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Zeit und Beziehung

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Fünf Gesichtspunkte tragen zu partnerschaftlichen Spannungen bei: Zeitgefühl, Tempo, Rhythmus, Zeitperspektive und Pünktlichkeit (Fraenkel 2011a):

Zeitgefühl: Die griechische Antike kennt drei grundlegende Zeitkonzepte. Chronos meint den Zeitstrahl von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft, wie er mit Uhr und Kalender gemessen wird. Aeon meint die unbewegliche, unveränderbare, ewige Zeit. Kairos ist der besondere Moment, der, wenn er genutzt wird, das Leben eines Menschen grundlegend verändern kann.

Diese antiken Zeitvorstellungen sind auch heute noch nützlich. Die von Uhr und Kalender organisierte Zeit ist heute Lebensgrundlage der meisten Gesellschaften. Tägliche Abläufe in der Familie oder bei der Arbeit, Schul- und Freizeitaktivitäten der Kinder, Freundes- und Familientreffen – alles wird von Uhr und Kalender bestimmt. Ein zeitgemäßes Verständnis des Äons erkennen wir in dem wachsenden Bedürfnis, »von der Uhr loszukommen« und in die Gegenwart einzutauchen – Yoga, Meditation, Achtsamkeit. Den Kairos erkennen wir heute in der Suche nach tief berührenden Erfahrungen, seien sie säkular oder spirituell bestimmt. Konflikte entstehen, wenn die Partner ihren unterschiedlichen Zeitvorstellungen unterschiedlichen Wert beimessen.

Bei John und Sally (Namen aus Fallbeispielen des Autors) führte ein unterschiedliches Zeitgefühl zu intensiven Auseinandersetzungen bis hin zu Trennungsdrohungen. Die Klärung der unterschiedlichen Zeitvorstellungen in der Therapie erlebte das Paar als hilfreich. Für ihn als »Chronos-Anhänger« war es wichtig, Buch zu führen, wie er seine Zeit »ausgab«. Sie legte als »Anhängerin Äons« besonderen Wert auf Aktivitäten, die es ihr ermöglichten, das Korsett täglicher Routineabläufe abzulegen. Im Weiteren konnten die Quellen dieser unterschiedlichen Zeitvorstellungen in den jeweiligen Herkunftsfamilien herausgearbeitet werden: Von ihm erwarteten seine der Oberschicht angehörigen Eltern, sein Selbstwertgefühl durch Produktivität zu beweisen, während sie, die der Unterschicht entstammte, sich ermutigt fühlte, ihr Leben so zu genießen, wie es ihren Eltern im gleichen Alter nicht möglich gewesen war.

Tempo: Partner können große Tempounterschiede im Alltag aufweisen – beim Reden, Laufen, Essen, Baden, bei der Hausarbeit etc. –, die oft die Quelle anfänglicher wechselseitiger Anziehung sind, u. a. weil sie eine Bedeutung für die wechselseitige, unbewusste Regulierung der physiologischen oder emotionalen Spannungen haben können. Der schnellere Partner steckt den langsamen mit seiner Energie an, wogegen der langsame dem schnelleren hilft, zur Ruhe zu kommen. Wenn diese Unterschiede sich zuspitzen, können sie konflikthaft werden. Die Partner fühlen sich dann vom anderen kontrolliert und frustriert.

Mick und Eve stritten z. B. immer wieder über die Erledigung der Hausarbeit. Er fand, ihr Tempo sei Ausdruck ihrer Oberflächlichkeit, sie erlebte ihn als ineffizient und bemüht, unangenehmen Aufgaben dadurch auszuweichen, dass er sich für angenehmere mehr Zeit nahm. Ein Blick in die Vergangenheit half zu erkennen, dass ihr jeweiliges Tempo charakteristisch für ihre Persönlichkeiten war und auch in anderen Lebensbereichen zum Ausdruck kam. Beide konnten wieder die attraktive Seite ihrer unterschiedlichen Geschwindigkeiten erkennen, was dazu führte, dass die wechselseitige Kritik zugunsten größerer Wertschätzung abnahm. Die Anerkennung ihrer Unterschiedlichkeit erlaubte ihnen schließlich auch, Einfluss auf das Tempo des jeweils anderen zu nehmen und diesen Einfluss zuzulassen.

Rhythmus: Interaktionen werden in ihren wiederkehrenden Mustern durch vier Aspekte bestimmt: die Häufigkeit, die Dauer der Interaktionseinheiten, ihre Abfolge und die Kalender- und Uhrzeit ihres Auftretens.

Paarkonflikte können aus jedem dieser Gesichtspunkte entstehen. Zum Beispiel streiten Paare darüber, wer mehr oder weniger zu Wort kommt oder dass ein Partner den anderen unterbricht oder aber zu lange schweigt, wenn der andere gesprochen hat. Kommunikationsübungen können helfen, die Redezeit ausgewogener zu gestalten und einen flüssigeren, befriedigenderen Rhythmus zu entwickeln.

Ein anderer häufiger Konflikt entzündet sich an der Frage der morgendlichen oder abendlichen Routinen. Wann wird aufgestanden, wann ins Bett gegangen, wer verlässt wann das Haus zur Arbeit oder zu anderen Aktivitäten, wer kommt wann heim etc.? Auch in der Sexualität können sich Konflikte an Meinungsverschiedenheiten über die Abfolge und Dauer bestimmter Praktiken wie Vorspiel oder Geschlechtsverkehr oder den richtigen Zeitpunkt im Tagesablauf (z. B. vor oder nach der Hausarbeit) entzünden. Selbst kleine Veränderungen können den Partnern guttun, können aber auch Konflikte kurzfristig auflösen.

Wenn es gelingt, den Partnern vor Augen zu führen, dass sie oft zwar das Gleiche wollen, aber ihre Rhythmen nicht ausreichend synchronisieren können, kann dies ein hilfreicher Ausgangspunkt für Kompromisse sein, sich »in Einklang zu bringen« und Konflikte oder Machtkämpfe zu überwinden.

Zeitperspektive: Menschen unterscheiden sich darin, wie weit sie die Vergangenheit und die Gegenwart oder die Zukunft in den Mittelpunkt stellen (vgl. ausführlich Fraenkel 2011a). Konflikte entstehen, wenn jeder der Partner auf der »Richtigkeit« des eigenen Zeitgefühls beharrt, etwa wenn einer sein Leben mit Kalender und ausführlichen To-do-Listen strikt einteilt, der Partner aber Freiraum für spontane Entscheidungen in allen Lebensbelangen einfordert. Auch hier geht es darum, zu mehr Ausgewogenheit zwischen unterschiedlichen Orientierungen in der Zeit beizutragen, die für die Überwindung von Machtkämpfen hilfreich ist.

Pünktlichkeit: In vielen Kulturen gibt es Unterschiede in der Bedeutung von Pünktlichkeit (ebd.). Pünktlichkeit oder kalkulierte Verspätung sind z. B. in manchen Kulturen Zeichen für Macht und Ansehen. Ebenso unterscheiden sich Paare in ihrer Einstellung zur Pünktlichkeit. Meist ist es eine Kombination kultureller und herkunftsfamiliärer Einflüsse, aus der Konflikte entstehen können.

Alan, ein Sohn einer jüdischen Familie, war schon als Kind dafür verantwortlich, dass sein depressiver Vater (ein Holocaust-Überlebender) pünktlich zum Essen oder anderen Familienereignissen kam. Die deutschen Eltern seiner brasilianischen Frau Claudia waren in der Nazi-Zeit als Regimegegner aus Deutschland geflohen. Claudia grenzte sich von ihrer Herkunftsfamilie ab, indem sie das Pünktlichkeitsgebaren ihrer Eltern ablehnte und »Brasilianerin« wurde. Obgleich Alan vieles an der brasilianischen Kultur sehr gefiel, konnte er niemals Claudias Unpünktlichkeit akzeptieren. In der Auseinandersetzung der Partner mit diesen mehrgenerationalen Einstellungen zur Pünktlichkeit wuchsen das wechselseitige Verständnis und die Bereitschaft zu einem ausgewogeneren Verhältnis zur Pünktlichkeit.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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