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Bedeutungen von Sexualität in Beziehungen

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»Was bedeutet Sex für Sie?« Antworten auf diese Frage können sowohl zwischen Personen variieren als auch innerhalb eines Lebens- und Beziehungsverlaufs ganz unterschiedlich ausfallen. Mit 16 Jahren zeigt sich das sexuelle Begehren anders als mit 30 oder 60 Jahren. Der eine sucht Entspannung, die andere Trost, ein Dritter Freiheit und Abenteuer beim Sex. Und am Anfang einer Beziehung verhalten sich die meisten Paare nicht nur ganz anders als nach 20 Ehejahren, sie geben der Sexualität auch einen anderen Stellenwert. Das Besondere der Sexualität liegt in dieser Bedeutungsoffenheit: Eine Vielfalt nicht primär sexueller Motive, Bedürfnisse, Emotionen und Ziele kann mit ihr verbunden werden (Gagnon u. Simon 2005). Wir beobachten und bewerten sexuelle Prozesse damit nicht nur als körperliche, sondern stets auch als psychisch und sozial bedeutsame Ereignisse.

Für sexuelle Beziehungen, allen voran für die auf Dauer angelegte Paarbeziehung, ist das Verhältnis der individuellen Sexualität zur Paarsexualität interessant. Aus systemtheoretischer Sicht gilt für Paare wie für alle sozialen Systeme, dass sie sich durch Kommunikation konstituieren (Luhmann 2008b). Sexuelle Paarkommunikation, das nonverbale sexuelle Verhalten wie das Sprechen über Sex, ist gekennzeichnet durch selektive Mitteilung und selektive Wahrnehmung. Partner bringen nur einen Teil ihres sexuellen Wunsch- und Verhaltensrepertoires in die Paarsexualität ein, meist das, was sie als konsensfähig vermuten. Gleichzeitig schließen sie nur an jene Angebote des Partners an, die im Bereich ihrer Zustimmung liegen. Vermutete oder reale Differenzen werden aus der Kommunikation ausgeschlossen. Im Verlauf einer Beziehung bildet sich so eine Schnittmenge bewährter sexueller Interaktionen heraus (Clement 2004). Sexualität nimmt damit die Funktion eines versichernden Partnerschaftsrituals ein (Bozon 1998), das zur Stabilisierung der Beziehung beiträgt. Freilich kann diese Stabilisierung ungewollt auch zur Ent-Erotisierung der Beziehung führen, denn Erotik lebt zu einem nicht unerheblichen Maß von der Fremdheit. Das Unbekannte und Unberechenbare kann anziehen, aber auch ängstigen (Perel 2006). Sexuelle Vertrautheit bestätigt besonders in langjährigen Beziehungen die Berechenbarkeit des anderen und die Dauerhaftigkeit der Partnerschaft, birgt jedoch die Gefahr der Stagnation und Langeweile. Das bindende Ritual gerät so selbst in Gefahr durch den Verlust seiner besonderen Qualität: der erotischen Spannung.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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