Читать книгу Wörterbuch der Soziologie - Группа авторов - Страница 12

Оглавление

[120]F

Familiensoziologie

(engl. sociology of family) Traditionell wird Familie als eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Mann und Frau mit einem gemeinsamen Kind und einer gemeinsamen Haushaltsführung definiert. Innerhalb der familiensoziologischen Forschung findet die dadurch angelegte Einengung praktisch jedoch kaum Beachtung, und die Untersuchung der unterschiedlichsten Lebensformen und deren Veränderung, wie beispielsweise die Entstehung und Entwicklung von ersten Partnerschaften ebenso wie die Arbeitsteilung in homosexuellen Paarbeziehungen oder die soziale Integration kinderloser Paare sind Gegenstand der Forschung. Versuche, neue Begrifflichkeiten (Soziologie der Zweierbeziehung, Soziologie partnerschaftlicher Lebensformen) zu etablieren, erscheinen wenig sinnvoll und stoßen auf geringe Akzeptanz. Eine der wichtigen Aufgaben einer derart breit angelegten Familiensoziologie besteht dann auch darin, die Entwicklung und Verbreitung der unterschiedlichen partnerschaftlichen und familialen Lebensformen zu beschreiben und erklären.

Zur historischen Entwicklung von Partnerschaften und Familie

Anthropologische Forschungen und evolutionsbiologische Erkenntnisse legen nahe, dass Partnerschaft und Familie zu den ursprünglichen Institutionen in der Menschheitsgeschichte gehören. Die Ethnographie zeigt aber andererseits, dass sich hier eine nahezu unbegrenzte Vielfalt der konkreten Organisationsformen finden lässt, die häufig anhand der Heiratsformen (Polygamie versus Monogamie), der Lokalitätsregeln (patri-, matri- oder neolokal), der Deszendenzregeln (patri-, matri- oder ambilateral), der formalen und informellen Herrschaftsregeln (Patriarchat oder Matriarchat) sowie der Verwandtschaftsterminologie zu systematisieren ist (Hill/Kopp 2006). Während über längere Zeit die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten vorherrschte – beispielsweise von einem ursprünglichen Matriarchat (Bachofens These des Mutterrechts) oder urkommunistischen Formen mit einer hohen Promiskuität (Engels Vermutungen zum Ursprung der Familie) hin zu eher patriarchischen Formen oder von der erweiterten Familie zur Kleinfamilie (Kontraktionsgesetz der Familie bei Durkheim) – dominiert in der modernen Familienforschung der Versuch, die genauen Bestimmungsgründe einzelner familialer Organisationsformen zu untersuchen und auf strukturelle Unterschiede zurückzuführen. So ist beispielsweise die Polygynie (ein Mann hat mehrere Frauen), aber auch die wesentlich seltener vorkommende Polyandrie (eine Frau hat mehrere Männer) das Ergebnis dauerhafter ökonomischer Ungleichheit und Knappheit und – wie nahezu alle genannten komplexeren Familienformen – meist nur in Gartenbau- und einfachen Ackerbaugesellschaften zu finden. In Europa und den Vereinigten Staaten wurde von der historischen Familienforschung mit Hilfe verschiedenster Verfahren – unter anderem der Ableitung von Biographien aus alten Kirchenbüchern – die familiale Lebenssituation in den einzelnen Epochen rekonstruiert (vgl. Gestrich et al. 2003; Ketzer/Barbagli 2001). Viele Vermutungen mussten aufgrund dieser Ergebnisse revidiert werden: so war die Familiengröße nie besonders hoch, unvollständige Familien waren bei den Bauern selten, kamen jedoch in unterbäuerlichen Schichten durchaus häufig vor, Stieffamilien waren aufgrund der hohen Sterblichkeit vor allem von Frauen und einem ökonomisch bedingten Rollenergänzungszwang keine Seltenheit, das Heiratsalter war in der Regel relativ hoch, und durch die Industrialisierung lassen sich vielerorts sogar stärkere und nicht schwächere familiale Beziehungen beobachten. Bei allen Problemen hinsichtlich der Datenlage lässt sich zudem vermuten, dass die Emotionalität zwischen den (Ehe-)Partnern, aber auch gegenüber Kindern keine Erfindung der Moderne ist. Familiale Verhaltensweisen waren immer eine Reaktion auf die äußeren Umstände, Emotionen waren ein Bestandteil des Handlungskalküls.

Zur demographischen Entwicklung von Partnerschaften und Familie

Während sich für die Zeit bis etwa zum Ende des 19. Jh.s mit Hilfe dieser geschichtswissenschaftlichen Verfahren nur lokal vereinzelt Aussagen über die Struktur familialen Lebens machen lassen, ist es im 20. Jh. mit Hilfe der amtlichen Statistik und verstärkt [121]seit Mitte der 1970er Jahre aufgrund der Ergebnisse der empirischen Sozialforschung möglich, die Entwicklungen genauer zu erfassen und zu untersuchen. Hierbei werden zuerst die einzelnen familiendemographischen Prozesse wie das Heiratsalter und die Zahl der Eheschließungen, die Zahl der Geburten und das Alter der Frau bei der ersten Geburt, die Zahl der Ehescheidungen oder die durchschnittliche Größe der einzelnen Haushalte genauer fokussiert. Auch wenn bei diesen Studien durchaus interessante Ergebnisse zu beobachten sind – das Heiratsalter sinkt bis Mitte der 1970er Jahre und hat seitdem einen historisch nie erreichten Höchststand erlangt, einen ähnlich u-förmigen Verlauf kann man hinsichtlich des Alters bei der Erstgeburt beobachten, die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig, die Zahl der Ehescheidungen steigt seit 1880 nahezu linear an und die Zahl der in einem Haushalt lebenden Personen nimmt stetig ab – stellte sich rasch heraus, dass derartige Trendbeschreibungen nur sehr wenig Erkenntnisse hinsichtlich der Ursachen dieser Prozesse und vor allem auch nur ein geringes Potenzial zur Vorhersage der weiteren Entwicklung hervorbringen, zumal sich in einer regional und international vergleichenden Perspektive deutliche Unterschiede beobachten lassen. Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit allgemeiner makrotheoretischer Trendaussagen ist auch ein Wechsel in der theoretischen Sichtweise der Familie verbunden.

Theoretische Perspektiven der Familienforschung

Wenn man von eher soziographischen Versuchen der Erfassung unterschiedlicher Lebensformen innerhalb einer funktionalistisch orientierten Sozialanthropologie und ihren mikrotheoretischen Fortsetzungen in einzelnen Milieustudien absieht, so dominieren heute vor allem theoretische Überlegungen aus dem Bereich der Handlungs- und Austauschtheorie, die zugleich eine Lebensverlaufsperspektive einnehmen (vgl. als Überblick Hill/Kopp 2006; White 2005). Besonders hervorzuheben sind dabei die Überlegungen der Familienökonomie bzw. der »new home economics« (Becker 1981), die die vielfältigsten Aspekte menschlichen Sozialverhaltens mit Hilfe eines gemeinsamen handlungstheoretisch fundierten Rahmens erklären. Die Bedeutung der verschiedenen theoretischen Ansätze lässt sich jedoch am besten anhand ihrer Erklärungsleistung hinsichtlich konkreter Beziehungs- und Familienprozesse beurteilen. Hierzu werden im Folgenden die wichtigsten Schritte in diesen Abläufen nacheinander betrachtet und einige empirische Befunde berichtet – ohne dabei jedoch auf die Details der theoretischen Argumente und empirischen Analysen eingehen zu können.

Die Entstehung und Verfestigung von Partnerschaften und die Wahl der Lebensform

Es erscheint unbestritten, dass der Wunsch nach einer romantischen Beziehung sicherlich zu den Universalien menschlichen Daseins gehört. Soziologisch interessant sind dann die Umstände der Partnerwahl sowie die ersten Entwicklungsschritte von Partnerschaften. Auch wenn sich innerhalb der Psychologie ab und an Versuche finden, die Entstehung einer konkreten Liebes- und Paarbeziehung zu erklären, so liegt das Augenmerk soziologischer Forschungen doch eher auf strukturellen Gemeinsamkeiten. Wenn allein die sicherlich bedeutsame ›romantische Liebe‹ die Entstehung von Partnerschaften bestimmen würde, wäre die in vielen Dimensionen beobachtbare Ähnlichkeit zwischen den Partnern nicht erklärbar. Sozialstrukturell homogene Partnerschaftsmärkte – hier ist nur an die Bildungsinstitutionen zu denken – und die Partnerwahl im engeren sozialen Umfeld bilden dabei wichtige Ergänzungen. Gerade in der ersten Phase der Partnerschaftsentwicklungen sind dabei vielfältige kleine Schritte der Institutionalisierung beobachtbar, die letztlich auch als Investitionen in die Beziehung verstanden werden können, die dann wiederum ihre Stabilität erhöhen (Kopp et al. 2010). Trotz aller Vermutungen finden sich kaum verlässliche Daten, die eine Aussage über das Alter bei Beginn der ersten Liebesbeziehung im Zeitvergleich erlauben. Erste Hinweise sprechen dafür, dass sich in den letzten Jahrzehnten keine dramatischen Veränderungen beobachten lassen. Analytisch sind mit der Paarbildung und dem entsprechenden gegenseitigen Commitment, der Gründung eines gemeinsamen Haushaltes, der Heirat und der Geburt eines Kindes verschiedene Dimensionen der Verfestigung von Partnerschaften zu unterscheiden. Während bis in die 1970er Jahre in der Bundesrepublik diese Prozesse relativ zeitnah stattgefunden haben, lassen sich heute vielfältige Unterschiede, vor allem aber klare zeitliche Muster ausmachen. Während [122]die Aufnahme sexueller Beziehungen und das Commitment zu dieser Beziehung relativ zeitnah und rasch stattfinden, erfolgt die Gründung eines gemeinsamen Haushaltes und damit einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung. Ein wichtiger Erklärungsfaktor ist dabei sicherlich neben allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungstrends die durch die Bildungsexpansion bedingte späte und unsichere berufliche Platzierung beider Partner. Besonders hervorzuheben ist aber, dass diese Phase des nichtehelichen Zusammenlebens heute immer mehr zum Lebenslauf gehört und nicht immer durch eine Eheschließung beendet wird. Als Dimensionen dieser Entscheidung zwischen Partnerschaften mit getrennten oder gemeinsamen Haushalten werden die Möglichkeiten gemeinsamer Aktivitäten, die – berufs- oder ausbildungsbedingten – Opportunitäten, aber auch der Wunsch nach einer weiteren Verfestigung der Partnerschaft genannt. Ergänzend muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass derartige Fragestellungen eine biographische und lebensverlaufsorientierte Herangehensweise und vor allem entsprechende Daten nötig machen. Trotz vielerlei Fortschritte ist hier ein deutliches Forschungsdefizit zu konstatieren.

Der Übergang zur Ehe

Trotz der zunehmenden Verbreitung nichtehelicher Lebensgemeinschaften stellt die Ehe keine überholte Institution dar, sondern ist ein fester Bestandteil der Lebensplanung der meisten Menschen. Immer mehr wird die Eheschließung dabei mit der Familiengründung, also mit der Geburt eines ersten Kindes, verbunden. Neben normativen Aspekten und dem subjektiv vielleicht wichtigsten Motiv der Liebe spielen dabei auch Überlegungen eine Rolle, die sich auf die rechtliche Absicherung der durch die neue Lebenssituation entstandenen Unsicherheiten beziehen. Ehen stellen darüber hinaus den verfestigten institutionellen Rahmen, das ›nomoserzeugende Instrument‹, in dem Paare ihre jeweils eigene Lebenswelt bilden, dar (Berger/Kellner 1965). Immer noch wird zudem ein traditionelles Familienmodell durch sozialstaatliche Regelungen unterstützt. Trotz aller Angleichungsprozesse lassen sich hinsichtlich der verschiedenen partnerschaftlichen und familialen Prozesse deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, aber auch im internationalen Vergleich feststellen. So scheinen sowohl in den skandinavischen Ländern als auch in Ostdeutschland nichteheliche Lebensgemeinschaften als dauerhafte Alternative zur Ehe eher Verbreitung zu finden als in den südeuropäischen Ländern und Westdeutschland.

Familiengründung und -erweiterung

In der Zwischenzeit stellt die Familiengründung, also die Geburt eines ersten Kindes, den bedeutsamsten Schritt in der Familienbiographie dar. Im historischen Vergleich ist dabei sowohl eine Veränderung des Timings festzustellen, bedingt durch die deutliche Bildungsexpansion gerade von Frauen und den damit verbundenen längeren Zeitraum bis zur Etablierung einer eigenen beruflichen Position, als auch ein Rückgang der Geburtenzahlen. Genauere Analysen lassen jedoch vermuten, dass dieser historische Rückgang vor allem die Geburten höherer Parität betrifft und deshalb trotz der sicherlich steigenden Anzahl von dauerhaft kinderlosen Frauen die Geburt eines Kindes immer noch zum Lebenslauf der meisten Frauen gehört. Weitere Analysen befassen sich mit der Familienerweiterung und hierbei vor allem mit der Geburt eines zweiten Kindes und untersuchen dabei unter anderem den Zeitabstand zwischen den Geburten sowie Bestimmungsgründe der Familienerweiterung und die damit einhergehenden Änderungen in der Familie wie beispielsweise die – geschlechtsspezifisch unterschiedlichen – Konsequenzen für das Erwerbsverhalten oder für die innerfamiliale Teilung der häuslichen Arbeit.

Interaktion in Partnerschaft und Familie

Neben diesen auch demographisch interessanten Phänomenen – Wahl der Lebensform, Heirat und Fertilität – beschäftigt sich die Familienforschung mit den internen Prozessen in Partnerschaften und Familien. Ein wichtiges Forschungsfeld in diesem Zusammenhang bilden Analysen zur emotionalen Grundlage der Beziehung und zur Erklärung entsprechender Veränderungen im Zeitverlauf. So finden sich Studien, die einen Wandel in der Grundlage der Beziehung – ein Rückgang der romantischen und eine Zunahme der sogenannten kameradschaftlichen Liebe – diagnostizieren, aber auch Arbeiten, die generell einen u-förmigen Verlauf des Eheglücks im Beziehungsablauf feststellen. Eine Schwierigkeit[123] vieler dieser Analysen ist auch hier wiederum die fehlende längsschnittliche Datenbasis. Trotz ihrer letztendlich sicherlich gegebenen Alltäglichkeit sind ernstzunehmende Studien zur Sexualität, aber auch zu Konflikten in Partnerschaften selten. Im Gegensatz hierzu, sind die Determinanten innerfamilialer Arbeitsteilung empirisch relativ deutlich: so finden sich zahlreiche Belege, dass die von der Familienökonomie formulierten Hypothesen – die Arbeitsteilung sollte mit den relativen Ressourcen und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt korrelieren – zutreffen, gleichzeitig erklären sie das Phänomen ungleicher Arbeitsteilung nur partiell. Offensichtlich spielen normative oder machtorientierte Motive ebenfalls eine große Rolle (Treas/Dronic 2010). Neben dieser paarbezogenen Perspektive stehen vielfach auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und neuerdings auch zwischen Großeltern und Enkeln sowie vereinzelt zwischen Geschwistern oder Beziehungen zur erweiterten Verwandtschaft im Mittelpunkt. Neben Untersuchungen zur (frühkindlichen) Bindung und Sozialisation werden dabei vor allem die Bestimmungsfaktoren der intergenerationalen Beziehungen im Erwachsenenalter und die Interdependenz der einzelnen Dimensionen dieser Beziehung fokussiert (vgl. Bengtson 2001). Einen letzten Themenbereich bilden Studien zur Machtverteilung in Beziehungen, aber auch zur Gewalt in Partnerschaft und Familie. Vor allem in den Vereinigten Staaten werden hierzu Studien durchgeführt, die verschiedene Risikofaktoren für Gewalt in Beziehungen herausarbeiten (Straus/Gelles 1990).

Stabilität von Paarbeziehungen

Sicherlich nicht unabhängig von der Interaktion der Partner ist die Dauerhaftigkeit und Stabilität partnerschaftlicher oder ehelicher Beziehungen. Zahllose empirische Studien haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte international, aber auch in der Bundesrepublik mit den Bestimmungsgründen für das Scheitern von Paarbeziehungen und Ehen beschäftigt. Neben eher psychologisch orientierten Untersuchungen, die beispielsweise die Rolle von Interaktions- und Konfliktstilen betonen, lässt sich – wiederum auf der theoretischen Grundlage der Familienökonomie – eine Fülle sozialstruktureller Einflussfaktoren ausmachen: eine frühe Eheschließung erhöht das Trennungsrisiko, gemeinsame Kinder und andere Investitionen in sog. beziehungsspezifisches Kapital fördern hingegen die Stabilität. Neben diesen Determinanten der Stabilität rücken immer mehr auch die Konsequenzen einer Trennung in den Mittelpunkt. Hier lassen sich Folgen für die Partner sowie für die Kinder unterscheiden, ebenso sind kurzfristige und langfristige Folgen zu differenzieren. Generell sind Trennungen sicherlich ein bedeutsamer Einschnitt im Lebensverlauf, wobei vor allem die kurz- und mittelfristigen finanziellen Folgen für Frauen auch sozialpolitische Relevanz besitzen. In den letzten Jahren findet zudem die familiale Organisation nach einer Trennung und hierbei vor allem die Rolle von Alleinerziehenden und Stiefelternschaft zunehmende Aufmerksamkeit.

Zur Zukunft der Familie

Gerade in der allgemeinen Soziologie wird die Organisation privater Lebensformen häufig als Beispiel für die Folgen unterschiedlichster allgemeiner Entwicklungen wie der Urbanisierung, Modernisierung oder Differenzierung herangezogen. Je nach theoretischer und teilweise auch ideologischer Ausrichtung wird dann über die Krise oder teilweise sogar das Ende der Familie spekuliert. Wenn man seinen Blick von der kurzfristigen Veränderung einzelner demographischer Kennziffern abwendet und sowohl kulturell wie historisch seinen Blickwinkel erweitert, so kann bei aller Veränderung der konkreten Organisation familialen und privaten Lebens festgehalten werden, dass sowohl normativ wie auch konkret derartige partnerschaftliche und familiale Lebensformen ihre Bedeutung nicht verloren haben.

Literatur

Becker, Gary S., 1981: A Treatise on the Family, Cambridge/ London. – Bengtson, Vern L., 2001: Beyond the Nuclear Family: The Increasing Importance of Multigenerational Bonds; in: Journal of Marriage and the Family 63, 1–16. – Berger, Peter L., Kellner, Hansfried, 1965: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit; in: Soziale Welt 16, 220–235. – Gestrich, Andreas et al., 2003: Geschichte der Familie, Stuttgart. – Hill, Paul B.; Kopp, Johannes, 2006: Familiensoziologie, 4. Aufl., Wiesbaden. – Kertzer, David I.; Barbagli, Marzio (Hg.), 2001: Family Life in Early Modern Times, 1500–1789. New Haven/London. – Kopp, Johannes et al., 2010: Verliebt, verlobt, verheiratet. Institutionalisierungsprozesse in Partnerschaften, Wiesbaden. – Straus, Murray A.; Gelles, Richard J. (eds.), 1990: Physical Violence in American Families. Risk Factors and Adaptations to Violence [124]in 8145 Families, New Brunswick, NJ. – Treas, Judith; Drobnic, Sonja, 2010: Dividing the Domestic. Palo Alto. – White, James M., 2005: Advancing family theories, Thousand Oaks.

Johannes Kopp

Feldforschung

Feldforschung (engl. field research) ist ein Datenerhebungsansatz, der in der Ethnologie und Anthropologie entwickelt wurde und dort immer noch vorwiegend benutzt wird. Seit einigen Jahrzehnten ist er auch in der Soziologie und der Psychologie übernommen worden.

Methodischer Ansatz

Feldforschung muss im Gegensatz zur Laborforschung gesehen werden, die als Begriff aber kaum benutzt wird. Feldforschung bedeutet dann, dass die Daten in der natürlichen Umgebung der Untersuchungspersonen erhoben werden und nicht in einer Umgebung, in die die Untersuchungspersonen nur zum Zweck der Untersuchung kommen. Ein Extrem an Laborforschung sind etwa Untersuchungen mancher empirischer Ökonomen zum lnvestitionsverhalten, bei denen man Versuchspersonen in einen Universitätsraum oder in einen gemieteten Wirtshaussaal einlädt, damit sie dort, durch Sichtblenden getrennt, mit Spielgeld Investitionsentscheidungen in verschiedenen angenommenen Konjunktursituationen fällen.

Demgegenüber sollen in der Feldforschung die Daten in der alltäglichen Umgebung der Versuchspersonen erhoben werden, weil dort alle die Faktoren auf die Versuchsperson einwirken, die auch außerhalb der Forschungssituation auf sie wirken. Am deutlichsten wird der Gegensatz beim Experiment, wo die Unterscheidung von Feld- und Laborexperiment auch gängiger Sprachgebrauch ist. lm Gegensatz zum eben skizzierten Laborexperiment zum lnvestitionsverhalten würde man in einem Feldexperiment beispielsweise Handwerkern aus verschiedenen Branchen echtes Geld geben, um zu sehen, wie sich die unterschiedliche Konjunktur der Branchen auf die Risikobereitschaft beim Investieren auswirkt.

Entsprechend dem Beginn der Feldforschung in der Ethnologie ist einer ihrer Hauptzwecke ein Vorteil für den Forscher: Er erhält Kenntnis vom sozialen (und natürlichen) Umfeld seines Forschungsgegenstandes und vermag ihn erst dadurch zutreffend zu deuten. Ethnologie ist ein interkulturelles Vorhaben. Forscher aus einer Kultur forschen über eine andere, für sie fremde Kultur. Selbst wenn sie die Sprache der beforschten Kultur fließend beherrschen sollten, kennen sie noch nicht die Bedeutung von Gesten, Traditionen, die Wirkung von Ängsten, religiösen Normen, die Rücksicht auf Bräuche, Loyalitäten usw. und geraten so in die Gefahr von Ethnozentrismus bei der Deutung ihrer Ergebnisse. Wer etwa als mitteleuropäischer Forscher nicht weiß, dass in manchen Kulturen ein deutliches Nein auf eine Frage eine ungezogene Unhöflichkeit ist und deshalb durch zurückhaltende Zustimmung ersetzt wird, der würde sich wundern, dass er auf die Frage, ob jemand bereit wäre, ehrenamtlich in einer Hilfsorganisation mitzuarbeiten, sehr oft scheinbare Bereitwilligkeit findet in Antworten wie »Wenn mich jemand fragte und ich hätte gerade Zeit übrig, wäre ich grundsätzlich sicherlich interessiert daran«, die in Wirklichkeit aber eine Verneinung bedeutet. In solchen Situationen ist die langfristige teilnehmende Beobachtung ein methodisch angezeigter Ausweg. Dabei ist aber eine große methodische Schwierigkeit, dass der Beobachter allein durch seine Teilnahme schon das Feld verändert. Das kann sich allerdings im Laufe der Zeit durch Gewöhnung des personalen Umfeldes ändern; so wurde ein Forscher, der in der Rolle des Protokollanten an den Sitzungen eines Betriebsrates teilnahm, nach Wochen stillen Mitschreibens gefragt, warum er sich aus allem heraushalte und nie seine Meinung sage, wie es sich für ein Mitglied des Betriebsrates gehöre. Eine methodisch ziemlich unproblematische, aber in ihrer Validität sehr begrenzte Datensammlungstechnik für Feldforschung ist das Informantengespräch oder-interview. Elemente von Feldforschung werden auch bei der mündlichen Befragung benutzt, wenn diese in einer Umgebung durchgeführt wird, die dem Befragungsthema entspricht, also eine Befragung zur Arbeit am Arbeitsplatz, zu Erziehungszielen am Wohnzimmer- oder ggf. am Küchentisch usw. Das soll die Forderung nach »Einheitlichkeit der (Daten-)Erhebungssituation« verwirklichen, die man bei der schriftlichen Befragung gar nicht erst erheben kann. Die Begriffe Feldphase und Feldarbeit haben nichts mit der Feldforschung zu tun. Sie bezeichnen die Datenerhebung außerhalb des Arbeitszimmers auch bei jeder Laborforschung.

[125]Vor- und Nachteile

Am geschilderten Experimentbeispiel wird deutlich: lm Laborexperiment können wir die uns hier interessierende unabhängige Untersuchungsvariable, das lnvestitionsverhalten unter verschiedenen Konjunktursituationen, schön eindeutig messen, weil alle »Störvariablen« ausgeschaltet werden können. Wir können aber die Ergebnisse nicht als Entwicklungsprognose für die Wirklichkeit verwenden, weil dort die Störvariablen nicht ausgeschaltet werden können. lm Feldexperiment haben wir diese Störvariablen (z. B. Familiensituation, Gesundheitszustand) enthalten, können aber ihren jeweiligen Anteil an der lnvestitionsentscheidung nicht bestimmen. Ein Nachteil der Feldforschung ist – neben den viel höheren Kosten und der längeren Dauer – gegenüber der Laborforschung die Gefahr, dass Forscher sich mit ihren Objekten (über-)identifizieren (»going native«, wie die Ethnologen sagen) und so das Qualitätsmerkmal der Objektivität verletzen. Repräsentativität kann in der Feldforschung nicht erreicht, nicht einmal angestrebt werden. Sie eignet sich daher – das aber hervorragend – zur Einzelfallstudie, zur Hypothesenfindung und auch überhaupt zur Darstellung des Bühnenbildes für folgende methodisch strengere Untersuchungen. Die externe Validität der Feldforschung ist sehr hoch. Feldforschung ist also weitgehend deskriptiv und qualitativ. Sie wird daher oft im Vorlauf zu quantitativen Untersuchungen durchgeführt. Verbindungen zur soziologischen Theorie bestehen u. a. darin, dass die Feldforschung manche Überlegungen Max Webers zur Verstehenden Soziologie aufgegriffen hat. Andererseits hat sich der Symbolische lnteraktionismus Gedanken der Feldforschung zur Grundlage gemacht; in dieser Beziehung war die Feldforschung wohl fruchtbarer als alle quantitativen Methoden.

Beispiele für Feldforschung

Zu den einflussreichsten Werken der Feldforschung gehören die Untersuchungen von A. R. Radcliffe-Brown (The Andaman lslanders. 1922), B. Malinowski (Argonauts of the Western Pacific, 1922) und Feldforschung Boas mit seinen Forschungen über die Eskimos (ab 1886) und die lndianer-Studien seiner Schüler. Alle drei waren Mitbegründer der Ethnologie, die beiden Ersten waren ihrerseits beeinflusst von dem Soziologen Emile Durkheim. Die Soziologie nahm ihre Anregungen für Feldforschung vor allem von diesen Arbeiten auf, nicht zuletzt wegen der methodologischen Einleitung von Malinowski. Ebenfalls ethnologisch waren die Feldforschungen, die M. Mead ab 1931 in Neuguinea durchführte und die viele methodologische Diskussionen auslösten. Vor diesen Anstößen aus dem lndischen bzw. Pazifischen Ozean gab es eigentlich schon geeignete Anregungen aus Europa, so etwa von W. H. von Riehl und C. Booth.

Aber der erste Autor war Schriftsteller, Journalist, Theater- und Museumsdirektor, und der Zweite war Geschäftsmann und Sozialpolitiker, und ihre Werke waren weniger wissenschaftlich als sozialpolitisch ausgerichtet. Bahnbrechend für die moderne soziologische Feldforschung war die »Chicagoer Schule« in den USA. Zugleich mit der Begründung der Stadtsoziologie wurden dort Subkulturen erforscht. Als Beispiele sind zu nennen: W. I. Thomas: The Polish Peasant in Europe and America (1918–1922); The Unadjusted Girl (1923); R. E. Park: The Press and lts Control (1922); L. Wirth: The Ghetto (1922); P. G. Cressey: The Taxi-Dance Hall (1932). Hier entstand auch die Verbindung zum Symbolischen lnteraktionismus. Eine ebenfalls viele Folgestudien anregende Feldforschung unternahm W. F. Whyte, der vier Jahre unter Jugendlichen in einem italienischen Stadtteil von Boston zubrachte und die Ergebnisse 1943 im Buch »Street Corner Society« veröffentlichte. Auch hier ist der methodologische Anhang noch heute interessant. lm deutschsprachigen Raum war die Marienthal-Studie von M. Jahoda, P. Lazarsfeld und H. Zeisel ein Pionier der Feldforschung. Diese psychologisch-soziologische Untersuchung aus einer Zeit, als die beiden Fächer noch nicht so säuberlich geschieden waren, beschreibt das Leben von einzelnen Menschen und Familien in einem niederösterreichischen Dorf, nachdem der beherrschende Betrieb geschlossen worden war und praktisch alle Bewohner arbeitslos waren. Um einen Eindruck von der Vielfalt der Feldforschung zu erhalten, seien hier die Datenquellen aufgezählt: Karteikarten für jeden der 1.486 Einwohner mit allen erreichbaren Daten; Lebensgeschichten von 62 Personen; Zeitverwendungsbögen; Anzeigen und Beschwerden; Schulaufsätze, u. a. über Berufswünsche; Preisausschreiben für Jugendliche über Zukunftsvorstellungen; lnventare der Mahlzeiten in 40 Familien; Protokolle über Weihnachtsgeschenke, Gesprächsthemen in Läden, Umsätze in Geschäften[126] und der Gastwirtschaft usw.; Statistiken über den Konsumverein, Bibliotheksentleihungen, Vereinsmitgliedschaften usw.; historische Angaben über Fabrik, Gewerkschaften, Parteien usw.; Bevölkerungsstatistik; Erkundungen durch teilnehmende Beobachtung in Parteien, Zuschneidekurs, Arztsprechstunden, Mädchenturnkurs und Erziehungsberatung. Aus der neueren Feldforschung sind vor allem die zahlreichen Studien von R. Girtler über die verschiedensten Subkulturen zu nennen, von Prostituierten über Polizeibeamte, Stadtstreicher, Wilderer bis zu den Nachfahren des ehemaligen österreichischen Adels. Für die französische Soziologie wurden besonders die Feldforschungen von P. Bourdieu in Algerien wichtig, sowohl methodisch wie theoretisch.

Literatur

Booth, Charles, 1891–1903: Life and Labour of the People of London, 17 Bde., London. – Girtler, Roland, 2001: Methoden der Feldforschung, Stuttgart. – Jahoda, Marie et al., 1960: Die Arbeitslosen von Marienthal, Allensbach/ Bonn. – Riehl, Wilhelm H. von, 1851–1869: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, 4 Bde., Stuttgart. – Sutterlüty, Ferdinand; lmbusch, Peter (Hg.), 2008: Abenteuer Feldforschung. Soziologen erzählen, Frankfurt a. M. – Whyte, William F., 1943: The Street Corner Society, Chicago (dt. 1996).

Günter Endruweit

Feldtheorie

Die sozialwissenschaftliche Entwicklung der Feldtheorie (engl. field theory) basiert auf der Übertragung der physikalischen Entdeckungen des elektromagnetischen Feldes und des Gravitationsfeldes. Diese natürlichen Felder sind Kraftfelder, innerhalb derer Objekte ihre Positionen durch auf sie einwirkende Kräfte erhalten. Bereits seit Galilei wird die Erde nicht mehr als das Zentrum des Universums verstanden, sondern erhält nach Newton eine relative Position innerhalb eines Systems von Planeten. Die Position wird damit durch die Gravitationskräfte der Planeten bestimmt. Übertragen auf den sozialwissenschaftlichen Bereich bedeutet dies, dass die soziale Position eines Menschen nicht auf das Individuum selbst zurückgeführt werden kann, sondern durch ein soziales bzw. gesellschaftliches Kraftfeld bestimmt wird.

Der erste sozialwissenschaftliche Feldbegriff geht auf Kurt Lewin zurück, der ab den 1920er Jahren für seine Sozialpsychologie einen mikrosoziologischen Feldbegriff entwarf. Lewins Ziel bestand darin, mithilfe der Konzeption eines psychologischen Feldes das Verhalten von einzelnen Menschen zu erklären. Demzufolge sind Menschen von einem Kraftfeld umgeben, auf das ihr Verhalten zurückgeführt werden muss (Lewin 1982a: 159). Das den Menschen umgebende Feld besteht für Lewin aus zwei Teilen: der psychologischen Umwelt, also dem Lebensraum oder der sozialen Welt, und der psychologischen Innenperspektive der Person, also ihren inneren Motiven zu einem bestimmten Verhalten, das sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft ergibt (Lewin 1982d: 196 ff., 1982b: 375 ff.). Somit bilden die Person und ihre Umwelt zusammen die beiden Teile eines dynamischen psychologischen Feldes (Lewin 1982c: 294, 1982d: 207).

Die Struktur dieses Feldes betrachtet Lewin als dynamisch, weil es aus einer Reihe von gerichteten Kräften besteht, den Vektoren (Lewin 1982e: 68, Vester 2002: 62). Das Verhalten einer Person ergibt sich aus allen zu einem bestimmten Zeitpunkt wirkenden Kräften des psychologischen Feldes. Lewin spricht dabei von einer Konstellation oder Topologie (Lohr 1963: 24 f.). Mit seiner Konzeption des psychologischen Feldes intendiert Lewin zwar vorrangig die Beschreibung der psychologischen Innenperspektive, jedoch denkt er dabei explizit auch das äußere soziale Umfeld einer Person mit (Lewin 1982a: 160, 1982d: 187 ff.).

Unter anderem auf der Basis von Lewins Feldkonzeption entwickelte Pierre Bourdieu einen makrosoziologischen Feldbegriff (Bourdieu 1993, 1996). Die theoretische Grundkonzeption des Feldes entwickelte Bourdieu in Auseinandersetzung mit Max Webers Religionssoziologie (Weber 1972: 245–381, Bourdieu 1986: 156). Weber analysierte darin, dass der Prozess zur Produktion, Reproduktion und Verbreitung religiöser Güter von der sozioökonomischen Entwicklung der Gesellschaft relativ unabhängig verlief, weshalb er den Bereich der Religion als »relativ autonomes religiöses Feld« veranschaulichte (Bourdieu 2000: 53). Bourdieu analysierte im Rahmen seiner Feldtheorie eine Reihe von sozialen Bereichen als Felder. Neben dem religiösen Feld widmete [127]er dem wissenschaftlichen (Bourdieu 1988, 1998) dem künstlerischen (1999) und dem politischen Feld (2001) jeweils eigene Untersuchungen.

Zudem übernahm auch Bourdieu für seine Feldkonzeption das physikalische Paradigma, also die Vorstellung des Feldes als Kräftefeld: Entsprechend der Feststellung in der Physik, »dass die Sterne nicht auf einem Gerüst hängen, sondern miteinander ein bewegtes Energiefeld bilden«, ist ein soziales Feld bei Bourdieu nicht einfach ein feststehendes, hierarchisch geordnetes »Klettergerüst« der sozialen Positionen, sondern ein Kräftefeld, das erst durch den Kampf der sozialen Akteur/innen untereinander zustande kommt (Vester 2002: 63). Soziale Felder erhalten ihre Struktur also erst durch konkurrierende Positionen von Akteur/innen (Bourdieu 1993: 107). Eine Position auf einem Feld ergibt sich dem zufolge in Relation bzw. Abgrenzung zu anderen Positionen. Damit ist ein Feld »ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen« (Bourdieu 1996: 127). Soziale Felder sind folglich Arenen, in denen Konkurrent/innen um die Bewahrung und Veränderung der Struktur des jeweiligen Kräftefeldes kämpfen: »Das generierende und vereinheitlichende Prinzip dieses ›Systems‹ ist der Kampf selbst.« (Bourdieu 1999: 368). Zwar nehmen die Kämpfe auf den unterschiedlichen Feldern unterschiedliche Formen an, jedoch besteht die Grundstruktur immer in der feldinternen Auseinandersetzungen zwischen den auf dem Feld Etablierten, den Herrschenden, und den Anwärter/innen auf die Herrschaft (Bourdieu 1993: 107). Die etablierten Akteur/innen mit den höchsten Positionen neigen unter den gegebenen Kräfteverhältnissen zum Konservativismus, d. h. zu Erhaltungsstrategien, während die Akteur/innen mit niedrigen Positionen zu feldinternen Revolutionen und Umsturzstrategien tendieren (Schumacher 2011: 140).

Literatur

Bourdieu, Pierre, 1986: Der Kampf um die symbolische Ordnung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit A. Honneth, H. Kocyba und B. Schwibs; in: Ästhetik und Kommunikation 62/16. – Ders., 1988: Homo academicus. Frankfurt a. M. – Ders., 1992: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. – Ders., 1993: Über einige Eigenschaften von Feldern; in: ders. (Hg.): Soziologische Fragen, Frankfurt a. M., 107–114. – Ders., 1996: Die Logik der Felder; in: ders; Wacquant, Loïc J. D (Hg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M., 124–147. – Ders., 1998: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz. – Ders., 1999: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. – Ders., 2000: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz. – Ders., 2001: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz. – Lewin, Kurt, 1982a: Feldtheorie des Lernens; in: Graumann, Carl-Friedrich (Hg.): Feldtheorie, Bern/Stuttgart, 157–185. – Lewin, Kurt, 1982b: Verhalten und Entwicklung als Funktion der Gesamtsituation; in: Weinert, Franz E.; Gundlach, Horst (Hg.): Psychologie der Entwicklung und Erziehung, Bern/ Stuttgart, 375–448. – Lewin, Kurt, 1982c: Psychologische Ökologie; in: Graumann (Hg.) [s. o.], 291–312. – Lewin, Kurt, 1982d: Feldtheorie und Experiment in der Sozialpsychologie; in: Graumann (Hg.) [s. o.], 187–213. – Lewin, Kurt (1982e): Formalisierung und Fortschritt in der Psychologie; in: Graumann (Hg.) [s. o.], 41–72. – Lohr, Winfried, 1963: Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe; in: Cartwright, Dorwin (Hg.): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften, Bern/Stuttgart, 15–42. – Schumacher, Florian, 2011: Bourdieus Kunstsoziologie, Konstanz. – Vester, Michael, 2002: Das relationale Paradigma und die politische Soziologie sozialer Klassen; in: Bittlingmayer, Uwe H. et al. (Hg.): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen, 61–121. – Weber, Max, 1972: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen (1921).

Florian Schumacher

Forschung

Forschung (engl. research) ist in den beiden Hälften der empirischen Sozialwissenschaften, der Theorie und der Empirie, die Tätigkeit des Wissenschaftlers im Bereich der Empirie, d. h. die Tätigkeit, durch die er mit objektspezifischen Methoden in der Wirklichkeit Erkenntnisse über sein Objekt sammelt oder auch die Suche »nach Erkenntnissen durch systemische Auswertung von Erfahrungen (›empirisch‹ aus dem Griechischen: ›auf Erfahrung beruhend‹)« (Bortz/Döring, 5).

Damit sind quantitative und qualitative Methoden gleichermaßen gemeint, aber stets grundsätzlich Methoden der Feldforschung, auch in deren Modifikation als Laborforschung, weil es auch in dieser um Erforschung am Erkenntnisobjekt geht, nur eben in einer künstlichen Situation. Ausgeschlossen ist damit die »Schreibtischforschung« (desk research im Gegensatz zu field research), die nur ein Irrtum erregender Ausdruck für Theoriearbeit ist. Diese ist entweder vor der Forschung angesiedelt, wenn es um[128] erste hypothetische Erklärungen der Forschungsfragen geht, oder nach der Forschung, wenn deren Ergebnisse für eine revidierende, nun validere Fassung der Theorie ausgewertet werden; dieser zweite Bereich ist in der Soziologie allerdings bisher völlig unterentwickelt. Damit stehen Theoriekonstruktion und Forschung in den empirischen Sozialwissenschaften in einem untrennbaren Zusammenhang, auch wenn dieser im Wissenschaftsalltag längst nicht immer beachtet wird (Babbie, 35–54; Endruweit, 66–69, 78, 125–128), u. a. auch dadurch nicht, dass Theorien i. d. R. nicht »überprüfungsorientiert« formuliert werden.

Der Grundsatz von Forschung als Feldforschung wird nur vermeintlich durchbrochen von Datensammlungsverfahren, die in der Tat am Schreibtisch, jetzt eher am Computertisch angewendet werden, so etwa bei der Inhaltsanalyse. Hierbei ist beispielsweise das eigentliche Forschungsobjekt die Sozialisationspraxis der Adelsfamilien im 17. Jh., die »im Feld« nicht mehr beobachtet oder durch Befragung erforscht werden kann, sondern die z. B. nur aus autobiografischem Material als der Wirklichkeit noch nächster Quelle ermittelt werden kann, gewissermaßen als Interviewersatz, also indirekte Feldforschung.

Über die Unterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Forschung gibt es viele idealtypische Aussagen (vgl. z. B. die Tabellen bei Lamnek, 244, und Bortz/Döring, 299–302), die alle einige sehr fragwürdige Elemente enthalten. Ob man quantitativ oder qualitativ vorgeht, hängt nicht zuletzt davon ab, was man einerseits an Daten hat oder haben kann und was man andererseits mit den Daten aussagen will. Wenn Totalerhebungen oder Stichproben unmöglich sind, ist auch quantitative Forschung unmöglich. Wenn man dagegen, wie so oft, aus keiner Theorie eine Hypothese für das ins Auge gefasste Forschungsthema finden kann, ist ein qualitatives Interview manchmal weit aufschlussreicher als jede quantitative Explorationsstudie. Allerdings darf in den Sozialwissenschaften nie vom Teil auf das Ganze geschlossen werden (ebenso nicht vom Ganzen auf ein Teil), weil sie keine den Naturgesetzen entsprechende Erkenntnisse haben. Aber nicht nur zur Hypothesenfindung ist qualitative Forschung brauchbar, sondern auch zur Hypothesenprüfung, wenn es sich um Es-gibt-Hypothesen handelt (Beispiel: Es gibt nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung durch die Vergabe von Mikrokrediten). Je-desto-Hypothesen sind dagegen immer nur mit quantitativer Forschung zu überprüfen.

Das hier beschriebene Konzept von Forschung ist am Kritischen Rationalismus orientiert. Daneben gibt es noch andere Auffassungen, etwa in der Kritischen Theorie oder in der marxistischen Soziologie (dazu u. a. Friedrichs, 18–32; Aßmann/Stolberg, 30–40), die aber in der tatsächlichen Forschung schon immer eine geringe Bedeutung hatten und jetzt eine fast nur noch Historische.

Literatur

Aßmann, Georg; Stollberg, Rudhart (Hg.), 1979: Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin. – Babbie, Earl, 1989: The Practice of Social Research, 5. ed., Belmont. – Bortz, Jürgen; Döring, Nicola, 2006: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, 4. Aufl., Heidelberg. – Endruweit, Günter, 1997: Beiträge zur Soziologie, Bd. I, Kiel. – Friedrichs, Jürgen, 1990: Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl., Opladen. – Lamnek, Siegfried, 1995: Qualitative Sozialforschung, Bd. 1, 3. Aufl., Weinheim.

Günter Endruweit

Freizeit

Freizeit im sozialen Wandel

Freizeit (engl. leisure time, free time) im 21. Jh. hat eine andere Qualität als in den Nachkriegszeiten der fünfziger und sechziger Jahre oder den Wohlstandszeiten der siebziger bis neunziger Jahre: Steigende Lebenserwartung auf der einen und sinkende Realeinkommen auf der anderen Seite lassen erwerbsfreie Lebensphasen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Lebensstandardsicherung und soziale Ungleichheiten, Gesundheitserhaltung sowie neue Sinnorientierungen des Lebens jenseits von Konto und Karriere machen den ehemaligen »Wohlstandsfaktor Freizeit« zu einer gleichermaßen ökonomischen wie sozialen Frage: Wie kann die persönliche und gesellschaftliche Lebensqualität auch in politisch und wirtschaftlich schwierigen Krisenzeiten erhalten und nachhaltig gesichert werden? Frei verfügbare Zeit- und Lebensabschnitte werden immer mehr zur Investition in lebenslanges Lernen, in Wohlfühlkonzepte, in Familien- und Nachbarschaftshilfen, aber auch in Unterhaltungs- und Entspannungsprogramme [129]genutzt. Aus dem »Frei von« bezahlter Arbeit wird zunehmend ein »Frei für« eine lebenswerte Zukunft. Das »spart« Geld, aber »kostet« Lebenszeit.

Freizeitbegriff

Das Freizeitverständnis hat sich grundlegend gewandelt. Quantitativ und qualitativ unterscheidet sich die Freizeit heute von früheren Freizeitformen. Auch gegenwärtig findet Erholung von der Arbeit in der Freizeit statt, aber die Freizeit ist nicht mehr nur – wie in den fünfziger Jahren – Erholungszeit. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat die Freizeit einen eigenständigen Wert bekommen. So vertritt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Auffassung, dass Freizeit in erster Linie eine Zeit ist, in der man tun und lassen kann, was einem Spaß und Freude macht. Aus einem arbeitsabhängigen Zeitbegriff, der Freizeit negativ als Abwesenheit von Arbeit definierte, hat sich ein positives Freizeitverständnis entwickelt: Freizeit ist eine Zeit, in der man für etwas frei ist.

Freizeitverhalten

Nur auf den ersten Blick verändert sich im Freizeitverhalten nichts. Doch im Zeitvergleich der letzten 50 Jahre hat es fast erdrutschartige Veränderungen gegeben. Die Lieblingsbeschäftigung »Aus dem Fenster sehen« wurde durch das »Fernsehen« ersetzt und »Telefonieren« macht regelmäßige »Verwandtenbesuche« weitgehend entbehrlich. Fest behauptet hat sich dagegen das »Radiohören« als wichtiges Begleitmedium des Freizeitalltags.

Die Wirklichkeit des Freizeitverhaltens der Deutschen vermittelt auf den ersten Blick ein ernüchterndes Bild: Die reale Freizeitqualität spielt sich zwischen Medien- und Erlebniskonsum ab. Und gesellschaftlich hoch bewertete Kulturaktivitäten in der Freizeit wie Opern-, Konzert- und Theaterbesuche, Rock-, Pop- und Jazzkonzertbesuche oder Museums- und Kunstausstellungsbesuche rangieren in der Beliebtheitsskala am unteren Ende. Der Medienkonsum ›frisst‹ den größten Teil der Freizeit. Im Westen wie im Osten Deutschlands widmen sich die Bundesbürger am meisten dem Medienkonsum.

Tourismus und Erlebnismobilität

»Travel« und »Travail«, Reisen und Arbeiten, haben die gleiche Wortwurzel und deuten auf das gleiche Phänomen hin: Der Mensch kann auf Dauer nicht untätig in seinen eigenen vier Wänden verweilen. Noch nie in der Geschichte des modernen Tourismus reisten so viele so viel. Reisen gilt als die populärste Form von Glück. Nach dem Bahn-, Auto- und Flugtourismus steht die vierte Welle der Demokratisierung des Reisens unmittelbar bevor: Trotz globaler Finanz- und Wirtschaftskrisen expandiert der Kreuzfahrttourismus – und die Wachstums-Ära der Billigflieger geht bald zu Ende.

Literatur

Opaschowski, Horst W., 2008: Einführung in die Freizeitwissenschaft, 5. Aufl., Wiesbaden. – Carius, Florian; Gernig, Björn, 2010: Was ist Freizeitwissenschaft?, Aachen.

Horst W. Opaschowski

Fremdenfeindlichkeit

Definition

Fremdenfeindlichkeit (griech. Xenophobie, engl. xenophobia) bezeichnet ablehnende Einstellungen und aggressive Verhaltensweisen von Personen, die zu einer Gemeinschaft (»ingroup«, »Wir-Gruppe«) gehören, gegenüber Mitgliedern anderer Gemeinschaften (»outgroup«, »Sie-Gruppe«). Dabei kann die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft real oder vorgestellt sein. Als fremdenfeindlich kann auch jede Weigerung ausgelegt werden, die Mitglieder der anderen Gemeinschaft als gleichwertig anzuerkennen und ihnen die allgemeinen Menschenrechte zu gewähren. Bei der Fremdenfeindlichkeit handelt es sich um eine komplexe Wertorientierung, die einerseits die eigenen kulturellen Praktiken, Werte und Normen als positiv und verbindlich definiert und andererseits die Fremden als bedrohlich und feindlich stigmatisiert. Voraussetzung für die Fremdenfeindlichkeit ist, dass die Zugehörigkeitsmerkmale, z. B. Religionszugehörigkeit, Nationalität, Rassenzugehörigkeit, Sprache, Kultur, regionale Zugehörigkeit etc. von einem Kollektiv negativ markiert und als fremd empfunden werden. Grundlage der Fremdenfeindlichkeit ist der sog. »Ethnozentrismus«, d. h. die[130] empfundene Überlegenheit der eigenen kulturellen Werte, Lebensweise, Weltanschauung, Religion, Rasse, Nation, Region und ethnischen Zugehörigkeit. Die Fremdenfeindlichkeit kann gesetzlich verankert und staatlich legitimiert werden, wie z. B. in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. In der Fachliteratur wird zwischen latenter (versteckter) und manifester (offener) Fremdenfeindlichkeit unterschieden.

Entwicklung des Begriffs

Die Fremdenfeindlichkeit ist ein altes Phänomen. Dieses beruht auf der Erfassung der Welt durch binäre Kategorien, z. B. »gut« und »böse«, »groß« und »klein«, »weiß« und »schwarz«, »unsere« und »fremde« etc. Ursprünglich bedeutete das Wort »Xenophobie« »Angst vor den Fremden«. In der Fachliteratur wird die Bedeutung auf das komplette Spektrum der negativen Einstellungen und Handlungen ausgeweitet. Die ursprüngliche Anwendung des Begriffs fokussierte auf Gruppen und Personen, die außerhalb eines Territorialstaates lebten – die »Ausländer«. Fremdenfeindlichkeit gehört, historisch gesehen, zu den wichtigsten Konflikt- und Kriegsursachen.

Prozesse wie Globalisierung und Pluralisierung der Kulturen, sowie die zunehmenden Migrationsbewegungen stellen moderne Gesellschaften vor die Herausforderung, das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im Alltag zu gestalten. Aus diesem Grund beziehen sich sowohl die analytische Kategorie als auch das Phänomen »Fremdenfeindlichkeit« immer mehr auf Personen und Gruppen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen, aber innerhalb einer Gesellschaft oder eines Staates leben, z. B. Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund. Sie werden von einzelnen sozialen Gruppen oder von der ganzen Gesellschaft als »anders« oder als »fremd« gekennzeichnet und in ihrer »Fremdheit« benachteiligt. In den modernen kulturpluralistischen Gesellschaften gehört die Fremdenfeindlichkeit zu den wichtigsten Ursachen der Diskriminierung. Eine weitere Anwendung des Begriffs »Fremdenfeindlichkeit« geht über die ethnischen, nationalen und religiösen Dimensionen hinaus. Als »fremd« können Minderheiten, Subgruppen oder Randgruppen empfunden und stigmatisiert werden.

Typologisierung der Fremdenfeindlichkeit

Der Begriff der Fremdenfeindlichkeit ist definitorisch unscharf. Er umfasst die »Ausländerfeindlichkeit«, die als eine Unterart der Fremdenfeindlichkeit primär auf die nationalen Unterschiede fokussiert: Eine Person wird aufgrund einer realen oder vermuteten nationalen Zugehörigkeit ausgegrenzt und diskriminiert. Vor allem in Einwanderungsgesellschaften verliert das Kriterium Staatsangehörigkeit an Bedeutung. Die fremdenfeindlichen, im Unterschied zu den ausländerfeindlichen, Einstellungen beziehen sich auf Personen, die aufgrund ihres Äußeren, ihre Sprache oder ihre Kultur als »fremd« empfunden werden. In der Forschung gewinnt der Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (engl. »group-focused enmity«) zunehmend an Bedeutung. Dieser Begriff ist umfangreicher und reduziert die feindlichen Einstellungen nicht auf die ethnischen und nationalen Aspekte der Problematik. Vielmehr fokussiert der Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« auf reale oder vorgestellte Gruppenzugehörigkeiten, die folgende Merkmale berücksichtigen: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamophobie, klassischer Sexismus, Etabliertenvorrechte, Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Der Begriff wurde von W. Heitmeyer und dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld geprägt. Die Formen der Fremdenfeindlichkeit sind unterschiedlich: Sie reichen von verbaler Stigmatisierung (»hate speech«) bis hin zur Ausgrenzung, Vertreibung oder Vernichtung.

Determinanten der Fremdenfeindlichkeit

Das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit wird von vielen Fachdisziplinen analysiert, unter anderem von der Anthropologie, (Sozial-)Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Medienwissenschaften. Sie machen unterschiedliche Ursachen für die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit aus. In der Forschung wird diskutiert, ob die Fremdenfeindlichkeit auf ein Abwehrmuster, das bei allen Kulturen und Individuen vorhanden und damit universal ist, zurückzuführen ist oder ob sie sozial hergestellt und erlernt wird und damit typisch für einige Gesellschaftsformen und individuelle Problemlagen ist.

Die Anthropologie und die Soziobiologie versuchen, die Fremdenfeindlichkeit als eine »natürliche« [131]Reaktion und eine instinkthafte Abwehrhaltung des Individuums gegen Einwirkungen von außen darzustellen und den universalen Charakter der Fremdenfeindlichkeit zu beweisen. Die Sozialpsychologie hingegen betont die Bedeutung der sozialen Anbindung der Individuen für die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit. Klassisch in dieser Hinsicht ist die Kontakthypothese von G. Allport. Nach dieser führt der Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen zum Abbau der Vorurteile und der fremdenfeindlichen Einstellungen. Die Grundlage dieser Hypothese ist die Annahme, dass die fremdenfeindlichen Einstellungen aus Mangel an Information und Interaktion resultieren. Diese Hypothese wird oft diskutiert in den Sozialwissenschaften, denn nicht jeder Kontakt führt nachweislich zum Abbau von Vorurteilen und dadurch zur Reduzierung fremdenfeindlicher Einstellungen. Unter Umständen können Kontakte sogar die fremdenfeindlichen Einstellungen erhöhen. Die Qualität des Kontakts, der (gleiche) Status der Kontaktpartner und die (gemeinsamen) Ziele, die durch den Kontakt verfolgt werden, sind von Bedeutung.

Die Psychologie akzentuiert die Bedeutung der »autoritären Persönlichkeit« für die Entstehung fremdenfeindlicher Einstellungen auf individueller Ebene. Die repressiven Einwirkungen der Eltern und der Gesellschaft können zu einer Schwäche der Persönlichkeit führen, die kompensatorisch hierarchische Strukturen sucht und Gewalt billigt. Auch die Pädagogik betont die Bedeutung der Sozialisation für die fremdenfeindlichen Einstellungen: Erlebte Gewalt in der Familie und in den sog. »Peer-Gruppen« wirken in diese Richtung ein. Präventiv können hingegen Bildung und Erziehung sein.

Die soziologische Perspektive auf die Fremdenfeindlichkeit betont die Frage nach den sozial-strukturellen Ursachen. Die Zu- bzw. Abnahme der fremdenfeindlichen Einstellungen hängt u. a. auch von der wirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft ab. Gesellschaften, die wirtschaftlich stabil sind, sind in geringerem Maß fremdenfeindlich. Hingegen erhöhen sich in einer wirtschaftlichen Krise die fremdenfeindlichen Einstellungen. Diese These wird von der sog. »Konkurrenztheorie« unterstützt. Die reale oder empfundene Konkurrenz um knappe Ressourcen (z. B. Arbeitsplätze oder Wohnungen) erhöht die fremdenfeindlichen Einstellungen in einer Gesellschaft. Insgesamt wirkt sich die gesellschaftliche Desintegration, z. B. die Auflösung familiärer Strukturen, Verunsicherung, Perspektivlosigkeit, Verlust verbindlicher Normen auf die fremdenfeindlichen Einstellungen aus und kann als eine Ursache der Fremdenfeindlichkeit angesehen werden.

In der soziologischen Forschung wird diskutiert, in wieweit Fremdenfeindlichkeit schicht-, milieu-, und genderspezifisch ist. Die These, dass fremdenfeindliche Einstellungen bei bestimmten sozialen Schichten häufiger vorkommen, ist nicht unumstritten. Auch bei sozial etablierten Schichten sind fremdenfeindliche Einstellungen festzustellen. Besonders im Kontext der sog. »Sarrazin-Debatte« ist die Rede von einem zunehmenden »Extremismus der Mitte«. Umstritten in den Sozialwissenschaften ist die These, dass die Fremdenfeindlichkeit von der Anzahl der Fremden in einer Gesellschaft, von der Dauer ihres Aufenthaltes und von ihrem Aufenthaltsstatus abhängig ist. Es ist lediglich nachgewiesen, dass die öffentliche Wahrnehmung der »Fremden« auf Problemgruppen, z. B. Asylbewerber und Flüchtlinge, fokussiert. Dieses Forschungsthema ist zentral für die Medienwissenschaften. Sie befassen sich mit der diskursiven Konstruktion und mit den Techniken der medialen Darstellung der »Fremdheit«.

Ausblick

In der öffentlichen Debatte über Fremdenfeindlichkeit wird die These vertreten, dass durch die Demokratisierung und durch die Erhöhung des Lebensstandards die Fremdenfeindlichkeit abnehmen würde. Allerdings zeigt sie sich resistent: Komparative europaweite Studien verdeutlichen, dass die Fremdenfeindlichkeit ein fester Bestandteil der europäischen Gesellschaften ist. Die Zunahme fremdenfeindlicher, insbesondere antisemitischer und homophober, Einstellungen und eine Verschlechterung der Lage der Roma in Osteuropa sind auch nach der EU-Osterweiterung festzustellen. In einer kulturpluralistischen Gesellschaft stellt sich die Frage nach der Begründung der Abgrenzung einer Gruppe als fremd und auch nach dem, aus welcher Perspektive definiert werden kann, was »fremd« ist. Zur gesellschaftlichen und politischen Diskussion steht die Frage, ob eine kulturpluralistische Gesellschaft verbindliche Werte und Normen braucht und welche diese sein sollen.

[132]Literatur

Agency for Fundamental Rights, 2007: Bericht über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den Mitgliedstaaten der EU, Wien. – Ahlheim, Klaus, 2011: Sarrazin und der Extremismus der Mitte. Empirische Analysen und pädagogische Reflexionen, Hannover. – Allport, Gordon, 1971: Die Natur des Vorurteils, Köln. – Frindte, Wolfgang (Hg.), 2002: Fremdenfeindliche Gewalttäter, Wiesbaden. – Heitmeyer, Wilhelm, 2011: Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt a. M. – Institut für Sozialforschung (Hg.), 1992: Aspekte der Fremdenfeindlichkeit: Beiträge zur aktuellen Diskussion, 5. Aufl., Frankfurt a. M. – Jäger, Siegfried, 2007: Mediale Barrieren: Rassismus als Integrationshindernis, Münster. – Möller, Kurt; Schuhmacher, Nils, 2007: Rechte Glatzen: Rechtsextreme Orientierungs- und Szenezusammenhänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads, Wiesbaden. – Sommerfeld, Alkje, 2010: Fremdenfeindlichkeit durch Emotionen? Subjektive Deutungsmuster Jugendlicher gegenüber Zuwanderern, Weinheim/München. – Willems, Helmut; Steigleder, Sandra, 2011: Jugend in einem marginalisierten Stadtteil: Perspektivlosigkeit, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und interethnische Konflikte, Wiesbaden.

Marina Liakova

Führung

Das Thema der »Führung« (engl. leadership) von Personen genießt in unterschiedlichen Wissenschaften (z. B. Sozial- und Organisationspsychologie, Organisations- und Betriebssoziologie, Betriebswirtschaftslehre) seit längerem besondere Beachtung. Vereinfacht kann Führung als »zielbezogene Einflussnahme auf andere« beschrieben werden (Rosenstiel et al. 1988). Unterschieden wird dabei zwischen einer Führung durch Strukturen (z. B. durch Anreizsysteme oder Vorschriften) und einer Führung durch Menschen. Diese Darstellung fokussiert auf Führung durch Menschen: eine Person versucht, auf andere Personen Einfluss auszuüben, sie zu motivieren oder sie dazu zu bringen, einen Beitrag zum Erreichen eines kollektiven Ziels einer Gruppe oder Organisation zu leisten (vgl. Chhokar et al. 2007; Yukl 2012). Drei Elemente sind deshalb typisch für Führungsdefinitionen: Gruppe, Einfluss und Ziel (Bryman 1992).

Alle Führungstheorien verfolgen explizit oder implizit das Ziel, Führungserfolg (z. B. Produktivität der geführten Gruppe, Mitarbeiterzufriedenheit) zu erklären, vorherzusagen und Beeinflussungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Sie unterscheiden sich jedoch in den Bedingungen oder Prozessen, die dabei im Zentrum des Interesses stehen: Klassische Führungstheorien fokussieren auf die Führungskraft (z. B. ihre Eigenschaften, ihr Verhalten). Interaktionale Führungstheorien konzeptualisieren Führung als Wechselspiel zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Neuere Entwicklungen in der Führungsforschung betonen u. a. die soziale Konstruktion von Führung und sozialer Identität im Gruppenkontext (vgl. Kerschreiter et al. 2011). Ein umfassender Überblick über Führungstheorien findet sich bspw. bei Yukl (2012).

Klassische Führungstheorien

Eigenschaftstheoretische oder personalistische Ansätze: Ein Großteil der Führungsforschung konzentrierte sich bis in die 1960er Jahre auf Persönlichkeitsmerkmale, die für Führungspersonen charakteristisch sind. Dabei wurde implizit angenommen, dass die Fähigkeit, andere zu führen, eine relativ stabile, von Zeit und Situation unabhängige Persönlichkeitsdisposition ist. Ziel war die Identifikation des Eigenschaftsprofils von Führungspersönlichkeiten und, darauf aufbauend, die Erstellung eines idealen Eigenschaftsprofils, das die Auswahl geeigneter Personen für Führungspositionen ermöglichen sollte (bspw. durch den Einsatz von Persönlichkeitstests). Metaanalysen (Judge et al. 2002; Judge et al. 2004) bestätigen zwar positive Zusammenhänge zwischen bestimmten Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Intelligenz) und Kriterien des Führungserfolges, jedoch sind diese Zusammenhänge im kleinen bis mittleren Bereich der Effektgröße und erklären Führungserfolg bei weitem nicht erschöpfend.

Verhaltenstheoretische Ansätze: Um den Führungserfolg besser vorhersagen zu können, als dies mit den persönlichkeitsorientierten Ansätzen möglich war, wandten sich zahlreiche Forscher zu Beginn der 1950er Jahre dem Einfluss des Führungsverhaltens auf den Führungserfolg zu. Dabei wurden beobachtbare Führungsverhaltensweisen beschrieben und klassifiziert, mit Hilfe des Konzepts des Führungsstils systematisiert und der Einfluss des jeweiligen Führungsstils für den Führungserfolg untersucht. Aufbauend auf den frühen Arbeiten Kurt Lewins und seiner Schüler (vgl. Lewin et al. 1939) entwickelte die sog. Ohio-Gruppe (Stogdill, Fleishman, [133]Hemphill et al.) mit Hilfe von Fragebögen zur Beschreibung des Führungsverhaltens ein Konzept zur Systematisierung des Führungsverhaltens, das zwei voneinander unabhängige Dimensionen des Führungsverhaltens unterscheidet: Mitarbeiterorientierung (engl. consideration), gekennzeichnet durch freundliches und unterstützendes Verhalten den Mitarbeitern gegenüber sowie Interesse am Wohlbefinden der Mitarbeiter zeigend, und Aufgabenorientierung (engl. initiating structure), gekennzeichnet durch eine Ausrichtung des Verhaltens an Zielerreichung und Aufgabenerledigung. Eine neuere Metaanalyse (Judge et al. 2004) bestätigt moderate Beziehungen zwischen Mitarbeiterorientierung sowie Aufgabenorientierung und verschiedenen Kriterien des Führungserfolgs (z. B. Arbeitszufriedenheit, Zufriedenheit mit der Führungskraft, Motivation der Geführten, Effektivität der Führungskraft).

Kontingenztheoretische Ansätze: Die Kontingenztheorien ergänzen die bisher genannten Ansätze um verschiedene Aspekte der Situation (z. B. Merkmale der Arbeitsaufgabe, der Mitarbeiter, des Organisationskontexts) und fokussieren auf die Frage, in welchen Situationen welcher Führungsstil besonders erfolgreich ist.

Wegbereiter dieser Ansätze war das mittlerweile inhaltlich überholte Kontingenzmodell von Fiedler (1967; Fiedler/Mai-Dalton 1995), das als erstes Führungsmodell auch Merkmale der Situation berücksichtigt. Hohe bzw. geringe Ausprägungen von drei Situationsmerkmalen (in absteigender Wichtigkeit: Qualität der Führer-Geführten-Beziehung, Positionsmacht, Aufgabenstruktur) ergeben acht unterschiedliche Grade der Situationskontrolle der Führungskraft. Auf Seiten der Führungskraft werden über die Einstellung der Führungskraft zum am wenigsten geschätzten Mitarbeiter (sog. »least preferred coworker«, LPC) mitarbeiterorientierte (vergleichsweise positive Einschätzung des LPC) und aufgabenorientierte (negative Einschätzung des LPC) Führungskräfte unterschieden. Fiedler zufolge sind bestimmte Kombinationen von Situationskontrolle und Führungsstil besonders günstig für den Führungserfolg, was für die meisten Kombinationen auch bestätigt werden konnte, allerdings eher in Labor- als in Feldstudien (vgl. Strube/Garcia 1981; Peters et al. 1985; Schriesheim et al. 1994). Vereinfacht sind mitarbeiterorientierte Führungskräfte in mittelgünstigen Situationen (z. B. gute Beziehung zu den Geführten, eher unstrukturierte Aufgaben und geringe Positionsmacht) erfolgreich, während aufgabenorientierte Führungskräfte eher in sehr ungünstigen (z. B. schlechte Beziehung zu den Geführten, geringe Aufgabenstrukturierung und schwache Positionsmacht) oder sehr günstigen Situationen (z. B. gute Beziehung zu den Geführten, strukturierte Aufgaben und hohe Positionsmacht) erfolgreich sind. Fiedlers Modell ist vielfach kritisiert worden (vgl. im Überblick Brodbeck et al. 2002). Ein bleibender Verdienst Fiedlers ist, die Führungsforschung in eine neue Richtung geführt und die Entwicklung zahlreicher weiterer Kontingenztheorien stimuliert zu haben.

Die Weg-Ziel- (engl. path-goal) Theorie von Evans (1970; 1979) und House (1971; House/Mitchell 1974) spezifiziert, aufbauend auf den Instrumentalitäts- oder Erwartungstheorien der Motivation (z. B. Vroom 1964), unter welchen Bedingungen welches Führungsverhalten motivierend auf die Mitarbeiter wirkt. Je nach Struktur der Aufgabe und Merkmalen der Geführten sollten sich bestimmte Arten der Führung (klassifiziert in unterstützend, direktiv, partizipativ und leistungsorientiert) unterschiedlich auf Motivation und Zufriedenheit der Geführten auswirken. Allerdings kommen Wofford und Liska (1993) in ihrer Metaanalyse zu dem Schluss, dass die Befunde wesentliche Annahmen der Weg-Ziel-Theorie nicht stützen. Die Bedeutung, die der Weg-Ziel-Theorie trotzdem zukommt, gründet sich vor allem auf neue, in dieser Theorie enthaltene Überlegungen, die zur Entwicklung einiger sehr erfolgreicher Führungstheorien führten, z. B. zu der Theorie der Führungssubstitution (Kerr/ Jermier 1978; Kerr/Mathews 1995), der Theorie der impliziten Führungstheorien (Lord/Mahler 1991) oder den Theorien über charismatische (House 1977) bzw. transformationale versus transaktionale Führung (Bass 1998).

Interaktionale Führungstheorien

Diese Gruppe von Führungsansätzen befasst sich mit den wechselseitigen sozialen Einflussprozessen zwischen Führenden und Geführten.

Die Grundlagen der Macht nach French und Raven: Im Führungsprozess kommt »Macht« als der Möglichkeit einer Person, auf eine oder mehrere andere Personen Einfluss auszuüben, besondere Bedeutung zu. Die bekannteste Taxonomie der Grundlagen der Macht stammt von French und Raven[134] (1959), die fünf Arten von Machtgrundlagen unterscheiden: (1.) Belohnungsmacht, (2.) Bestrafungsmacht, (3.) Expertenmacht, (4.) legitimierte Macht und (5.) Identifikationsmacht. Menschen stützen sich nicht notwendigerweise nur auf eine dieser Grundlagen von Macht, sondern können eine oder mehrere Arten der Macht benutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Positive Zusammenhänge mit der Leistung und der Zufriedenheit der Mitarbeiter gibt es bei Führungskräften hinsichtlich Experten- und Identifikationsmacht; die Ergebnisse hinsichtlich der anderen Machtgrundlagen waren bisher uneinheitlich (vgl. Yukl 2012). Auch bei politischen Führern, die zumindest in demokratischen Systemen über legitimierte Macht verfügen, spielt die Identifikationsmacht eine besondere Rolle. Große politische Führer sind immer Identifikationsfiguren, die über die Fähigkeit verfügen, ihre Anhänger zu begeistern und für ihre Ideen zu gewinnen, so dass diese ihnen »freiwillig« folgen. Insgesamt kommt in unserer Gesellschaft der Identifikationsmacht mehr und mehr Bedeutung zu. Als Folge dieser Entwicklung gewinnen Führungsansätze an Beachtung, die die emotionale Beziehung zwischen Führendem und Geführtem thematisieren (z. B. transformationale Führung, charismatische Führung).

Die Leader-Member-Exchange (LMX)-Theorie: Als eine der ersten Führungstheorien überhaupt konzentrierte sich die von Graen und Kollegen (Dansereau et al. 1975; Graen/Uhl-Bien 1995) entwickelte LMX-Theorie auf die wechselseitige Beeinflussung von Führenden und Geführten. Nach der LMX-Theorie entwickelt eine Führungskraft zu jedem Mitarbeiter eine individuelle dyadische Beziehung, weshalb der Ansatz auch als »Führungstheorie der vertikalen Dyadenverbindungen« oder »vertical dyad linkage«-Ansatz bezeichnet wird. Die Qualität dieser dyadischen Beziehung ist der LMX-Theorie zufolge in verschiedenen Führer-Geführten-Dyaden unterschiedlich und wirkt sich nicht nur auf das Verhalten der Führungskraft gegenüber dem Mitarbeiter aus, sondern ist auch entscheidend für die Ergebnisse auf der Ebene von Individuum, Gruppe und Organisation. Empirische Studien bestätigen, dass gute LMX-Beziehungen positiv mit Einstellung und Verhalten der Mitarbeiter zusammenhängen (z. B. Commitment und Leistung, Gerstner/Day, 1997). Deshalb wird empfohlen, mit allen Mitarbeitern eine gute Beziehungsqualität aufzubauen (Graen/ Uhl-Bien, 1995). Ferner empfehlen Schyns und Day (2010), dass Organisationen und Führungskräfte nach LMX-Excellence streben sollten, das heißt, nach einer guten Beziehungsqualität bei gleichzeitig hoher Übereinstimmung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft in der Bewertung ihrer Beziehung sowie hohem Konsens der Mitarbeiter bezogen auf die Einschätzungen ihrer Beziehung zur Führungskraft.

Transaktionale und transformationale Führung: In einer Arbeit über politische Führer verwendete Burns (1978) erstmals den Begriff »transformationale Führung« in Abgrenzung zur sogenannten »transaktionalen Führung«. Transaktionale Führung ist aus Aushandlungsprozessen aufgebaut, d. h. der Führende bringt die Geführten dazu, ein vom ihm gewünschtes Verhalten im Austausch für Belohnungen/Vorteile, die für die Geführten wertvoll sind, zu zeigen. Damit werden Ziele, Werte und Bedürfnisse des Geführten implizit als gegeben angesehen. Im Unterschied dazu konzentriert sich transformationale Führung auf jene Aktivitäten des Führenden, die in einer Veränderung der Ziele, Bedürfnisse und Ansprüche der Geführten resultieren. Die spezifische Wirkung transformationaler Führung geht damit über das Erbringen von Leistungen im Austausch für Belohnungen hinaus, indem die Geführten durch das Führungsverhalten beispielsweise dazu motiviert werden, sich für höhere Ziele wie eine gemeinsame Vision einzusetzen und nicht nur im Eigeninteresse zu handeln (vgl. Bass/Steyrer 1995). Bass und Mitarbeiter (Bass 1998; Bass/Steyrer 1995) haben das Konzept der transformationalen Führung weiterentwickelt und einen standardisierten Fragebogen entwickelt, den »Multifactor Leadership Questionnaire« (MLQ). Dieser differenziert zwischen vier Komponenten transformationaler Führung: (1.) Charisma, (2.) Motivation durch begeisternde Visionen, (3.) Anregung und Förderung von kreativem und unabhängigem Denken und (4.) individuelle Unterstützung und Förderung (vgl. Felfe 2006). Metaanalysen zeigen, dass transaktionale und transformationale Führung mit Erfolgsfaktoren wie Leistung zusammenhängen (Judge/Piccolo 2004; Lowe et al. 1996). Ferner gibt es Hinweise, dass transformationale Führung über transaktionale Führung hinaus Leistung erklärt (Bass/Avolio 1993), weshalb empfohlen wird, sowohl transaktional als auch transformational zu führen.

Charismatische Führung: Die charismatischen Führungsansätze gehen zurück auf die Konzeptualisierung [135]von Charisma durch Max Weber und umfassen u. a. die Theorie der charismatischen Führung von House (1977) und die charismatische Attributionstheorie von Conger und Kanungo (1987). Charismatische Führung wird enger definiert als transformationale Führung und spezifiziert die Eigenschaften eines idealisierten Führers, wie sie von den Geführten wahrgenommen und dem Führenden zugeschrieben werden (u. a. hohes Machtmotiv, hohe Selbstsicherheit, feste Überzeugung von den eigenen Ideen, ausgeprägte verbale Fähigkeiten). Typische Verhaltensweisen eines charismatischen Führers sind beispielsweise die Artikulation einer ansprechenden Vision, das Einschlagen ungewöhnlicher Wege, um die Vision zu erreichen, die Selbstdarstellung als kompetent und erfolgreich sowie der Ausdruck hoher Erwartungen an und hoher Zuversicht in die Geführten (vgl. Bass 1998).

House et al. (1991) untersuchten die Amtszeiten amerikanischer Präsidenten mit verschiedenen Maßen nationaler Effektivität und fanden, dass es eine positive Beziehung zwischen persönlichem Charisma und Effektivität gibt, speziell in Krisensituationen. Insbesondere in der Politik gewinnen Themen v. a. durch die Personen, die sie vertreten, an Kontur. Charismatische politische Führer können daher Entwicklungen beschleunigen (z. B. Martin Luther King, Nelson Mandela). Zum Problem wird das Charisma eines politischen Führers, wenn dieser seinen Einfluss missbraucht und beispielsweise Gefolgschaft für eine menschenverachtende Ideologie erzielt (z. B. Adolf Hitler).

Im Vergleich zur zuvor beschriebenen transformationalen Führung fällt bei den Ansätzen zu charismatischer Führung auf, dass diese die Rolle der Geführten und die Effekte, die charismatische Führung auf Mitarbeiter hat (u. a. die Veränderung ihrer Wertesysteme), stärker betonen.

Mitarbeiterzentrierte Führungstheorien

In den letzten Jahren haben sich einige weitere Führungsansätze und -theorien in der Führungsforschung etabliert, die zentral auf die geführten Mitarbeiter fokussieren und die soziale Konstruktion von Führung in einer Gruppe betonen (vgl. Avolio et al. 2009). Zwei dieser Ansätze werden im Folgenden exemplarisch zusammengefasst.

Implizite Führungstheorien: Aufbauend auf dem Konzept der impliziten Persönlichkeitstheorien von Schneider (1973) entwickelten Eden und Leviatan (1975) das Konzept der impliziten Führungstheorien. Dabei handelt es sich um Alltagstheorien über Eigenschaften und Verhaltensweisen von Führungskräften, die situationsspezifisch abgerufen werden, beispielsweise dann, wenn man eine Führungskraft trifft. Lord und Kollegen (Lord et al. 1984) entwickelten eine Kategorisierung von impliziten Führungstheorien, die auf der obersten Ebene Führungskräfte von Nicht-Führungskräften unterscheidet, auf der nächsten Ebene Führungskräfte in verschiedenen Bereichen (z. B. Politik, Wirtschaft), bis hin zu immer spezifischeren Theorien über Führungskräfte. Studien belegen, dass implizite Führungstheorien die Wahrnehmung tatsächlicher Führungskräfte beeinflussen (z. B. Schyns et al. 2007). Insbesondere wenn Führungskräfte von verschiedenen Personen Feedback erhalten, ist dies bedeutsam, weil dieses Feedback durch die jeweiligen impliziten Führungstheorien von Mitarbeitern oder Kollegen verzerrt sein kann.

Soziale Identitätstheorie der Führung: In der sozialen Identitätstheorie der Führung (Hogg 2001) kommt der geteilten Gruppenmitgliedschaft von Führungskraft und Geführten besondere Bedeutung zu (Tajfel/Turner, 1986). Die geteilte Gruppenmitgliedschaft und damit die soziale Identität bilden nach den Annahmen der Theorie die Grundlage für Reaktionen der Geführten auf Einflussbestrebungen durch die Führungskraft: je stärker sich die Geführten mit dem jeweiligen Kollektiv (z. B. Gruppe, Organisation, Nation) identifizieren, desto offener sind sie gegenüber dem Einfluss von solchen Führungskräften, die als prototypisch für die Gruppe wahrgenommen werden, desto mehr bildet also ein spezifischer Gruppenprototyp und nicht etwa ein abstrakter Führungskraftprototyp (vgl. Lord/Maher 1991) den Bezugsrahmen für die Wirkung von Führung (Hogg 2001). Als prototypisch für eine Gruppe wiederum werden solche Führungskräfte wahrgenommen, die das repräsentieren, was die Gruppenmitglieder gemeinsam haben und was die Gruppe von anderen Gruppen unterscheidet (z. B. bestimmte Werte, Verhaltensweisen, Ziele). Prototypische Führungskräfte verkörpern gewissermaßen die soziale Identität der Gruppe. Zahlreiche Labor- und Felduntersuchungen bestätigen die Grundannahmen der sozialen Identitätstheorie der Führung (vgl. Haslam et al. 2011).

Insgesamt wird deutlich, dass neuere Führungsansätze nicht mehr versuchen, Führungserfolg auf[136] ein einzelnes Merkmal (bspw. ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal oder einen bestimmten Führungsstil) zurückzuführen, sondern sich vermehrt den wechselseitigen Anpassungsprozessen von Person-, Verhaltens- und Situationsvariablen zuwenden und die soziale Konstruktion von Führung in einer Gruppe betonen. Dennoch gibt es bisher keine etablierte, allgemeine Theorie der Führung und Motivation, die die weitgehend getrennten Ansätze in der Führungsforschung integriert. Das von Frey und Mitarbeitern (z. B. Frey et al. 2001) entwickelte Prinzipienmodell der Führung versucht auf der Grundlage sozialpsychologischer Theorien Hinweise zu geben, auf welche Aspekte bei der Entwicklung eines solchen Modells geachtet werden sollte.

Literatur

Avolio, Bruce J. et al., 2009: Leadership: current theories, research, and future directions; in: Annual Review of Psychology 60, 421–49. – Bass, Bernard M., 1998: Transformational leadership, Mahwah NJ. – Ders.; Avolio, Bruce J., 1993: Transformational leadership: A response to critics; in: Chemers, Martin M.; Ayman, Roya (Eds.): Leadership theory and research, San Diego, 49–80. – Ders.; Steyrer, Johannes, 1995: Transaktionale und transformationale Führung; in: Kieser, Alfred et al. (Hg.), 2053–2062. – Bryman, Alan, 1992: Charisma and leadership in organizations, London. – Brodbeck, Felix C. et al., 2002: Führungstheorien; in: Frey, Dieter; Irle, Martin (Hg.): Theorien der Sozialpsychologie: Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien, Bern, 329–365. – Burns, James M., 1978: Leadership, New York. – Chhokar, Jagdeep et al., 2007: Culture and leadership across the world: The GLOBE Book of in-depth studies of 25 societies, Mahwah, NJ. – Conger, Jay A.; Kanungo, Rabindra N., 1987: Toward a behavioral theory of charismatic leadership in organizational settings; in: Academy of Management Review 12, 637–647. – Dansereau, Fred Jr. et al., 1975: A vertical dyad linkage approach to leadership within formal organizations; in: Organizational Behavior and Human Performance 13, 46–78. – Eden, Dov; Leviatan, Uri, 1975: Implicit leadership theory as a determinant of the factor structure underlying supervisory behavior scales; in: Journal of Applied Psychology 60, 736–741. – Evans, Martin G., 1970: The effects of supervisory behavior on the path-goal relationship; in: Organizational Behavior and Human Performance 5, 277–298. – Ders., 1979: Leadership; in: Kerr, Steven (Ed.): Organizational Behavior, Columbus, OH, 207–239. – Felfe, Jörg, 2006: Validierung einer deutschen Version des »Multifactor Leadership Questionnaire« (MLQ Form 5 x Short) von Bass und Avolio (1995); in: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 50, 61–78. – Fiedler, Fred E., 1967: A theory of leadership effectiveness, New York. – Ders.; Mai-Dalton, Renate, 1995: Führungstheorien – Kontingenztheorie, in: Kieser, Alfred et al. (Hg.), 940–953. – French, John R. P.; Raven, Bertram, 1959: The bases of social power; in: Cartwright, Dorwin (Ed.): Studies in social power, Ann Arbor, MI, 150–167. – Frey, Dieter et al., 2001: Führung im Center of Excellence; in: Friederichs, Peter; Althauser, Ulrich (Hg.): Personalentwicklung in der Globalisierung, Neuwied, 114–151. – Gerstner, Charlotte R.; Day, David V., 1997: Meta-analytic review of leadermember exchange theory; in: Journal of Applied Psychology 82, 827–844. – Graen, George B.; Uhl-Bien, Mary, 1995: Führungstheorien, von Dyaden zu Teams; in: Kieser, Alfred et al. (Hg.), 1045–1058. – Haslam, S. Alexander et al., 2011: The New Psychology of Leadership, New York. – Hogg, Michael A., 2001: A social identity theory of leadership; in: Personality and Social Psychology Review 5, 184–200. – House, Robert J., 1971: A path goal theory of leader effectiveness; in: Administrative Science Quarterly 16, 321–328. – Ders., 1977: A theory of charismatic leadership; in: Hunt, James G.; Larson, Lars L. (Eds): Leadership: The cutting edge, Carbondale, IL, 189–207. – Ders.; Mitchell, Terrence R., 1974: Path-goal theory of leadership; in: Contemporary Business 3, 81–98. – Ders. et al., 1991: Personality and charisma in the U. S. Presidency; in: Administrative Science Quarterly 36, 364–396. – Kieser, Alfred et al. (Hg.), 1995: Enzyklopädie der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 10: Handwörterbuch der Führung, Stuttgart. – Kerr, Steven; Jermier, John M., 1978: Substitutes for leadership: Their meaning and measurement; in: Organizational Behavior and Human Performance 22, 375–403. – Kerr, Steven; Mathews, Charles S., 1995: Führungstheorien – Theorie der Führungssubstitution; in: Kieser, Alfred et al. (Hg.), 1022–1034. – Kerschreiter, Rudolf et al., 2011: Führung; in: Frey, Dieter; Bierhoff, Hans-Werner (Hg.): Sozialpsychologie – Interaktion und Gruppe, Bd. 22, Göttingen, 181–200. – Lewin, Kurt et al., 1939: Patterns of aggressive behavior in experimentally created social climates; in: Journal of Social Psychology 10, 271–299. – Lord, Robert G. et al., 1984: A test of leadership categorization theory; in: Organizational Behavior and Human Performance 34, 343–378. – Ders.; Maher, Karen J., 1991: Leadership and information processing, Boston. – Rosenstiel, Lutz von et al., 1988: Organisationspsychologie, 7. Aufl., Stuttgart. – Schneider, David J., 1973: Implicit personality theory: A review; in: Psychological Bulletin 79, 204–309. – Schriesheim, Chester A. et al., 1994: Least preferred co-worker score, situational control, and leadership effectiveness; in: Journal of Applied Psychology 79, 561–573. – Schyns, Birgit; Day, David, 2010: Critique and Review of Leader-Member Exchange Theory; in: European Journal of Work and Organizational Psychology 19, 1–29. – Schyns, Birgit et al., 2007: Is charisma hyper-romanticism?; in: Applied Psychology: An International Review 56, 505–527. – Strube, Michael J.; Garcia, Joseph E., 1981: A meta-analytic investigation of Fiedler’s contingency model of leadership effectiveness;[137] in: Psychological Bulletin 90, 307–321. – Vroom, Victor H., 1964: Work and motivation, New York. – Wofford, J. C.; Liska, Laurie Z., 1993: Path-goal theories of leadership: A meta-analysis; in: Journal of Management 19, 857–876. – Yukl, Gary, 2012: Leadership in organizations, 8th ed., Upper Saddle River, NJ.

Rudolf Kerschreiter/Dieter Frey

Funktion

Funktion (engl. function, lat. functio), ›Tätigkeit‹, ›Verrichtung‹, die Beschreibung einer Leistung, die ein Teil in einem Ganzen, aber auch das Ganze für ein Teil erfüllt, bzw. die Beschreibung einer Abhängigkeit, in der die Variable einer Gleichung oder Ungleichung von einer anderen Variablen steht. Der erste Funktionsbegriff ist teleologisch und betont eine Hierarchie, der Zweite ist mathematisch und betont eine Interdependenz.

Man unterscheidet Funktionen und Dysfunktionen. Funktionen dienen der Hierarchie oder Interdependenz, Dysfunktionen sind Störungen der Hierarchie bzw. der Interdependenz. Dysfunktionen können ihrerseits eine funktionale Rolle spielen, wenn sie dazu führen, dass die Hierarchie oder die Interdependenz gegen die Störung verteidigt und so gestärkt werden. Diese Verteidigung wiederum kann dysfunktional werden, wenn sie die Beweglichkeit der Hierarchie oder der Interdependenz angesichts geänderter Umstände einschränkt.

Man unterscheidet überdies manifeste und latente Funktionen und Dysfunktionen. Manifeste Funktionen und Dysfunktionen sind allen oder einigen Beteiligten bekannt, möglicherweise auch von ihnen intendiert, latente Funktionen und Dysfunktionen wirken hinter ihrem Rücken, obwohl es auch dann den einen oder anderen Beobachter geben muss, dem sie auffallen, denn andernfalls könnten sie nicht beschrieben werden. In Frage steht, ob manifeste oder latente Funktionen und Dysfunktionen zuverlässiger sind. Stärkt oder schwächt ihre Reflexion die Funktion oder Dysfunktion? Beides ist möglich, da die Reflexion die Engführung fördert, aber auch zu Ausweichverhalten einlädt. In beiden Fällen stellt sich die Frage, wer warum die Engführung fördert und wer sich warum zu Ausweichverhalten eingeladen fühlt.

Die funktionale Analyse bewegt sich in diesen Unterscheidungen von Hierarchie und Interdependenz, Funktion und Dysfunktion, Manifestation und Latenz, Beobachter und Akteur. Die unvermeidbare Verwicklung der Beobachtung in ihren Gegenstand führt zu Konfusionen, die in der Anthropologie unter dem Gesichtspunkt des Verstehens und in der Soziologie unter dem Gesichtspunkt der Kritik zu kontrollieren versucht werden. Verstehen heißt, dass die funktionale Analyse den Gegenstand nicht ändern darf, sondern schützen muss, Kritik heißt, dass sie ihn ändern muss, weil man andernfalls mit ihm einverstanden wäre. Die Ideologie beider Positionen ist nur durch eine weitere Ideologie zu korrigieren, die auf der freien Beweglichkeit der Relationen von Teil und Ganzem bzw. der Variablen besteht und sich so des Modernismus verdächtig macht.

Kingsley Davis hat die Position vertreten, dass die funktionale Analyse in der Soziologie keine Methode unter anderen ist, die ihre Stärken und Schwächen hätte, sondern dass sie mit dieser Disziplin identisch und dementsprechend heterogen ist. Die funktionale Analyse ist die wissenschaftliche Analyse schlechthin, insofern sie Relationen zwischen Phänomenen herstellt und so das eine aus dem anderen erklärt. Ihre Funktion ist in der Soziologie seit Emile Durkheim die Abwehr reduktionistischer Positionen, die soziale Phänomene auf psychologische oder biologische Determinanten reduzieren, sowie die Abwehr von Positionen, die sich mit der Datensammlung und Beschreibung begnügen, ohne Relationen zu unterstellen und zu testen. Abgelehnt wird der Funktionalismus vor allem von Positionen, die ein Phänomen aus sich heraus verstehen und würdigen wollen, oder auch von Positionen, die sich aus Werturteilen heraus weigern, funktionale Beiträge unerwünschter Phänomene (Armut, Reichtum, Ungleichheit, Korruption, Kriminalität, Krieg) zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen.

Teleologie und Mathematik

Der teleologische Funktionsbegriff leitet sich von der ›causa finalis‹, der Zweckursache, im aristotelischen Kausalitätsschema ab. Er verweist damit auf ein Ganzes, bei den alten Griechen den Kosmos, die Polis und die Psyche, aus dem heraus der Platz (telos) und damit die Leistung eines Teils zu erklären sind. Eine teleologische Funktion kann entweder perfekt erfüllt oder korrupt verfehlt werden. Sie[138] kann überdies von einer ›Regierung‹ in den Funktionszusammenhang wieder eingeführt werden, um ihre Leistung zu bestätigen oder ihr Versagen zu korrigieren. Umgekehrt kann von der ›Kritik‹ angemahnt werden, dass das Ganze seine Aufgabe nicht erfüllt, bestimmte Teile in ihrer Leistungserbringung zu unterstützen.

Der mathematische Funktionsbegriff beschreibt seit René Descartes, Gottfried Leibniz und Leonhard Euler eine Abhängigkeit zwischen Variablen

y = f(x)

derart, dass mithilfe der Funktion »f« die Variable »y« bestimmt werden kann, wenn »x« bekannt ist. Man spricht auch von einem Input »x« in eine Funktion »f(x)«, um den Output »y« errechnen zu können. Solche Funktionen sind die Grundlage eines Kalküls.

Im Gegensatz zum teleologischen Funktionsbegriff der Antike, der ontologisch konzipiert ist, das heißt Feststellungen über das Wesen des Seienden trifft (nämlich: Teil eines Ganzen zu sein), ist der mathematische Funktionsbegriff modern, indem er nach der Variation von Variablen in einem Zusammenhang von Abhängigkeiten fragt, die vorab keinen Einschränkungen unterworfen sind, sondern es ermöglichen, nach faktischen Einschränkungen zu suchen und sie unter Umständen aufzulösen. Beide Funktionsbegriffe sind heuristisch fruchtbar, doch der antike Begriff ist auf eine endliche Menge natürlicher Einheiten beschränkt, während der moderne Begriff sich auf eine unendliche Menge auch technisch erweiterbarer Möglichkeiten bezieht.

Soziologie

Für die theoretische und empirische Arbeit der Soziologie faszinierend ist dabei weniger die Frage nach »x« und »y« als vielmehr die Frage nach »f«. Wer oder was stellt die funktionale Verknüpfung »f« zwischen »x« und »y« her? Worin besteht sie? Wie häufig muss sie vorkommen, um als Verknüpfung aufzufallen? Wie zuverlässig ist sie? Muss man von ihr wissen, damit sie wirkt, oder ist es hilfreich, wenn man nichts von ihr weiß? Und wer muss etwas wissen und wer sollte nichts wissen? Man kann hier Natur und Technik, Akteur und System, Intention und Fatalität, Kultur und Zufall als Formen des Ausbuchstabierens von f unterscheiden, ohne diese Fragen je abschließend beantworten zu können.

Vor allem Robert K. Merton und Niklas Luhmann dekonstruieren den Funktionsbegriff im Hinblick auf seine teleologischen Komponenten und plädieren für eine Reduktion auf den mathematischen Funktionsbegriff.

Merton kritisiert die bisherigen drei Postulate des Funktionalismus, die darauf hinauslaufen, eine funktionale Einheit der Gesellschaft, eine positive Funktionalität aller sozialen Phänomene und die funktionale Unersetzbarkeit jedes einzelnen Phänomens anzunehmen, und plädiert stattdessen für einen strengen Äquivalenzfunktionalismus, der für jedes soziale Phänomen von einem Variationsspielraum zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Leistungen ausgeht. Merton schlägt vor, zwischen manifesten Funktionen, die Akteuren bekannt sind und von ihnen intendiert werden, und latenten Funktionen, die nur der Beobachter durchschaut, zu unterscheiden, lässt dabei allerdings die Fragen offen, wie Akteure etwas intendieren können, ohne die Funktion zu gefährden, und woraus Beobachter schließen können, dass den Akteuren etwas nicht bewusst ist.

Und Luhmann kritisiert die kausalwissenschaftliche Einschränkung eines Funktionalismus, der die Funktion, also Wirkung, eines Phänomens zu dessen Ursache erklärt. Diesem Vorgehen widerspricht, dass die kausale Erklärung in der Moderne einen zeitlichen Richtungssinn erhalten hat, den sie in der eher zirkulären Kosmologie der Antike nicht hatte. Die ›causa finalis‹ gerät damit in die Schwierigkeit, das Vorhergehende aus dem Nachfolgenden zu erklären. Überdies musste man in der Moderne mit dem Abschied von der Ontologie einsehen, dass die Anzahl möglicher Ursachen und Wirkungen unendlich ist. Damit wird die funktionalistische Behauptung invarianter Bedürfnisse, Leistungen und Reziprozitäten problematisch. Die Invarianz kann nicht mehr als die des Forschungsgegenstands behauptet werden, sondern fällt auf den Beobachter und dessen ideologische Voreinstellung zurück.

Die funktionale Analyse eröffnet einen Vergleichshorizont von Möglichkeiten, der funktionale Äquivalente und Substitute in den Blick rückt, jedoch nur eingelöst werden kann, wenn eine Struktur, ein Bezugssystem, benannt wird, das die Auswahl der Variationsmöglichkeiten steuert.

[139]Literatur

Cassirer, Ernst, 1980: Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt (1910). – Davis, Kingsley, 1959: The Myth of Functional Analysis as a Special Method in Sociology and Anthropology; in: American Sociological Review 24, 757–772. – Durkheim, Emile: 1895: Les règles de la méthode sociologique, Paris (dt. 1961). – Luhmann, Niklas, 1962: Funktion und Kausalität; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14, 617–644. – Malinowski, Bronislaw, 1944: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, Chapel Hill, NC (dt. 2005). – Merton, Robert K., 1968: Manifest and Latent Functions; in: ders.: Social Theory and Social Structure, revised and enlarged edition, New York, 73–138 (1948). – Radcliffe-Brown, Alfred R., 1935: On the Concept of Function in Social Sciences; in: American Anthropologist 37, 394–402.

Dirk Baecker

Wörterbuch der Soziologie

Подняться наверх