmann hat hierzu in zwei wichtigen Arbeiten (1988, 2012), von denen eine erst posthum veröffentlicht worden ist, grundlegende Betrachtungen angestellt. Macht als »ein lebensweltliches Universale gesellschaftlicher Existenz« (Luhmann 1988, S. 90) ist kein substanzieller, sondern ein relationaler Begriff. Er beschreibt weder Eigenschaften noch Besitztümer, sondern soziale Relationen. Die Potenziale der Akteure in sozialen Systemen sind ebenso wie ihre Präferenzen ungleich verteilt, aber aufeinander bezogen und damit konfliktträchtig. Machtsituationen sind daher in der Regel asymmetrisch strukturiert, was die Verfügung über Machtquellen und Machtmittel betrifft (vgl. ausführlich Levold 2001). Machtquellen sind z. B. die Möglichkeit zur Ausübung von Zwang, die Nutzung von Geld, Status, Zugehörigkeit und anderen Ressourcen, Positionen qua Amt oder Rolle, Expertentum, persönliche Attribute wie Charisma oder Attraktivität, aber auch Verweigerung, Unterbrechung, Verzögerung etc. als »negative Macht« (Sofsky u. Paris 1994). In diesen Kontexten können alle möglichen kommunikativen Strategien als Machtmittel infrage kommen, etwa negative und positive Sanktionen wie Drohungen, Strafen bzw. Lob oder finanzielle Anreize, aber auch Präsentation von Stärke, Provokationen, Intrigen, Informationsmanöver, Legitimierungsstrategien, Moralisierung usw. (ebd.; Paris 1998).

Bei alldem ist ausschlaggebend, dass es bei Macht immer um ein Kommunikationsphänomen geht. Kommunikation besteht für Luhmann in der Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen (vgl. Abschn. 1.3.6). Dabei müssen die Kommunikationsteilnehmer jeweils kontingente, also prinzipiell auch ganz anders mögliche Selektionsleistungen erbringen, d. h. auswählen, was sie als relevant, notwendig, sinnvoll etc. betrachten, und zwar im Wissen darüber, dass die anderen Teilnehmer dies ebenfalls tun. Um die Komplexität der daraus entstehenden Kommunikationsketten zu reduzieren (schon allein, um Endloskommunikation ohne Festlegungen zu unterbinden), braucht es Kommunikationsmechanismen, die Einfluss nehmen »auf einen Partner, der in seinen Selektionen dirigiert werden soll« (Luhmann 1988, S. 8). Als Beispiele für solche Mechanismen nennt Luhmann Liebe, Wahrheit, Geld und Macht und spricht hier von »symbolisch generalisierten Medien der Kommunikation« (ebd.). Entscheidend ist dabei, dass die Voraussetzung von Macht darauf beruht, dass die machtunterworfene Person Wahlmöglichkeiten hat, sich also prinzipiell auch anders entscheiden kann. Weil Macht »steigerbar nur zusammen mit einer Steigerung der Freiheiten aufseiten Machtunterworfener« ist, ist sie von Zwang oder gar Gewalt zu unterscheiden. Sie findet in einem symbolischen Raum statt, in dem die Drohung mit Gewalt zwar als Mittel zur Einflussnahme fungiert. Macht ist jedoch dann erst erfolgreich, wenn es für alle Kommunikationsteilnehmer gelingt, den Einsatz des angedrohten Mittels zu vermeiden! Kommt es zur Gewalt und damit zum Wechsel von »der symbolischen zur organischen Ebene« (ebd., S. 61), wird Macht als Kommunikationsmedium »annulliert« (ebd.). Byung-Chul Han (2005) weist darauf hin, dass der Grad der kommunikativen Vermittlung entscheidend dafür ist, ob Macht als Zwang oder als Freiheit wahrgenommen wird: »Vermittlungsarmut erzeugt Zwang.«

Jede soziale Interaktion, sei es in Organisationen oder in privaten Beziehungen, lässt sich daher – wie z. B. unter den Gesichtspunkten affektiver Kommunikation oder Kooperation – auch unter Machtaspekten beobachten. Freilich ist Macht auch eine rückbezügliche Beobachterkategorie, ihre Verwendung, etwa im Vorwurf der Machtausübung, kann selbst unter Machtgesichtspunkten beobachtet werden (Levold 2011d, S. 113). Vor diesem Hintergrund müssen die Kommunikationsteilnehmer in sozialen Systemen die Thematisierung von Macht sorgfältig dosieren.

Therapie und Beratung können also einerseits Machtfragen im Klientensystem zum Gegenstand haben, andererseits selbst auch als Machtverhältnis verstanden werden. Will man Machtkonflikte konstruktiv bearbeiten, ist eine entmoralisierende und entdämonisierende Haltung hilfreich, die das notwendige Interesse der Beteiligten für eigene Machtkonflikte wecken kann. Dabei geht es nicht um einseitigen Machtzuwachs, sondern um die Stärkung der Akteursposition aller Beteiligten. Entscheidend für den Erfolg einer solchen Vorgehensweise ist eine ausreichende Vermittlung zwischen Zwang und Freiheit, damit das zu beratende System handlungs- und entscheidungsfähig gehalten wird und gleichzeitig die Interessen der beteiligten Akteure berücksichtigt werden.

Dazu gehört auch die Reflexion des Einsatzes von Machtmitteln unter ethischen Aspekten bzw. unter Berücksichtigung der impliziten und expliziten Werte des betreffenden Systems.

Therapie und Beratung eröffnen den Klientensystemen Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion und erhöhen damit den Grad der Vermittlung sowohl im Konflikt als auch in der alltäglichen Kooperation. Darin liegt auch die Macht von Therapie und Beratung. Im Sinne der Machtspiele der beobachteten Systeme sind sie eher machtlos, weil sie weder selbst die Machtfrage stellen noch systeminterne Machtoptionen über Entscheidungen oder Sanktionen realisieren können – sie können allenfalls aus dem Spiel aussteigen und den Beratungsauftrag zurückgeben. Wird ihnen allerdings vom Klientensystem Macht zugesprochen, ermöglicht das dem Therapeuten z. B., als Beobachter etwas zu sagen, was aus dem System heraus nicht gesagt werden kann (weil es womöglich sogleich als systeminternes Machtmanöver diskreditiert wird).

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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