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Die Dynamik von Verdienst, Vermächtnis und Loyalität

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Die ethisch-existenzielle Perspektive ist für das Verständnis der Dynamik von Familien und Paaren sowie größeren sozialen Systemen wichtig. Sie geht davon aus, dass in Familien eine Art Buchführung über die »Verdienste« und »Schulden« der Mitglieder existiert. Die Balance von Geben und Nehmen muss beachtet werden. Ein Gleichgewicht wird, wenn überhaupt, nur vorübergehend erreicht. Das Beziehungssystem gleicht einem Mobile (Stierlin 2007). Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und nach Loyalität wird als ein menschliches Grundmotiv angesehen, das Loyalitätssystem der wechselseitigen Verpflichtungen als ähnlich grundlegend wie das Bindungssystem (Pfitzer u. Hargrave 2005). So sind Eltern ihren Kindern und Kinder ihren Eltern verpflichtet. Diese Verpflichtung können sie einlösen, indem sie z. B. selbst Kinder aufziehen, sich um die Eltern sorgen oder andere Aufgaben übernehmen. Eltern können die Verpflichtung ihrer Kinder verspielen, indem sie sie vernachlässigen oder überfordern. Konflikthafte Delegationen und Rollenzuschreibungen sind in der Regel mit Loyalitätskonflikten verbunden.

Loyalität zur Familie steht im Spannungsverhältnis zur Individuation. Beides muss im Verlauf des Lebens ausbalanciert werden, von der Geburt bis zum Tode. Loyalität gibt es nicht nur in der Familie, sondern auch gegenüber anderen sozialen, kulturellen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Dies ist heute in Zeiten schnellen sozialen Wandels und globaler Migration oft konflikthaft.

Andauerndes Ungleichgewicht im Wechsel von Geben und Empfangen gefährdet das Vertrauen in Beziehungen. Boszormenyi-Nagy und Spark (1984) sowie Boszormenyi-Nagy und Krasner (1986) sehen dies als Hauptursache für Störungen im zwischenmenschlichen Leben. Wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ausgebeutet, z. B. wenn unter der Vortäuschung »höherer Werte« narzisstische, materielle oder sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden, entsteht eine »Korruption der Beziehungen« (»relational corruption«). Diese Doppelbödigkeit und das dadurch gestörte Vertrauen finden sich in schwerer gestörten Familien häufig. Aus dem verletzten Gerechtigkeitsgefühl folgt das Gefühl der Berechtigung zu destruktivem Verhalten und zum Rückzug aus sozialer Verantwortung (Reich, Massing u. Cierpka 2007, S. 22). Symptome sind in der familiendynamischen Perspektive Ausdruck von ungelösten Loyalitätskonflikten.

Auf der Ebene der Paarbeziehungen können Wünsche an den Partner gerichtet werden in der Absicht, die Verdienstkonten der eigenen Ursprungsfamilie auszugleichen. In solchen Fällen erscheint es wesentlich, dass das betreffende Paar eine neue, abgegrenzte Familieneinheit mit einem eigenen Loyalitätssystem bildet, das für beide Partner bedeutsamer wird als das Loyalitätssystem ihrer Ursprungsfamilien. Gelingt dieser Loyalitätstransfer von der Ursprungsfamilie auf den Partner und die eigenen Kinder nicht, können sich heftige Beziehungskrisen entwickeln.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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