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2 Die Vorlesesituation

2.1 Eigenschaften

Eine Standardsituation des privaten Vorlesens kann man sich so vorstellen, dass ein lese-inkompetentes Kind (Zuhörer) und eine vorlese-kompetente Person (Eltern, Großeltern, ältere Geschwister …) und ein Buch präsent sind, wobei die vorlesekompetente Person (Sprecher) einen Text spricht, den sie dem Buch entnimmt (vgl. das Modell von Rothstein 2013). Diese Standardsituation kann folgendermaßen weiter beschrieben und von verwandten Situationen abgegrenzt werden.

 Privates Vorlesen sollte von öffentlichem Vorlesen, zum Beispiel im Klassenzimmer, unterschieden werden.

 Das Hören von Hörbüchern ist ausgeschlossen, da der entsprechende Sprecher nicht physisch anwesend ist.

 Bei textlosen Bilderbüchern ist es möglich, dass die vorlese-kompetente Person einen Text spricht, der einer mentalen Geschichte entspricht.

 Sachbücher können ebenfalls vorgelesen werden.

 Kinder können das Vorlesen nachahmen.

Weitere Aspekte kommen ins Spiel und können einen Einfluss auf die Vorlesesituation haben. Zunächst ist die gemeinsame Aufmerksamkeit zwischen Kind und Vorleser zu nennen. Diese kann durch mangelnde Konzentration und durch Ablenkung bedroht sein. Sie wird gesichert durch Blickkontakt, Gestik und auch die körperliche Nähe, insbesondere beim gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern. Bei Bilderbüchern spielen neben dem vorgelesenen Text auch das Betrachten bzw. sinnvolle Einbeziehen der Bilder eine wichtige Rolle. Der Autor oder Erzähler ist nicht physisch präsent in der Vorlesesituation (es sei denn, Autor und Vorleser sind identisch, wie in einer Dichterlesung). Das Gleiche gilt für Figuren des fiktionalen Raums.

Es ist bekannt, dass es unterschiedliche Modi des Vorlesens gibt. Geschlossenes Vorlesen hält sich strikt an den Wortlaut des Texts, während offenes Vorlesen Variationen erlaubt, bis hin zu sogenannten „Gesprächseinlagen“. Gerade das Abweichen vom strikten Vorlesen, d.h. die Art und Weise, wie Vorleser mit den Kindern über den vorgelesenen Text reden, ist von großem theoretischem Interesse. Dieses ist dadurch bedingt, dass wir einen speziellen Fall von „an das Kind gerichteter Sprache“ (‚child-directed language‘) bzw. von „Feinanpassung“ (‚finetuning‘) vor uns haben. In der Wissenschaftsgeschichte der modernen Spracherwerbsforschung ist immer wieder behauptet worden, dass Feinanpassung (alias „Motherese“) keine besondere Rolle für den Spracherwerb spielen würde, da Kinder die Sprache auch ohne diese Hilfestellung erlernen würden (vgl. die Darstellung in Sokolov/Snow 1994, Snow 1995).

Nach Gressnich/Stark (2015) dienen Gesprächseinlagen beim Vorlesen der Erklärung von Sachverhalten. Sie sind darauf angelegt, ein Wissens- oder Verstehensdefizit zu beseitigen.1 Anhand von Bilderbüchern zeigen die Autorinnen, dass sich erklärende Gesprächseinlagen auf Elemente der dargestellten Handlung, auf sprachliche Elemente und auf Bildelemente beziehen können. Um dies nachweisen zu können, ist es nötig, ein authentisches Vorlesegeschehen zu dokumentieren, zum Beispiel durch Audio- und Videoaufnahmen.

Wie Becker/Müller (2015: 89f.) zeigen, teilen das Vorlesen und das (alltagssprachliche) Erzählen einige Eigenschaften, unterscheiden sich aber in anderen. Beide Diskursformen weisen einen „primären Sprecher“ auf, sind in sich strukturiert (z. B. durch Elemente einer Story Grammar) und auf „Unterstützung“ durch Kommunikationspartner angewiesen. Während aber das Vorlesen an den schon vorgegebenen schriftlichen Text gebunden ist, der in sich komplex sein mag, muss der mündliche Erzähler den Erzähltext erst erschaffen. Je nach dessen sprachlichen Fähigkeiten kann dieser produzierte Text mehr oder weniger einfach ausfallen.

2.2 Der Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb

Ganz allgemein können wir annehmen, dass Vorlesen sprachliches Lernen begünstigt. Durch viele empirische Untersuchungen kann diese Annahme als gut bestätigt gelten (vgl. z. B. Whitehurst et al. 1988, Arnold et al. 1994, Wasik/Bond 2001, Kümmerling-Meibauer et al. 2015, Gressnich et al. 2015). Am deutlichsten ist vermutlich der durch das Vorlesen angeregte Wortschatzerwerb messbar. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, haben einen größeren Wortschatz als solche Kinder, bei denen dies nicht der Fall ist (vgl. z. B. Biemiller/Boote 2006, Blewitt 2014). Wiederholtes Vorlesen begünstigt das Wortlernen sowohl bei sich typisch entwickelnden Kindern (vgl. z. B. Horst 2013, 2015) als auch bei Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (vgl. z. B. Rohlfing et al. 2017).

Im Bilderbuchklassiker Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle finden wir die folgende Textpassage:

Sie baute sich ein Haus, das man Kokon nennt, und blieb darin mehr als zwei Wochen lang. Dann knabberte sie sich ein Loch in den Kokon, zwängte sich nach draußen und …

Kokon ist ein fachsprachlicher Ausdruck, der hier kurz erläutert wird (‚ein Haus für Raupen‘) und noch einmal erwähnt wird. Auch Information über das Genus ist aus diesem Text ableitbar. Ein Kind hat also Gelegenheit, dieses Lexem zu lernen.

Es ist wichtig einzusehen, dass für den Spracherwerb das kindliche Lexikon von zentraler Bedeutung ist. Dies hängt damit zusammen, dass für jeden einzelnen neuen Lexikoneintrag eine Ergänzung fehlender Information stattfindet. Geht man davon aus, dass ein Lexikoneintrag phonologische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatische Informationen enthält und Lexikoneinträge miteinander vernetzt sind, ist auch klar, dass der Pragmatikerwerb – auf den wir uns hier konzentrieren – nicht unabhängig vom Grammatikerwerb betrachtet werden kann.

Will das Kind verstehen, was das Lexem ich bedeutet, kann es dies aus dem Input nur schwer erschließen. Deiktische Personalpronomen sind nicht das Gleiche wie Eigennamen. Es ist nicht von vorneherein erwartbar, dass ich einmal den Vater Sven, ein anderes Mal die Mutter Lena bezeichnet. Redet die Tochter zunächst von sich als Simone, so kommt sie später zu dem Schluss, dass auch sie von sich selbst mit ich reden kann. In der Vorlesesituation sind die Dinge noch komplizierter, da bei Erzählungen in der 1. Person zwischen dem Bezug auf eine Vorleserin und eine fiktionale Figur unterschieden werden muss. Es ist daher deutlich, dass zwischen dem Erwerb eines Lexems, der Erwerbsituation und dem pragmatischen Phänomen der Deixis ein intimer Zusammenhang besteht (Gressnich/Meibauer 2010).

Das Vorlesen wirkt sich außerdem auch positiv auf die Weiterentwicklung grammatischer Fähigkeiten aus. So zeigt Stark (2016), dass das Vorlesen von Kinderliteratur den Präteritumerwerb im Deutschen maßgeblich fördern kann. Anders als in der alltäglichen gesprochenen Sprache kommen die grammatischen Formen des Präteritums in erzählender Kinderliteratur recht häufig vor. Diese stellt insofern also eine wichtige Inputquelle für diese Zielstruktur dar, welche solchen Kindern fehlt, die schriftsprachfern aufwachsen.

Auch von Lehmden et al. (2013) konnten zeigen, dass das Vorlesen einen förderlichen Effekt auf die Entwicklung grammatischer Fähigkeiten hat, in diesem Fall auf den Erwerb des Passivs. In ihrer Studie untersuchten sie den Effekt des Vorlesens auf die Entwicklung der Fähigkeit bei 5- bis 6-jährigen Kindern, Äußerungen mit Vorgangspassiv zu produzieren. Ihre Ergebnisse belegen, dass sowohl das Vorlesen an sich, als auch das Vorlesen von speziell für die Studie umgeschriebenen kinderliterarischen Texten mit einem hohen Anteil an Passivkonstruktionen einen Effekt auf die entsprechenden produktiven Fähigkeiten der Kinder hatte, der auch noch einen Monat nach Beendigung der Intervention anhielt.

Erzählen ist eine pragmatische Fähigkeit, die Kinder vermutlich schon im 3. Lebensjahr zu beherrschen beginnen, aber es gibt entsprechende Entwicklungen noch bis in die Jugendzeit (vgl. z. B. Becker/Wieler 2013, Dannerer 2012). Eine Hypothese ist, dass der Erzählerwerb nicht nur durch die schulische Ausbildung befördert wird (bei der auch das schriftliche Erzählen eine wesentliche Rolle spielt), sondern auch durch Vorbilder im Vorgelesenen (vgl. z. B. Lever/Sénéchal 2011); dass Kinder etwas erzählen, ist ja ein typischer Inhalt von Kinderliteratur. Neben dem positiven Einfluss auf die Sprachentwicklung hat das Vorlesen auch eine förderliche Wirkung auf die Ausbildung der literarischen Fähigkeiten von (Vor-)Schulkindern (vgl. z. B. Wieler 1997, Becker 2014, Gressnich et al. 2015).

Der Fokus bei den oben erwähnten Studien liegt vor allem auf der Interaktionsform „Vorlesen“. Welchen Einfluss auf die Studienergebnisse jeweils die konkret vorgelesenen Texte und deren Eigenschaften hatten, bleibt jedoch weitestgehend unklar (Stark 2016 ist eine Ausnahme). Außerdem haben die meisten uns bekannten Studien den Effekt des Vorlesens auf die sprachliche/literarische Entwicklung von Kindern im Kindergarten- bzw. frühen Grundschulalter (2 bis 7 Jahre) untersucht. Zwar ist der Spracherwerb bis zum Alter von 7 Jahren schon recht weit fortgeschritten, jedoch bei weitem nicht abgeschlossen. Was passiert also danach, insbesondere im Selbstlesealter? Ist davon auszugehen, dass Kinderliteratur als solche auch den weiterführenden Spracherwerb jenseits des Vorlesealters unterstützt? Diese Fragen sind bisher völlig ungeklärt.

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

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