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Affekt und Emotionen im systemischen Diskurs

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Affektive Faktoren spielten im systemischen Diskurs lange Zeit praktisch keine Rolle. Sie wurden entweder als unspezifisch abgetan, als störend betrachtet oder als »selbstverständlich« vorausgesetzt. Im Vordergrund standen in der Frühentwicklung der systemischen Praxis und Theorie die vermeintlich bloß kognitiven Aspekte des Beobachtens, Unterscheidens, paradoxen Verschreibens in den innovativen Ansätzen. Zur Vernachlässigung von emotionalen Erscheinungen trug sicher auch ihre hohe Komplexität mit ihren sowohl bewussten wie unbewussten und körperlichen, psychischen wie sozialen Aspekten bei. Verwirrend war ferner die Tatsache, dass emotionale Wirkungen (z. B. schwere Traumata) ihre Anlässe um Jahre bis Jahrzehnte überdauern können und sich je nach Zeit und Kultur mit anderen kognitiven Inhalten verknüpfen. Gefühle »haben« nicht nur Geschichte, sondern sie »machen« auch »Geschichte«. Sie wandeln sich mit der Zeit und vermögen unter geeigneten Bedingungen (wie etwa im »Arabischen Frühling« von 2011) als gebündelte emotionale Energien großräumige historische Entwicklungen in Gang zu setzen (vgl. hierzu Ciompi u. Endert 2011).

Seit zehn bis 20 Jahren ist indes das Affektthema auch im systemischen Diskurs immer wichtiger geworden. Anstoß dazu gaben neben neuen neurobiologischen Befunden zum ständigen Zusammenwirken von Emotion und Kognition auch die Metaanalysen zur Wirksamkeit verschiedenster psychotherapeutischer Verfahren von Grawe et al. (1999), die zu der klaren Forderung nach Fokussierung auf die Affekte des Klienten führten. Auch Kruse (1991) bezeichnete Emotionen als das »primäre Arbeitsmaterial« der Systemtherapie, von dessen Veränderung Erfolg oder Misserfolg entscheidend abhänge. 1998 wurde das Affektproblem im Buch Gefühle und Systeme von Welter-Enderlin und Hildenbrand erstmals im deutschen Sprachraum aus systemischer Sicht gezielt behandelt (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 1998). Beachtung fanden darin u. a. die von Maturana als »Linguieren«, »Konversieren« und »Emotionieren« bezeichneten Ideen (Maturana 2001), die Untersuchungen von Stern et al. zur frühen Mutter-Kind-Beziehung sowie die von uns selbst aufgrund einer Zusammenschau von Befunden aus verschiedensten Bereichen der Emotionswissenschaft unter dem Begriff der »Affektlogik« entwickelten Konzepte zu den ständigen Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken (vgl. Levold 1998a; Ludewig 1998; Stern 1998b; Ciompi 1998). Im Jahr 2004 folgte eine breite Diskussion des Stellenwerts von Affekten in einem Sonderheft der Zeitschrift Soziale Systeme. U. a. suchten Baecker (2004) und P. Fuchs (2004) im Anschluss an einen eigenen Beitrag über einen »blinden Fleck« bei Luhmann in Bezug auf Affektwirkungen (Ciompi 2004) dort nach Antworten auf die Frage »Wozu Gefühle?«. Simon (2004) schlug vor, Affekte als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu verstehen, Wimmer (2004) analysierte ihre evolutionären und soziokulturellen Wurzeln etc. Auch in neueren systemischen Publikationen nimmt das Affektthema einen zunehmenden Raum ein (vgl. Schweitzer u. von Schlippe 2012; Schiepek 2009a; Wagner 2010).

Zu präzisieren ist, dass mit »Affekt« und »Affektivität« in diesem Kapitel in der Regel gefühlsartige Erscheinungen aller Art im Sinn eines Oberbegriffs gemeint sind. Dies ist insofern sinnvoll, als sich immer wieder neue definitorische Versuche der Abgrenzung zwischen einander überlappenden Begriffen wie »Gefühl«, »Affekt«, »Emotion«, »Stimmung«, »emotionale Befindlichkeit« etc. als wenig fruchtbar erwiesen haben. Zudem vernachlässigen sie gemeinsame Eigenschaften wie die Tatsache, dass es sich durchweg um ganzheitlich psychosomatische Befindlichkeiten mit energetisch-motivationalen Wirkungen und vielfachen Schalt- und Filtereffekten auf Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Denken handelt. Auch erlaubt erst ein derart gefasster Affektbegriff eine klare Abgrenzung zum Begriff der Kognition: Diese lässt sich nun – ganz im Einklang mit kybernetischen Konzepten und mit der zentralen Wichtigkeit von kognitiven Unterschieden in der Systemtheorie – als die Fähigkeit zum Treffen von Unterscheidungen und zu ihrer weiteren mentalen Verarbeitung (Speicherung, Reaktivierung, Kombination) definieren. Affekte sind, so gesehen, Energien (genauer: evolutionär verankerte, kontextabhängige Energieverbrauchsmuster), während Kognitionen den Strukturen entsprechen, die diese Energien kanalisieren (vgl. Ciompi 1998).

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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