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1 Einleitung

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Obgleich in der Forschung zum natürlichen Erstspracherwerb zunächst der Grammatikerwerb im Vordergrund stand, ist doch schon früh festgestellt worden, dass auch die Pragmatik erworben werden muss. Eine Zielgröße des Grammatikerwerbs ist sicher der vollständige Satz. Aber diese grammatische Einheit ist immer auf Sprechakte bezogen, so dass ein Kind lernen muss, mit welchen Sätzen man welche Sprechakte ausführen kann oder welche Sätze dafür geeignet sind, einen bestimmten Sprechakt auszuführen. Unter Pragmatikerwerb verstehen wir im Folgenden den Erwerb solcher Fähigkeiten, die notwendig sind, um in einem bestimmten Kontext angemessen kommunizieren zu können (vgl. Zufferey 2015). Dazu gehört die Kenntnis sozialer Aspekte von Kommunikation, wie z. B. die Kommunikation zugrunde liegenden Regeln/Maximen oder die Notwendigkeit, sich als Sprecher an unterschiedliche Adressaten anzupassen. Aber auch kognitive Fähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit, Inferenzen zu ziehen bzw. die Intentionen/den Wissensstand des Gegenübers einschätzen zu können, spielen bei der Interpretation (Rezeption) bzw. angemessenen eigenen Verwendung (Produktion) bestimmter sprachgebrauchsbasierter Phänomene eine wichtige Rolle. Die Sprecher(innen) müssen nicht nur Deixis und Referenz produktiv und rezeptiv beherrschen, sondern auch Präsuppositionen und Implikaturen, Sprechakte, Informations- und Konversationsstruktur (vgl. Finkbeiner 2015, Liedtke/Tuchen 2018). Alle pragmatischen Gegenstände, so kann man vermuten, sind zugleich Gegenstände des pragmatischen Erwerbs. Es müssen jeweils die entsprechenden sozialen bzw. kognitiven Kompetenzen erworben werden, um die entsprechenden Gegenstände verstehen bzw. selbst in der verbalen Kommunikation einsetzen zu können.1 Pragmatisches Lernen findet wahrscheinlich während des ganzen Lebens statt. Wir konzentrieren uns im Folgenden aber auf den Pragmatikerwerb von Kindern und Jugendlichen, d.h. Menschen in der Altersspanne zwischen der Geburt und etwa 18 Jahren.2

Unter Kinderliteratur verstehen wir alle Literatur, die von Erwachsenen speziell für Kinder und Jugendliche verfasst wurde. Typischerweise wird Kinderliteratur nicht von Kindern verfasst, obwohl es hier einzelne Ausnahmen gibt. Eine wichtige Beobachtung ist, dass Erwachsene, die für Kinder schreiben, sich darüber Gedanken machen müssen, inwiefern ihre intendierte Leserschaft die von ihnen verfassten Texte verstehen können. Dies wird oft als selbstverständlich vorausgesetzt, ist es aber bei näherer Betrachtung nicht. Die literarische Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern kann gelingen, sie kann aber auch misslingen. Dies zu untersuchen, ist selbst ein Gegenstand der linguistischen Analyse. Noch eine terminologische Bemerkung: Im Weiteren sehen wir von der in Deutschland üblichen, aber umständlichen Verwendung des Begriffs „Kinder- und Jugendliteratur“ ab. Wir orientieren uns dagegen an der international üblichen Bezeichnung „children’s literature“ und übersetzen diese mit „Kinderliteratur“. Wenn man den Adressatenkreis der Jugendlichen hervorheben will, kann man natürlich von „Jugendliteratur“ sprechen.3 Es empfiehlt sich auch, einen weiten Begriff von Kinderliteratur anzustreben, der nicht nur auf die oft im Vordergrund stehenden Kinderromane bezogen ist, sondern auch auf Drama und Lyrik, und überhaupt auf alle an Kinder gerichtete Medien.4

Welche Beziehungen gibt es nun zwischen dem Pragmatikerwerb und der Kinderliteratur? Wie wir sehen werden, ist dies eine überraschend komplexe Frage. In dieser Einführung wollen wir versuchen, den Suchraum für die Beantwortung dieser Frage zu umreißen. Zunächst einmal können wir uns ihr annähern, indem wir grob zwischen interner und externer Pragmatik unterscheiden (Meibauer 2017). Unter interner Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir alle pragmatischen Phänomene, die in der Kinderliteratur enthalten sind. Zum Beispiel kommen in Kinderliteratur Dialoge vor. Dadurch, dass Dialoge im kinderliterarischen Input5 vorkommen, kann das Kind etwas über Dialoge lernen. Natürlich sind dies zunächst einmal literarische Dialoge, die eigenen narrativen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Trotzdem wird das Kind Beziehungen oder Ähnlichkeiten zwischen literarischen Dialogen und natürlichen Dialogen in seiner Umgebung erkennen. Dies betrifft zum Beispiel den allgemeinen Aspekt des Sprecherwechsels, aber auch mögliche Verben der Redewiedergabe.

Unter externer Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir pragmatische Aspekte einer Vermittlungssituation. Viele Kinderbücher werden von Eltern, Geschwistern oder Großeltern vorgelesen. Es besteht eine Situation, in der die Teilnehmer(innen) ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten und miteinander teilen. In der Vorlesesituation kommt es typischerweise zu Erläuterungen, Korrekturen und Modifikationen verschiedener Art. Diese sprachlichen Handlungen in Bezug auf den Inhalt von Kinderbüchern sind selbst eine Quelle des sprachlichen und pragmatischen Lernens. Als ein konkretes Beispiel sei hier die vorschulische Vorlesesituation genannt. Wenn zum Beispiel Eltern gemeinsam mit ihren kleinen Kindern Frühe-Konzepte-Bücher betrachten und ihre Kinder durch gezielte Fragen zum „Deuten und Benennen“-Spiel anregen, bieten sie den Kindern gleichzeitig einen Kontext, in dem diese ein spezifisches Frage-Antwort Format kennenlernen können (vgl. Meibauer 2011, 2017).

Im Folgenden wollen wir zunächst die Bereiche der externen und internen Pragmatik näher ausleuchten. Dabei gehen wir auf die Vorlesesituation ein, stellen ihre spezifischen Charakteristika dar und rekapitulieren kurz, was zum Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb bisher bekannt ist (Abschnitt 2). Dann wenden wir uns der Kinderliteratur als einem spezifischen Input zu (Abschnitt 3). Zuletzt behandeln wir nacheinander den Bezug zur Didaktik und dem Schulunterricht, spezielle Herausforderungen durch neue Medien sowie gestörten Pragmatikerwerb und Kinderliteratur (Abschnitte 4–6). Anschließend geben wir einen Ausblick auf zukünftige weitere Forschungsmöglichkeiten (Abschnitt 7).

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

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