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1.4.6Geheimnisse
ОглавлениеMichael Grabbe
Offenheit wird in unserer Gesellschaft allgemein in Beziehungen und entsprechend auch in der therapeutischen Arbeit zumeist grundsätzlich positiv bewertet. Andererseits gelten Geheimnisse für die Grenzziehung und Identitätsbildung in sozialen Systemen als wichtig und schützenswert.
Sowohl das Hüten als auch das Offenlegen von Geheimnissen ist mit Machtfragen verbunden. Tabus und Geheimnisse schaffen Verbindungen zwischen Eingeweihten und grenzen gleichzeitig Nichteingeweihte aus. Geheimnisse schützen zumeist zentrale Werte eines Systems und regeln soziales Handeln.
In privaten Beziehungen besteht oft das Verlangen, den geliebten Menschen in- und auswendig kennen zu wollen. Das gemeinsame Wissen verbindet und soll dem Paar zur Identität verhelfen. Vermutete Geheimnisse werden dann schnell als Vertrauensbruch behandelt.
Im therapeutischen Bereich werden allgemein der Aufdeckung von Geheimnissen und Tabus zumeist Heilungsqualitäten zugeschrieben: Das gemeinsame Wissen über Geheimnisse verbinde und mache dann einen Teil des Besonderen der Therapeuten-Klienten-Beziehung aus – unerheblich, ob es sich um faktische Gegebenheiten oder geheime Träume handele. Viele Therapeuten erleben die Offenheit der Klienten als Zeichen ihrer eigenen Bedeutsamkeit und Vertrauenswürdigkeit. Seltener werden Klienten gewürdigt, wenn sie »gemauert« haben und verschwiegen waren, ihre Grenzen gezeigt und ein Schutzbedürfnis ihrer Privatsphäre beansprucht haben. Eher wird das als »Therapieresistenz« und »Widerstand« gedeutet anstatt als angemessenes Kooperationsangebot, auch wenn später ausdrücklich Grenzsetzung als Therapieziel formuliert werden sollte.
Die Dynamik sozialer Systeme und ihrer Beziehungen lebt von der Balance zwischen Offenbarung und Geheimhaltung. Geheimnisse helfen dabei, sich und andere sowie eigene zentrale Werte zu schützen und Beschämung zu vermeiden. Andererseits bindet das Hüten von Geheimnissen oder gar die Aufrechterhaltung einer Lebenslüge viel Energie und kann die zukünftige Lebensgestaltung destruktiv beeinflussen.
Geheimnisse zuzulassen bedeutet aber auch: dem anderen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung zuzugestehen. Geheimnisse können interessant machen und Individualität steigern. Jeder Mensch sucht neben Nähe und Vertrautheit auch Autonomie, Spannung und Abwechslung.
Ein bedeutsames Thema für sich zu behalten und eine vorzeitige Offenlegung zu vermeiden kann wichtige Prozesse ins Rollen bringen: Die innere Auseinandersetzung und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln können einen emanzipatorischen Effekt haben. Kinder aus früheren Beziehungen, Straftaten, Abtreibungen, Alkoholmissbrauch oder Gewalterfahrungen: Eine Aufarbeitung mit dem Lebenspartner ist nicht immer automatisch sinnvoll. Wird über geheimniswürdige Ereignisse, Motive oder Gefühle berichtet, können Beziehungspartner fassungslos, verwirrt oder befangen reagieren, da das Bild vom Gegenüber und von der Beziehung überprüft werden muss. Das Geheimnis verbindet dann nicht, sondern trennt desillusionierend.
Generell scheint der Umgang mit Geheimnissen also eine Gratwanderung zu sein. Gibt es ein Recht auf »Wahrheit«? Hat der Andere ein Recht auf Offenlegung, um vielleicht atmosphärische Spannungen und Wahrnehmungen einordnen zu können? Oder verzichtet man auf den Anspruch, alle Erfahrungen zu teilen, und entscheidet sich für das Recht auf getrennte Lebenswelten hinsichtlich der persönlichen Geschichte? Haben Therapeuten und Therapeutinnen rollenbedingt ein Recht auf Aufklärung?
Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es wohl nicht. Sie wird je nach Kultur und Zeitgeist verschieden gehandhabt. Oft muss erst der geeignete Zeitpunkt (Kairos) eintreten, bis belastende Erfahrungen überhaupt ausgesprochen werden können, wie man an den oft erst Jahrzehnte später erfolgenden Berichten über Erlebnisse und Taten während des Krieges oder über Vergewaltigungen und andere Übergriffe sehen kann. Belastender als die reinen Fakten scheinen dabei die damit verbundenen Motive, Gefühle und Bedeutungen zu sein.
Familiengeheimnisse werden durch implizite Regeln geschützt, die dafür sorgen, dass »man« bestimmte Fragen nicht stellt, stellen darf und sogar Fragen in Vergessenheit geraten. Diese Regeln, oft unausgesprochen und nicht hinterfragt, können eine Weiterentwicklung des Systems behindern, wenn sie einer Beobachtung entzogen sind oder diese Beobachtung selbst tabuisieren. Auf gesellschaftlicher Ebene übernehmen oft Kunst und Literatur notwendige Enttabuisierungen, auf der privaten Ebene kann eine Therapie hilfreich sein. Tabuverstöße leiten Wandel ein – oder festigen Wertesysteme. So ist der Diskurs über Sexualität heute im Vergleich zu früher selbstverständlicher und befreiter, erzeugt aber aufgrund seiner Medienpräsenz auch neue Leistungserwartungen. Oft sind solche Themen individuell weiterhin schambesetzt, etwa wenn vermeintliche Standards nicht erfüllt werden.
Bei Geheimnissen, die mit Traumatisierungen verbunden sind, ist ein besonderes Gespür seitens der Therapeutinnen geboten. Klientinnen kommen oft mit davon ganz unabhängigen Anliegen in die Praxis und werden meist zunächst oder überhaupt nicht ein entsprechendes Auftragsziel definieren (können). Im Verlauf der Gespräche mag intuitiv ein Zugang zu den schmerzhaften und schambesetzten Themen hergestellt werden. Hier gilt es, die Wahl der Fragen und Interventionen so zu gestalten, dass es auch bei besten Absichten nicht zu erneuten Grenzüberschreitungen und Verletzungen kommt.
Geschädigte vertrauen oft erst nach Jahren darauf, dass ihnen Glauben (!) geschenkt wird, wie man an der aktuellen Debatte über den Missbrauch in kirchlichen oder pädagogischen Einrichtungen in Irland, Österreich und Deutschland sehen kann. Oft finden sie erst nach Jahren Worte oder Ausdrucksformen für das Erlebte und Erlittene – bzw. fühlen sich erst dann so gestärkt, dass ihre »Seele« es verkraften und »integrieren« kann. Oft haben sie sich selbst und ihrer Wahrnehmung jahrelang nicht geglaubt und das Geheimnis »abgespalten«. Bei einer entsprechenden Resonanz in der Öffentlichkeit kann durch die Entprivatisierung des Leidens ein Solidaritätsgefühl unter den Geschädigten ermöglicht werden (Selbsthilfe- oder »Opfer«-Gruppen). Eine therapeutische Beziehung kann auch zu einem ersten Schritt in die Öffentlichkeit ermutigen. War man in einer traumatisierenden Situation vielleicht allein, so lassen sich die Folgen möglicherweise gemeinsam leichter (er)tragen. Andererseits können Angst vor Strafe und Prestigeverlust sowie Scham auch noch einmal größer werden, da die Ereignisse nach wie vor als peinlich erlebt werden und dem idealen Selbstbild widersprechen. Ein bedeutsamer Unterschied ist dabei auch, ob man schon als Kind zur Geheimhaltung gezwungen wird oder ob man als Erwachsener mit einer eigenen Entscheidung daran beteiligt ist.
Bradshaw (1997) hat ausführlich Familiengeheimnisse aufgelistet und gesunde, konstruktive von »dunklen«, destruktiven Geheimnissen abgegrenzt, wobei allerdings der Eindruck erweckt wird, als sei eine Zuordnung eindeutig möglich. Dunkle Geheimnisse sind auf Religion, Geburt, Tod, Körper, Erfolg/Misserfolg, Besitz, Leiden, das Selbst, Intimität und Sexualität bezogen. Sie sind oft mit jahrelangen Qualen verbunden, nicht selten über Generationen hinweg. Sie können krank machen und zu »posttraumatischen Belastungsstörungen« führen ebenso wie zu Machtmissbrauch, Ausgrenzung, quälenden Triangulationen, Rechtsverletzungen, Intimitätsstörungen, Wahrnehmungsirritationen, Angst, Verwirrung, undefinierter Wut, Erstarrung, Selbstdestruktion, Familienbeziehungsstörungen – um nur einiges aufzuzählen (vgl. auch die anschaulichen Fallgeschichten bei Imber-Black 1999).
Es geht allerdings nicht um das Entweder-oder, nicht um Offenlegung oder Bewahrung von Geheimnissen, sondern um einen balancierten Umgang damit. Es scheint empfehlenswert, Geheimnisse regelmäßig »durchzulüften« (Grabbe 1998) und ihre aktuelle Bedeutung und Wirkung zu bewerten: Ist es besser, sie zu bewahren, oder ist es Zeit, sie preiszugeben, um eventuell nicht auch noch spätere Generationen durch dunkle Geheimnisse zu belasten?
Dabei kann man auf gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Metaphern und analogen Methoden zurückgreifen. Das Tempo und der Zeitpunkt einer Offenlegung sollten durch die Klienten bestimmt werden. Rituale können dabei Sicherheit geben. Die Imagination einer schwarzen Kiste, aber auch einer Schatzkiste, eine Externalisierung des Geheimnisses als dunkles, energiefressendes Monster, ein verbergendes Tuch o. Ä. können für die Entwicklung einer sicheren Interaktion mit dem Geheimnis hilfreich sein. Wichtig ist dabei eine empathische Begleitung sowie die Würdigung von schützenswerter Intimität und identitätsstiftenden Lebenserfahrungen, verbunden mit der Prüfung von Gewinn und Verlust bei einer Offenlegung. Während des »Durchlüftens« kann es zu neuen Perspektiven, Beschreibungen und zu neuen Bewertungen kommen. Eine bislang dominierende Geschichte (White u. Epston 2009) könnte von einer er- bzw. gefundenen Geschichte abgelöst werden.
Mögliche Fragen wären: Angenommen, es gäbe ein Geheimnis in Ihrer Familie, welche Farbe hätte die Kiste, in der es bislang verborgen ist? Wo wäre der Platz im Augenblick? Gäbe es einen besseren? Welche Bedeutung würde ihm gegeben? Was würde sich ändern, falls es innerhalb der Familie publik würde? Wer würde sich am meisten freuen? Wer hätte das stärkste Interesse an der Lüftung des Geheimnisses? Was wäre der Preis, was der Gewinn? Was, wenn sich das Ganze als ein Mythos herausstellen würde? Wie würde sich das wohl auf die folgenden Generationen auswirken? Was waren die guten Gründe, es bislang verschlossen gehalten zu haben? (Weitere Fragen s. Grabbe 1998). Danach könnte gemeinsam entschieden werden, ob es nun an der Zeit ist, das Geheimnis zu lüften oder ob die »Gefahr« und das Schutzbedürfnis (noch) zu groß sind. Dabei gilt es, jeder Entscheidung als Therapeut Respekt zu zollen und nicht zu drängen.
Auch ein virtueller Gang in den Keller oder auf den Dachboden, dorthin, wo Geheimnisse oft einst verstaut wurden und lagern, kann helfen: Wo, wie und wann wurde es deponiert? Liegen dort Skelette oder Schätze (vgl. Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2004)? Ist es das »Eingemachte« im Sinne eines seelisch verletzenden Themas oder im Sinne einer Ressource, die für Notzeiten konserviert wurde und heute ihren Nutzen haben kann? Handelt es sich um »Leichen im Keller«, die anfangen zu stinken? Wer hätte den Mut oder die Verzweiflung, Lichtscheues ans Licht zu bringen? Was würde sich für wen dadurch besonders ändern etc.?
Manche Geheimnisse werden auch einfach »vergessen«, machen nur den Keller voll und sollten zum »Sperrmüll« als Restwertstoff bzw. zum Recyceln – das kostet vielleicht Energie, kann aber auch andererseits welche bringen und freisetzen.
Systemische Therapie sieht eine zentrale Aufgabe darin, epistemologische Unterschiede zu erzeugen. Das Durchlüften von Geheimnissen und Tabus kann dazu beitragen, die Beteiligten aus dem Griff von Angst und Scham zu befreien und Mythen aufzulösen – ein schonungs- und respektloses Ans-Licht-Zerren kann dagegen zu Entblößungen, Würdeverlust und neuen Traumatisierungen führen. Verbleiben Themen oder Ereignisse im Tabubereich, dann kann Lebensenergie durch Kontrollerfordernisse gebunden bleiben, während eine Neubewertung mit einer (möglichen) Trauerarbeit neue Lebensqualität und eine veränderte Identität ermöglichen kann. Systemische Therapeutinnen können dabei mit einer allparteilichen Haltung hilfreich sein und Perspektivenvielfalt anbieten.