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Abhängigkeit

Abhängigkeit (engl. dependence, dependency) bezeichnet einen für eine längere Zeit anhaltenden zwischenmenschlichen Zustand in Dyaden oder Gruppen als Ergebnis wiederholt abgelaufener Prozesse sozialer Bindung meist mit asymmetrischen und komplementären Tendenzen in Interaktion und Kommunikation: etwa als Gehorsam gegenüber Herrschaft oder Macht in hierarchisch gegliederten sozialen Gebilden (hierarchische Abhängigkeit) oder paradigmatisch im Rahmen der primären Sozialisation als überwiegend gefühlsmäßige Beziehung zwischen Kleinkind und Dauerpflegeperson (emotionale Abhängigkeit). Dabei sind generell und über die Bedingungen der Primärsozialisation hinaus Verhaltensdispositionen wie die Suche nach körperlicher Nähe, Fürsorge, Beachtung und Anerkennung oder die Angst vor Trennung, sozialer Isolation und Einsamkeit charakteristisch (Abhängigkeitsbedürfnis). Es können sich daraus wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse ergeben, die unter dem Aspekt abweichenden Verhaltens zu untersuchen sind, insofern sie nicht für eine Übergangsphase soziokulturell gebilligt werden (z. B. bei Liebespaaren) oder sich auf soziale Phänomene des Tausches beziehen, die Gegenstand von kulturanthropologischen Tauschtheorien und verhaltenstheoretischen Austauschtheorien sind.

Daneben wird der Begriff Abhängigkeit verwendet, um eine Beziehung von Personen zu Sachen zu kennzeichnen: etwa in der Arbeitsorganisation, wo sich die Rolleninhaber einer Steuerung und Kontrolle durch technische und nicht-technische Technologien unterwerfen (funktionelle Abhängigkeit), oder im Bereich des nicht mehr kontrollierbaren, süchtigen Konsums von psychotropen Substanzen, z. B. Alkohol (Abhängigkeitssyndrom), der Gegenstand der Soziologie sozialer Probleme ist.

Siegfried Tasseit

Abhängigkeitstheorien

Die Abhängigkeitstheorien (Dependenztheorien, engl. dependency theories) entstanden Ende der 1960er Jahre in Lateinamerika als Reaktion auf ausbleibende Entwicklungserfolge. Bei den Abhängigkeitstheorien handelt es sich nicht um ein geschlossenes Theoriegebäude, sondern um eine beträchtliche Zahl konkurrierender bzw. aufeinander aufbauender Ansätze (zusammenfassend Menzel 2010: 97–124, Boeckh 1982). Allen gemein ist, dass sie sich von den bis dahin in der Entwicklungstheorie dominierenden ökonomischen Aushandelstheorien und den sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien absetzen und Entwicklungsprozesse im Rahmen internationaler ökonomischer und politischer Herrschaftsprozesse analysieren. Kurz gefasst sehen sie die fehlende Entwicklung der Dritten Welt als eine Folge der Entwicklung der Ersten Welt an.

Während die Aushandelstheorien auf der Basis der Theorie komparativer Kostenvorteile (Ricardo) einen Wohlstandsgewinn durch die Eingliederung in den Welthandel unterstellen, blieb dieser Effekt in Lateinamerika aus. Singer und Prebisch (Prebisch 1968, Kapitel 1) verweisen zur Erklärung auf die im Vergleich zu Industrieprodukten langfristig fallenden Preise für Rohstoffe und sprechen von der Verschlechterung der Tauschverhältnisse (Terms of Trade). Marxistische Autoren, die wesentlich die weitere Debatte in den Abhängigkeitstheorien bestimmten, sehen in dieser Ungleichheit eine Grundstruktur des kapitalistischen Weltsystems, wobei zur Begründung auf frühere Imperialismustheorien (Lenin) bzw. auf Argumente im Rahmen neomarxistischer Überlegungen zurückgegriffen wurde (u. a. marxistische Arbeitswertlehre). Frank (1968) brachte das Kernargument auf die Formel »Entwicklung der Unterentwicklung«. Auf diesen Überlegungen aufbauend entwickelte Wallerstein (1982) seinen Weltsystemansatz.

Die Abhängigkeitstheorien stehen auch im radikalen Gegensatz zu zentralen Annahmen »klassischer« Modernisierungstheorien (Rostow 1960, Lerner 1971), welche Entwicklung als vornehmlich endogenen Prozess bestimmen, der, sobald traditionelle Widerstände überwunden sind, gleichsam automatisch vonstattengehe. Aus Sicht der Abhängigkeitstheorien sind die sozioökonomischen Verhältnisse in der Dritten Welt durchaus dynamisch, allerdings[12] führe die strukturelle Ungleichheit zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern sowie zwischen den kleinen entwickelten Bereichen der unterentwickelten Länder und dem überwiegenden unterentwickelten Teil (strukturelle Heterogenität) zu einem peripheren Kapitalismus (Galtung 1972). Dieser sei nur durch strukturelle Änderungen des ökonomischen Weltsystems unter sozialistischem Vorzeichen oder durch eine zeitweise Abkopplung (Dissoziation) vom kapitalistischen Weltsystem zu überwinden (Amin 1975). Diese theorielastige Argumentation konnte jedoch weder steigende Rohstoffpreise in den 1970er Jahren noch die wirtschaftliche Entwicklung einiger weltmarktorientierter Schwellenländer (u. a. Brasilien, Mexiko, Süd-Korea, Taiwan) erklären.

Cardoso und Faletto (1976) argumentierten weniger ideologisch und betrachteten unterschiedliche Verläufe ausbleibender Entwicklung in Lateinamerika, wobei endogene und exogene Faktoren berücksichtigt wurden. Diese stärker empirisch begründeten Ansätze waren eher in der Lage, die veränderten Bedingungen in der Weltwirtschaft der 1970er Jahre zu erfassen. Trotz aller Unterschiede blieb der Analysefokus auf die als ungerecht empfundenen weltwirtschaftlichen Strukturen gerichtet. Spätere konsequent empirisch ausgerichtete Arbeiten von Menzel und Senghaas (1986) überwanden das dichotome Denken zwischen Erster und Dritter Welt. Sie entwickelten typische Muster von Entwicklung und Unterentwicklung, die durch das Zusammenspiel spezifischer historischer Bedingungen, Weltmarktkonstellationen und gezielter Wirtschaftspolitiken in Bezug auf selektive An- und Abkopplung an den Weltmarkt geprägt sind. Die Autoren distanzierten sich damit von zentralen Argumenten der Abhängigkeitstheorien und plädierten für empiriegeleitete Analysen von Entwicklungsprozessen, die seither anstelle »Großer Theorien« diskutiert werden.

Die wichtige Erkenntnis, dass Entwicklung wesentlich durch globale Prozesse mitbestimmt wird, ist heute eine bedeutsame Grundlage der Globalisierungsdebatte. Insbesondere globalisierungskritische soziale Bewegungen (z. B. Attac) beziehen sich auf die Abhängigkeitstheorien und greifen beispielsweise die empirisch wenig fundierten Argumente der »Entwicklung der Unterentwicklung« auf.

Literatur

Amin, Samir, 1975: Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus, Hamburg. – Boeckh, Andreas, 1982: Abhängigkeit, Unterentwicklung und Entwicklung. Zum Erklärungswert der Dependencia-Ansätze; in: Nohlen, Dieter; Nuscheler, Franz (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1 Unterentwicklung, Hamburg, 133–151. – Cardoso, Fernando H.; Faletto, Enzo, 1976: Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M. – Frank, André G, 1968: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M. – Galtung, Johan, 1972: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus; in: Senghaas, Dieter (Hg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt a. M., 29–104. – Lerner, Daniel, 1971: Die Modernisierung des Lebensstils: eine Theorie; in: Zapf, Wolfgang (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin, 362–381. – Menzel, Ulrich, 2010: Teil I Entwicklungstheorie; in: Stockmann, Reinhard et al. (Hg.): Entwicklungspolitik. Theorien – Probleme – Strategien, München, 11–159. – Menzel, Ulrich; Senghaas, Dieter, 1986: Europas Entwicklung und die Dritte Welt, Frankfurt a. M. – Prebisch, Raúl, 1968: Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer, Berlin. – Rostow, Walt W., 1960: Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen. – Wallerstein, Immanuel, 1982: Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen Weltsystems. Zur Grundlegeung vergleichender Analyse. In: Senghaas, Dieter (Hg.), Kapitalistische Weltökonomie, Frankfurt, 31–66.

Dieter Neubert

Aggregat, soziales

Ein Aggregat (engl. social aggregate) bezeichnet (ähnlich den Begriffen Masse und Menge) eine Ansammlung von Personen, die sich in räumlicher Nähe befinden, zwischen denen jedoch Kommunikation und Interaktion nicht oder nur sporadisch stattfindet. Im Gegensatz zur »Kategorie« bezeichnet Aggregat eine reale, physisch abgrenzbare soziale Einheit. Aggregate weisen nach Fichter einen geringen Strukturierungs- bzw. Organisationsgrad sowie zumeist einen territorialen und vorübergehenden Charakter auf (vgl. auch Esser 2000, Kap. 2). Die Personen, die ein Aggregat bilden, bleiben relativ anonym, haben (auch bei physischer Nähe) nur beschränkten sozialen Kontakt und zeigen in ihrem Verhalten nur geringe Modifikationen gegenüber ihrem Verhalten außerhalb des Aggregats (Fichter 1970, 57/58). Ordnet man Begriffe, die zur Charakterisierung einer sozialen Einheit dienen, nach dem[13] zunehmenden Grad von Organisiertheit, Interaktion und physischer Präsenz der Mitglieder, so entsteht die folgende Reihe: Kategorie (z. B. Gesamtheit aller Fußballfans unter 30 Jahren), Aggregat (Menge der Zuschauer eines Spiels), Kollektiv (Fußballverein), Gruppe (Fußballmannschaft).

Literatur

Esser, Hartmut, 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaften, Frankfurt a. M. u. a. – Fichter, Joseph H., 1970: Grundbegriffe der Soziologie, 3. Aufl., Wien/New York.

Gerhard Berger

Aggression

Aggression (engl. aggression) umfasst eine individuelle oder kollektive Haltung, Einstellung (Feindseligkeit) oder Emotion (Ärger), resp. Verhalten gegenüber Menschen, Tieren, Dingen oder Einrichtungen, mit dem Ziel, sie zu beherrschen, zu schädigen oder gar zu vernichten (Schädigungsabsicht). Damit ist diese Definition von Vorstellungen abzugrenzen, die unter Aggression jede gerichtete, offensive Aktivität oder »Energie« verstehen. Aggressives Verhalten meint die Umsetzung der genannten Ziele; der Begriff Aggressivität bezeichnet die überdauernde Disposition zu aggressivem Verhalten. Entlang mehrerer Dichotomien werden verschiedene Ausprägungen aggressiven Verhaltens differenziert: z. B. feindselig vs. instrumentell, reaktiv vs. aktiv, offen vs. verdeckt, affektiv vs. räuberisch; zudem werden verbale, physische und indirekte/relationale (auf Beziehungsebene) Formen unterschieden. Aggression kann auf individueller, interpersonaler und intergruppaler Ebene beobachtet werden und wird meistens gesellschaftlich als Normenverstoß betrachtet und negativ bewertet. Andererseits kann Aggression im Sinne von Durchsetzungsverhalten auch positiv konnotiert sein. Entscheidend ist dabei die kulturelle, zeitliche und situative Einbettung des Verhaltens. Aggressives Verhalten weist zudem einen Überschneidungsbereich zu Gewalt auf.

Ansätze der Aggressionsforschung

In der Aggressionsforschung lassen sich vielfältige Theorien finden, die auf unterschiedlichen Ebenen menschlichen Verhaltens und Erlebens Erklärungsmodelle anbieten. Letztlich ist Aggression nur multifaktoriell verstehbar, weshalb besonders integrative Ansätze, wie z. B. das integrative Prozess-Modell (Anderson) zu bevorzugen sind. Bei weitem nicht jede Aggression hat überwiegend psychologische oder psychopathologische Hintergründe. Nach evolutionsbiologischer Sicht wird Aggression als eine Form des Konkurrenzverhaltens um fitnessbegrenzende Ressourcen und Arterhaltung verstanden. Triebtheorien und die Ethologie sehen Aggression als biologisch determinierten/angeborenen Instinkt/ Trieb. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist Aggression als Ableitung/Freisetzung negativer Energien und Versuch der Bewältigung von Angst, Unsicherheit und Enttäuschung zu verstehen. Die Frustrations-Aggressions-Theorie sieht Aggression als Folge von Frustration (Nicht-Erreichung von Zielen, Bedürfnisbefriedigung), während die lerntheoretische Sicht meint, aggressives Verhalten werde aufgrund der Vorbildfunktion aggressiver Menschen, die man beobachtet, erlernt (Lernen am Modell) und durch Verstärkung (Konditionierung) aufrechterhalten. Nach der Kognitiven Neoassoziationstheorie führen gewaltvolle Hinweisreize (z. B. Waffen, Provokationen) zu Aggression, indem sie aggressionsthematische semantische Inhalte aktivieren, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Die Sozial-Kognitive Informationsverarbeitungstheorie geht davon aus, dass Verzerrungen in der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung zur Interpretation von Signalen als feindselig und zu aggressiven Reaktionen führen.

Soziologische Perspektiven

Nach soziologischer Auffassung wird aggressives Verhalten nicht als Qualität der Handlung, sondern als Konsequenz der Existenz von Regeln und Normen verstanden, die im Prozess der Zivilisation zu einer zunehmenden Ächtung und Formung unkontrollierter Aggression geführt haben. Die Entstehung, Ausübung oder Stabilisierung aggressiven Verhaltens wird durch Bedingungen im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld bestimmt, wobei Macht, Einfluss und Besitzverhältnisse eine bedeutsame Rolle spielen. Die Einstufung eines Verhaltens bzw. [14]einer Handlung als »aggressiv« hängt sowohl von der Existenz von Regeln ab, deren Verletzung »abweichendes Verhalten« darstellt, als auch von der Definition und Anwendung der Regeln durch andere, weshalb die klassischen Devianztheorien Anwendung finden: Nach der Anomietheorie entsteht Aggression durch die Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter sozialer Schichten zu den dazu notwendigen Mitteln. Die Subkulturtheorie erklärt Aggression durch Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Teilkulturen (Subkulturen), die einen Teil der gesellschaftlichen Normen, Werte und Symbole ablehnen. Der Labeling approach versteht Aggression als Resultat von Zuschreibungs- und Etikettierungsprozessen im Verlauf interpersonaler Interaktion. Neuere Ansätze (z. B. Individualisierungsansatz, Sozialisationsansatz) sehen aggressives Verhalten als eine Form der Verarbeitung von Verunsicherung und Desintegration in Folge von Individualisierungs- und Modernisierungsprozessen bzw. als Ausdruck mangelnder sozialer Kompetenz und nicht gelungener Anpassung an Lebensanforderungen. Zur Erklärung intergruppaler Aggression existieren ebenfalls mehrere Theorien: Die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (Sherif) geht davon aus, dass Aggression gegen Fremdgruppenmitglieder entsteht, wenn sich eine Gruppe in einem Zielkonflikt mit einer anderen befindet und ihre Interessen gefährdet sind. Die Theorie der Sozialen Identität (Tajfel/Turner) meint, dass Konfrontationen mit Fremdgruppen gesucht werden, um ein positives Bild der Eigengruppe und eine soziale Identität zu entwickeln. Nach der Theorie der relativen Deprivation entsteht Intergruppenaggression, wenn die Gruppenmitglieder glauben, dass ihre Gruppe benachteiligt ist. Neuere Untersuchungen (Meier et al.) können zeigen, dass Individuen in Gruppen aggressiver sind, da die Entstehung feindlicher Gesinnungen, negativer Gefühle und Enthemmung in Gruppen wahrscheinlicher ist.

Literatur

Anderson, Craig A.; Huesmann, L. Rowell, 2003: Human aggression: A social-cognitive view; in: Hogg, Michael A.; Cooper, Joel (Eds.): Handbook of Social Psychology, London. – Baron, Robert A.; Richardson, Deborah R., 1994: Human aggression, 2nd ed., New York. – Berkowitz, Leonard, 1993: Aggression. Its causes, consequences, and control, New York. – Bierhoff, Hans-Werner; Wagner, Ulrich, 1998: Aggression – Definition, Theorie und Themen; in: Dies. (Hg.): Aggression und Gewalt: Phänomene, Ursachen und Interventionen, Stuttgart, 2–25. – Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus, 1994: Gewalt macht Schule, München. – Heitmeyer, Wilhelm; Hagan, John, 2002: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Opladen. – Selg, Herbert et al., 1997: Psychologie der Aggressivität, 2. Aufl., Göttingen.

Vincenz Leuschner/Herbert Scheithauer

Aktionsforschung

Aktionsforschung (engl. action research), auch Handlungsforschung genannt, ist eine Art Begleitforschung zu eigenem Praxishandeln oder, in einer Selbstdarstellung, »eine Forschungsstrategie, durch die ein Forscher oder ein Forschungsteam in einem sozialen Beziehungsgefüge in Kooperation mit den betroffenen Personen aufgrund einer ersten Analyse Veränderungsprozesse in Gang setzt, beschreibt, kontrolliert und auf ihre Effektivität zur Lösung eines Problems beurteilt. Produkt des Forschungsprozesses ist eine konkrete Veränderung in einem sozialen Beziehungsgefüge, die eine möglichst optimale Lösung des Problems für die Betroffenen bedeutet« (Pieper in Haag et al., 100/101). Produkt ist also nicht – wie nach der klassischen Wissenschaftstheorie – eine Erhärtung oder Widerlegung einer Hypothese, sondern Gestaltung der Wirklichkeit und eine daraus abgeleitete Beurteilung der Wirksamkeit verschiedener Wandelstrategien.

Der von Kurt Lewin im Rahmen von sozialpsychologischen und -pädagogischen Konflikttherapien entwickelte Begriff wurde in die Soziologie übernommen und sollte insbesondere in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s ein Versuch zur Verbindung von Wissenschaft und Praxis sein. Der klassischen Wissenschaftstheorie wurde vorgeworfen, ihre Prinzipien von Objektivität und Neutralität führten zur Zementierung der gegenwärtigen Zustände. Demgegenüber müssten Wissenschaftler emanzipatorisch und politisch im Sinne von Beseitigung von Ungerechtigkeit und Naturwidrigkeit wirken; Wissenschaft und soziales Engagement müssten also verbunden werden.

Wichtige Versuchsgebiete waren u. a. frühkindliche Sozialisation, Gastarbeiterintegration, Stadtteilsanierung, Straffälligensozialisation, Organisationswandel und viele Bereiche der Entwicklungshilfe.

Entscheidendes Kriterium war nicht nur die Beteiligung der Wissenschaftler sowohl als Forscher als[15] auch als Praxisveränderer, sondern auch die Einbeziehung der von der Veränderung Betroffenen in alle Phasen von der Planung bis zur Ergebnisfeststellung und -beurteilung. Forschungs- und Praxiszeiten lösten einander in prinzipiell unbegrenzter Zahl ab, gingen aber oft, besonders bei Alternativversuchen, nebeneinanderher und ineinander über.

Damit war nur eine rudimentäre Evaluation möglich, aber keine hypothesenprüfende Forschung. Auch das Gebot der Wertfreiheit war nicht einzuhalten. Angesichts dieser Schwierigkeit ist sie immer mehr in Vergessenheit geraten.

Literatur

Haag, Fritz et al. (Hg.), 1972: Aktionsforschung, München. – Friedrichs, Jürgen, 1990: Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl., Wiesbaden, 370–375. – Burns, Danny, 2007: Systematic Action Research, Bristol.

Günter Endruweit

Akzeptanz und Sozialverträglichkeit

Akzeptanz (engl. acceptance) ist die Eigenschaft einer Innovation, bei ihrer Einführung positive Reaktionen der davon Betroffenen zu erreichen. Sozialverträglichkeit (engl. social compatibility) ist die Eigenschaft einer Innovation, sich funktional in eine bestehende Sozialstruktur einpflanzen zu lassen (evolutionärer Wandel) oder eine gegebene Sozialstruktur so verändern zu können, dass sie funktional in die neue Sozialstruktur passt (revolutionärer Wandel). Dabei ist »Innovation« nicht nur auf technische Änderungen (Lucke/Hasse, 17), aber auch nicht nur auf Meinungen, Entscheidungen u. Ä. bezogen zu sehen, sondern als jede Neuheit gegenüber dem Bestehenden. Der methodologische Grundunterschied liegt im subjektiven Ansatz bei der Akzeptanz und im objektiven Ansatz bei der Sozialverträglichkeit (Endruweit, 204–210). In der Forschung ist Akzeptanz, durch Befragung oder Beobachtung ermittelt, ein einfacher, aber hinreichender Indikator dafür, dass eine Innovation nicht nur legal, sondern auch legitim ist. Die empirischen Ergebnisse zeigen große Unterschiede nach Objektbereich und persönlichen Daten der Befragten; selbst die Gesamttendenz in einem so oft beforschten Bereich wie der Technikakzeptanz ist nicht unstreitig (Renn/Zwick, 21). Akzeptanz und Sozialverträglichkeit sind vor allem bei Großprojekten technischer (z. B. Bau von Windkraftanlagen) und politischer (z. B. Reform der Schulorganisation) Art von großer Bedeutung. Das Fehlen von Akzeptanz oder das (auch nur vermeintliche oder angebliche) Fehlen von Sozialverträglichkeit sind häufig Anlass für soziale Bewegungen des Protestes oder Widerstandes.

Literatur

Endruweit, Günter, 1997: Sozialverträglichkeits- und Akzeptanzforschung als methodologisches Problem; in: ders.: Beiträge zur Soziologie, Bd. I, Kiel, 202–218. – Lucke, Doris; Hasse, Michael (Hg.), 1998: Annahme verweigert. Beiträge zur soziologischen Akzeptanzforschung, Opladen. – Renn, Ortwin; Zwick, Michael M., 1997: Risiko- und Technikakzeptanz, Berlin.

Günter Endruweit

Alltagswissen

Unter Alltagswissen (engl. knowledge of everyday life) wird seit Alfred Schütz der Wissensbestand verstanden, der der Lebenswelt des Alltags zuzurechnen ist. Der Alltag ist das Subuniversum der Lebenswelt, in dem wir handelnd und verändernd in die Welt eingreifen können. Anders als im Fall aller anderen subjektiven Erfahrungswirklichkeiten, die sich in unserem Bewusstsein konstituieren – sei es Traum, theoretische Einstellung oder religiöse Erfahrung -, teilen wir den Alltag mit anderen. Wir treten mit ihnen in Interaktion und bringen die Alltagswelt gemeinsam hervor. Die Alltagswelt ist insofern unser grundlegender Erfahrungsraum, als er uns als fraglos gegeben erscheint, alle anderen Welten in ihn hineinreichen und wir aus dem Alltag heraus in diese anderen Welten eintreten. Alltagswissen und Alltagshandeln sind untrennbar miteinander verbunden, da sich der Wissenserwerb im Handeln vollzieht und Handeln ohne Wissen nicht möglich ist. Der Alltagsmensch tritt der Welt in aller Regel in einer bestimmten Einstellung gegenüber: Als Handelnder, der in die Welt eingreift, um so die sich aufdrängenden Probleme seiner Existenz einer Lösung zuzuführen. Die auf diese Weise gekennzeichnete Welt des Alltags wird mithin beherrscht von einem ›pragmatischen Motiv‹. Als kategorialer Begriff [16]meint Alltagswissen damit den Bestand an Lösungen für eben diese Probleme, die mit seiner Hilfe ›problemlos‹ bewältigt werden können und sich deshalb im Alltag nicht als Probleme darstellen. Alltagswissen steht damit symbolischem Wissen gegenüber, das die Erfahrung transzendenter, nicht unmittelbar erfahrbarer Wirklichkeiten ermöglicht. Andererseits dient symbolisches Wissen der Legitimation von Alltagswelten und gibt ihnen ihr je spezifisches symbolisch-pragmatisches Gepräge – den sozialen Feldern der Politik und der Ökonomie genauso wie der Familie oder der Nachbarschaft.

Da Wissen einerseits ein gesellschaftliches Produkt ist, andererseits aber auch subjektiv erworben und verwendet wird, kann zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat unterschieden werden. Der subjektive Wissensvorrat besteht zum großen Teil aus Routinewissen, das uns selbstverständlich erscheint und wiederum in Fertigkeiten, Gebrauchswissen und Rezeptwissen unterteilt werden kann, zum anderen aus explizitem Wissen, das in unterschiedlichem Maße vertraut, bestimmt und glaubwürdig ist. Der gesellschaftliche Wissensvorrat besteht aus Allgemeinwissen, das für jeden relevant ist und aus Sonderwissen, das nur von bestimmten Rollenträgern in bestimmten Situationen zum Einsatz gebracht wird.

In empirisch-historischer Hinsicht verweist der Alltagsbegriff auf eine Vielzahl nebeneinander existierender sozialer Welten, an denen wir teilhaben und auf eine Fülle alltäglicher Situationen mit ihren je spezifischen alltäglichen Wissensbeständen und Handlungsmustern. Die Widersprüche zwischen den jeweiligen Wissensbeständen sind solange irrelevant, wie die Handlungsfelder voneinander separiert bleiben. Brüchig und fragwürdig wird Alltagswissen, wo es sich nicht bewährt. Die Verbreitung von Expertenwissen, die Verwissenschaftlichung der Alltagssprache und die gesellschaftliche Dauerkommunikation verweisen darauf, dass mit Technologisierung, der Zunahme von Risikolagen und gesellschaftlicher Pluralisierung der Bestand an selbstverständlichem Alltagswissen geringer wird.

Literatur

Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas, 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. – Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas, 2003: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz (1975/1984). – Soeffner, Hans-Georg, 2004: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, 2. Aufl., Konstanz.

Dariuš Zifonun

Alterssoziologie

Begriff

Die Alterssoziologie (engl. sociology of aging), oftmals auch als Alternssoziologie, Soziologie des Alterns oder als Gero- bzw. Gerontosoziologie bezeichnet, ist eine spezielle Soziologie, die mit den Instrumenten der allgemeinen Soziologie (Begriffe, Theorien, Methoden) ihren spezifischen Untersuchungsgegenstand – das Alter und Altern von Individuen und sozialen Gruppen – untersucht. Damit befasst sich die Alterssoziologie sowohl mit der Strukturkategorie Alter (als Status von Individuen oder sozialen Gruppen) als auch mit der Prozesskategorie Altern (als strukturell beeinflusste individuelle oder kollektive Prozesse, Verläufe, Sequenzen, Übergänge oder Veränderungen in Lebenslauf und Gesellschaft). Ihr Forschungsgegenstand sind die Einflüsse des Alters bzw. Alterns auf Gesellschaft und Kultur wie auch umgekehrt die Einflüsse von Gesellschaft und Kultur auf das Alter bzw. auf den Alterungsprozess. Dabei geht es sowohl um die Analyse der Gesellschaft als Bedingung von Opportunitätsstrukturen, Handlungsdispositionen, Lebenslagen, Handlungspotentialen usw. als auch um die Veränderungen der Gesellschaft und ihrer sozialen Institutionen als Resultat z. B. veränderter Lebenslagen und Handlungsbedingungen.

Die Alterssoziologie ist gleichermaßen als spezielle Soziologie oder als Bindestrich-Soziologie in der allgemeinen Soziologie sowie als Teildisziplin in der inter- bzw. multidisziplinären Sozialen Gerontologie bzw. Sozialgerontologie verankert. Gerontologie ist keine Disziplin oder Fachwissenschaft im engeren Sinne, weil sie sich kaum auf gemeinsame Orientierungen, Paradigmen, theoretische Programme, erkenntnistheoretische und methodologische Grundlagen bezieht. Sie ist vielmehr als Versuch der gegenstandsbezogenen interdisziplinären Kooperation verschiedener Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften zu verstehen, die sich mit der Deskription, Analyse und Modifikation von physiologischen,[17] psychischen, sozialen und kulturellen Aspekten von Alter und Altern beschäftigen. Dabei können im Idealfall einzelwissenschaftliche Engführungen vermieden und transdisziplinäre Perspektiven entwickelt werden.

Alter und Altern

Das Alter im allgemeinen Sinne bezeichnet gemeinhin a) einen Zeitraum oder ein Zeitalter, z. B. die seit der Geburt bzw. Entstehung eines Lebewesens, einer Institution oder eines Gegenstandes verstrichene Zeitdauer (z. B. Lebenszeit), i. d. R. abgelesen an einem Kalender als Maßstab. Alter bezeichnet b) auch Lebensabschnitte oder Altersphasen als temporäre und transitive Abschnitte im individuellen Lebensverlauf (z. B. das hohe Alter), die c) von den Altersgruppen oder Altersschichten als klar abgrenzbare, sozial anerkannte und in unterschiedlichem Ausmaß intern organisierte soziale Gruppen zu unterscheiden sind.

Alter und Altern sind keine natürlichen, quasi präkulturellen Erscheinungen, sondern auf unterschiedlichen Ebenen sozial konstruierte Kategorien (Reifikationen), die dann als faktisch vorhandene äußerliche Phänomene (Objektivationen) aufgefasst werden. In der Alterssoziologie wird das Alter als Status und soziales Strukturierungsprinzip bzw. gesellschaftliches Ordnungsmuster verstanden, durch welches zugleich Zugang und Ausschluss von sozialen Teilnahmechancen geregelt und soziale Beziehungen hergestellt oder unterbunden werden (Prahl, Schroeter 1996: 277). Das Altern drückt den dynamischen Aspekt des individuellen und kollektiven Altwerdens aus und bezieht sich auf das Durchschreiten von sozial bewerteten und an soziale Rollen gebundenen Altersstufen oder Lebensphasen. Es bezieht sich auf eine Sequenz von Ereignissen im individuellen Lebensverlauf, wobei einige dieser Ereignisse direkt mit dem chronologischen Alter verbunden sein können (z. B. wurden Altersgrenzen bzw. -spielräume für Schuleintritt oder Pensionierung festgelegt), während andere Ereignisse (z. B. Eheschließung, -scheidung) weniger durch formalrechtliche Vorgaben, sondern eher aus der sozialen Struktur und damit korrespondierenden Normen oder durch sozio-kulturelle Zugehörigkeiten geregelt sind. Auch psychische und physiologische Veränderungsprozesse (z. B. korporale Vulnerabilitäten wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit), die mit dem kalendarischen Alter korreliert sind, werden als Indikatoren von Alter und Altern verwendet.

Alter und Altern sind also keine eindeutig definierten Begriffe, sondern je nach (disziplinärer) Perspektive unterschiedlich akzentuierte und semantisch verschieden gefasste, idealtypische soziale Konstruktionen. Das biologische Alter oder physiologische Alter bezeichnet z. B. den körperlichen Zustand des Menschen aufgrund biologischer Vorgänge von Wachstum, Reife, Abbau und Verfall. Diese »biologischen Grundbefindlichkeiten« (Schelsky [1959] 1965: 199) sind jedoch keine sozialen Realitäten sui generis, sondern stets einem sozialen Wandel unterworfen, wobei sich das je biologisch Vorgegebene und das gesellschaftlich Konstruierte im Erkenntnisprozess nicht vollständig voneinander trennen lassen. Als Maßstab wird zumeist das kalendarische oder chronologische Alter – die seit der Geburt vergangene (oder im Falle des prospektiven Alters die noch verbleibende) – Kalenderzeit verwendet, welche diese Prozesse zwar nicht misst – Uhren und Kalender sind an Erdrotation und Planetenkonstellationen ausgerichtet -, aber zumindest eine gewisse (wenn auch mit zunehmendem Alter abnehmende) statistische Korrelation aufweist. Mit der Verwendung des Kalenders als Messinstrument sind aber auch weitere (möglicherweise problematische) Annahmen wie gleichmäßig voranschreitende und irreversible Entwicklung verbunden. Eine Alternative ist das funktionale Alter – eine soziale Kategorisierung, die auf Einschränkungen bzw. Kompetenzen im Vergleich zu Durchschnittswerten abhebt. Mehrfach wurde auch versucht, die Altersphase im Lebenslauf im Sinne des funktionalen Alters in weitere Abschnitte zu untergliedern, also z. B. ein viertes oder fünftes Alter abzugrenzen. Während die Dreiteilung des Lebenslaufs aber durch relativ konkrete Altersgrenzen gesellschaftlich geregelt ist – die Schulpflicht auf der einen, und zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung das Rentenzugangsalter auf der anderen Seite -, wäre der Rekurs auf ein kalendarisches Alter hier ausgesprochen unpräzise und potentiell diskriminierend: Auch diese Prozesse sind mit der Kalenderzeit mehr oder weniger stark (und im Zeitverlauf abnehmend) statistisch korreliert, aber nicht selbst von Erdrotation oder Planetenkonstellationen abhängig. Letztlich handelt es sich auch hier um Varianten eines sozialen Alters, also gesellschaftlich zugeschriebene Größen.

[18]Offensichtlicher ist dies beim administrativen Alter (gelegentlich auch als bürokratisches oder formales Alter bezeichnet) als Kategorisierung von Altersgruppen für Statistik, Verwaltung usw., bzw. dem rechtlichen Alter als Kennzeichnung für kulturell festgelegte Pflichten und Rechte (z. B. Geschäftsfähigkeit, Volljährigkeit). Hier ist die Bezugnahme auf das kalendarische Alter konstitutiv, was möglicherweise wiederum zur Selbstverständlichkeit beigetragen haben könnte, mit der der Kalender als Messinstrument für Prozesse menschlichen Alterns heute herangezogen wird. Konzepte psychologischen Alters schließlich beziehen sich u. a. auf kognitive Leistungsfähigkeit und Intelligenz (Denkfähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Wortflüssigkeit, Wissen) sowie Alltagskompetenz, Weisheit und Erfahrung (Einsicht, Klugheit, Fakten-, Kontext-, Relativitäts-, Strategiewissen) und drücken die psychische bzw. kognitive Verfassung eines Menschen aus.

Durch die breite Verwendung des kalendarischen Alters ist es möglich, dass kalendarisch gleichaltrige Personen oder Gruppen auf den verschiedenen genannten Konstruktionen oder in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedliche Werte aufweisen können. Kalendarisch gleichaltrige Personen können z. B. durchaus biologisch mehr oder weniger »gealtert« sein – besonders drastisch macht dies das Hutchinson-Gilford-Syndrom (Progerie) deutlich. Sie können auch unterschiedlich »weise«, und in verschiedenen sozialen Kontexten sogar gleichzeitig unterschiedlich »alt« sein – man denke etwa an einen Fußballspieler, der in diesem Zusammenhang mit z. B. 30 Jahren schon zu den »Alten« zählt, während er in anderen sozialen Kontexten durchaus noch zu den »Jungen« zählen dürfte. Analoges gilt z. B. für Fußballmannschaften, Betriebe, Branchen oder Nationen. Eines der zentralen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete der Alterssoziologie ist die empirische Beschreibung und theoretische Erklärung solcher Regelmäßigkeiten (wie auch der jeweiligen Abweichungen).

Entwicklung

Die Geschichte der soziologischen Alternsforschung geht zurück bis ins 19. Jh., als die ersten Sterbestatistiken erstellt wurden, doch erst im 20. Jh. wurden vermehrt empirische Studien über das Alter durchgeführt. Ein Markstein war das von Cowdry vorgelegte Werk über »Problems of Aging« (1939). In dieser Zeit wurden zunächst vor allem in den USA, später dann auch in anderen Ländern, verschiedene Netzwerke der Alternsforschung ins Leben gerufen. So entstanden die Deutsche Gesellschaft für Altersforschung (1938), die American Society of Geriatrics (ASG, 1942), die Gerontological Society (heute Gerontological Society of America, GSA, 1945) sowie im deutschsprachigen Raum die Schweizerische (SGG, 1953), Österreichische (ÖGG, 1955) und Deutsche Gesellschaft für Gerontologie (heute Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, DGGG, 1967). Innerhalb der soziologischen Fachverbände ist die Alterssoziologie u. a. in der International Sociological Association (ISA), in der European Sociological Association (ESA) sowie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) institutionell etabliert.

Das Thema Alter wurde in der Soziologie bzw. der Thematisierung von Gesellschaft wohl schon immer, wenn auch eher am Rande thematisiert. Das Alter spielte etwa eine wichtige Rolle im Falle der Gerontokratie oder in Altersklassengesellschaften. Die Alterssoziologie als eigenständige Bindestrich-Soziologie entwickelte sich in Deutschland aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere seit Ende der 1950er Jahre wurde das Thema verstärkt prominent aufgegriffen (u. a. von R. König und H. Schelsky), sehr bald schon folgten eigene Abhandlungen (z. B. F.X. Kaufmann und R. Tartler 1961) und Übersichten zur Alterssoziologie insgesamt (H. P. Tews 1971). Auch größere empirische Untersuchungen folgten schnell – zunächst speziell zu einzelnen Bereichen wie z. B. der Aktivität im Alter (K. W. Boetticher 1975), ebenso breiter angelegte Darstellungen zu jeweils in der soziologischen Diskussion aktuellen Teilbereichen. Im Vergleich etwa zu den Themenbereichen Jugend und Familie wurde aber erst relativ spät mit dem Alters-Survey 1996 eine bundesweit repräsentativ angelegte Sozialberichterstattung zu Altersfragen begonnen (Kohli/ Künemund 2000).

Soziologische Theorien des Alters

Die Alterssoziologie ist zwar in weiten Teilen empirisch ausgerichtet, dennoch stand sie von Anbeginn immer auch unter einem theoretischen Fokus. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden zunächst in den USA unter den damals herrschenden Paradigmen [19]von Funktionalismus und Rollentheorie verschiedene Studien zur sozialen Anpassung (social adjustment) im Alter durchgeführt (Pollak 1948; Cavan et al. 1949). Die Frage nach der Bewältigung des Übergangs in den Ruhestand erfolgte vor dem Hintergrund rollentheoretischer Ansätze, wobei der Ruhestand als eine »eigentümlich funktionslose Situation« (Parsons [1942] 1968: 82) wahrgenommen wurde. Dabei wurde der Rollenverlust im Alter als eine fortlaufende Schwächung der individuellen Position in der Gesellschaft gesehen (Rosow 1974: 117 ff.).

Das ebenfalls bereits früh in diesem Kontext formulierte Aktivitätskonzept (z. B. Havighurst/Albrecht 1953) geht davon aus, dass Menschen im Alter zufrieden sind, wenn sie sich als gebraucht und nützlich empfinden und folglich danach streben, die sozial bedingten Ausgliederungsprozesse aus sozial relevanten Funktionszusammenhängen und die damit verbundenen Rollen- und Statusverluste durch erweiterte Handlungsräume in anderen Rollen zu kompensieren.

Die auf der strukturfunktionalen Theoriebildung fußende Disengagementtheorie (Cumming/ Henry 1961) sieht das Altern dagegen als einen, durch verminderte Interaktionen bedingten, unvermeidbaren sozialen Rückzug (Disengagement) älterer Menschen aus ihrem Sozialsystem, in dem eine gesellschaftlich notwendige, aber gleichsam entlastende und befreiende Entwicklung gesehen wird. Gesellschaftlich notwendig sei dieser Rückzug, damit die nachwachsenden Generationen die beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Positionen besetzen könnten. Individuell entlastend sei er, weil die Beschränkung auf die eigene Privatsphäre gesellschaftliche Enttäuschungen, Ablehnungen und Missachtungen vermeiden könne. Damit würde ein Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Interessen und den individuellen Rückzugsmotiven gewahrt.

Die ebenfalls strukturfunktional gerahmte Modernisierungstheorie (u. a. Cowgill/Holmes 1972) geht von einer relativen Verminderung des sozialen Status der Alten in der modernen im Vergleich zur traditionalen Gesellschaft aus. Als kritische Entgegnung auf die strukturfunktionalen Modelle wurde in den 1960er Jahren die Subkulturtheorie auch auf das Alter angewandt (Rose 1962). Demnach könnten ältere Menschen auf der Grundlage gemeinsamer Vorteile, Probleme oder lang andauernder Freundschaften eine positive Affinität zueinander entwickeln, zum anderen könnten sie aber auch aus der Interaktion mit anderen Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen sein. Die zunehmende Interaktion der Älteren untereinander bei gleichzeitiger Kontakteinschränkung zu anderen Generationen führe zu einem Altersgruppenbewusstsein und zu einer Altersgruppenidentität der Älteren. Das zeige sich z. B. an der Bereitschaft zum alterssegregierten Wohnen in den »Retirement Communities« sowie an der zunehmenden Partizipation an Altersorganisationen (z. B. »Golden Age Club«, »Senior Citizens Club«).

Auch der Etikettierungsansatz (Labeling approach) ist in die Alterssoziologie überführt worden (Hohmeier 1978). Dabei wird argumentiert, dass die auf das Alter und Altsein bezogenen Definitionsprozesse als Stigmatisierungen gefasst werden können, weil sie a) zumeist monokausal in biologischen Veränderungen gesucht werden, b) auf Grund der Unvereinbarkeit mit den zentralen gesellschaftlichen Werten fast immer negativ ausfallen und weil sie c) für die subjektive und objektive Situation älterer Menschen zumeist negative Konsequenzen haben, wenn den Betroffenen über das attestierte Stigma (z. B. altersbezogene körperliche Einschränkungen) hinaus weitere negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Alter wird damit zu einem »master status« (Hohmeier 1978: 13), der die gesamte Identität eines Menschen festlegt.

Das Hauptaugenmerk des Kontinuitätsansatzes (Atchley 1983) liegt dagegen auf der Entwicklung und Erhaltung der sozialen Anpassungsfähigkeit im späten Erwachsenenalter. Demnach versuchen Menschen mittleren und höheren Alters, innere psychische Muster und Dispositionen (z. B. Temperament, Gefühle, Präferenzen, Einstellungen, Wertvorstellungen, Überzeugungen) und äußere Strukturen (z. B. soziale Beziehungen und Handlungen, soziale Umwelten) zu bewahren.

Aus der Perspektive der Tauschtheorie (Dowd 1975) werden mit fortschreitendem Alter die Machtressourcen der Akteure vermindert und ältere Menschen dadurch zunehmend unfähig, in ausgeglichene Austauschbeziehungen zu anderen Generationen zu treten. Der soziale Rückzug aus gesellschaftlich anerkannten Positionen ist das Tauschgut der Älteren. Als Gegenleistung erhalten sie materielle und soziale Sicherheit im Alter (u. a. Rentenund Pensionszahlung, Gesundheitsversorgung).

[20]In dem Modell der Altersschichtung (Altersstratifikation) (Riley et al. 1972) wird das Alter in Analogie zur sozialen Klasse als eine Kategorie sozialer Ordnung gedacht. Doch während die Klassenschichtung im Wesentlichen nach ökonomischen und sozialen Kriterien vorgenommen wird, sei die Altersstratifikation bis zu einem gewissen Grade biologisch bedingt. Demnach sei jede Gesellschaft nach Schichten unterteilt, die sich aus der Aufeinanderfolge von Kohorten zusammensetzen (Kohortenfluss). Diese nach Zeit geordneten und grundsätzlich nicht umkehrbaren Altersschichten bilden eine geordnete Reihe entlang der Dimension von jünger nach älter und unterscheiden sich durch die den Menschen in den verschiedenen Entwicklungsstufen von der Gesellschaft zugeschriebenen sozialen Rollen, Rechte und Privilegien.

In den 80er Jahren entstand mit der Lebens(ver)laufsperspektive ein neues Paradigma der Alternsforschung (Elder 1995). Der schon von Eisenstadt und Parsons formulierte Gedanke, dass der Mensch in seinen verschiedenen Sozialisationsphasen unterschiedlich strukturierte und zunehmend differenzierte Rollenbeziehungen durchläuft, fand seinen Niederschlag zunächst im strukturfunktionalen Altersnormensystem (Neugarten/Datan 1973), später dann auch in dem Modell der Statusbiographie (Levy 1977). Dort wird der Lebenslauf als eine sozial geregelte Bewegung in der Sozialstruktur und als »eine mehr oder weniger stark institutionalisierte Sequenz von Status-Rollen-Konfigurationen umrissen und damit zum Vergesellschaftungsprogramm erklärt. Mit Fokus auf quantitative Methoden wird diese Perspektive in der Lebenslaufforschung fortgeführt, die ihr Augenmerk stärker auf die soziale Ungleichheit im Lebensverlauf richtet und die Altersstrukturen weniger als normierte Tatbestände, sondern vielmehr als »empirisch nachgeordnete Folgen« (Mayer 1996: 48) ansieht. Die lange Tradition der (qualitativen) Biographieforschung wurde in die Alterssoziologie integriert. In dem Modell der Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1985) werden beide Aspekte verbunden und die historisch beobachtbaren Veränderungen in den Lebensläufen in einen Zusammenhang mit dem Übergang zur Arbeitsgesellschaft gestellt. Als Pendant zur Individualisierung sei die Orientierung an Biographie und Lebenslauf an die Stelle stabiler Zugehörigkeiten getreten, wobei der Lebenslauf zu einem wichtigen sozialen Ordnungsprinzip wurde – eine soziale Institution, die gleichermaßen für die Organisation der Gesellschaft wie auch für die biographischen Perspektiven der Individuen zentral wurde.

Parallel zu diesen Entwicklungen bildete der politisch-ökonomische Ansatz des Alters (u. a. Minkler/Estes 1991) einen theoretischen Rahmen, um Altern in einen unmittelbaren gesellschaftlichen Bezug zu ökonomischen Strukturen und gesellschaftlichen Zwängen zu setzen. Er zielt vor allem auf eine Analyse der strukturellen Bestimmungsfaktoren von sozialer Ungleichheit im Alter. Das Altern wird im Wesentlichen in Beziehung zu Arbeit und Produktion gesetzt und unter den Aspekten der Dequalifizierung und des erzwungenen Ausschlusses aus dem Arbeitsprozess debattiert. Ein wichtiges Thema ist in diesem Kontext der Wohlfahrtsstaat (z. B. Myles 1984), der zwar auf die Linderung sozialer Ungleichheiten zielt, aber mit den Verteilungsprinzipien der sozialen Unterstützung, Versicherung und Steuerpolitik bestehende Klassen-, Alters- und Geschlechterstratifikationen verstärken und die Älteren in eine »strukturierte Abhängigkeit« drängen kann (Townsend 1981).

Unter dem Label der Kritischen Gerontologie (z. B. Cole et al. 1993) hat sich ein Forschungsansatz entwickelt, der – z. T. in starker Affinität zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und zum Diskurs- und Disziplinierungsansatz von Foucault stehend (Green 1993; Katz 1996) – sich gegen die Vorstellung wendet, das Alter objektiv messen und durch den Erwerb eines solchen Wissens auch kontrollieren zu können. Die Kritische Gerontologie fordert ein im Zentrum der Alternstheorien und Lebenslaufentwicklung stehendes »emanzipatorisches Ideal« ein, das Altern als ein Fortschreiten in Richtung Freiheit (Autonomie, Weisheit, Transzendenz) jenseits von Beherrschung begreift (Moody 1988).

Die Identitätstheorien von Mead und Goffman bilden die theoretische Grundlage der Mask-of-Ageing-Hypothese (Featherstone/Hepworth 1991). Demnach kommt es mit zunehmendem Alter zu einer Diskrepanz zwischen der äußerlichen Erscheinung und dem inneren Selbst. Die sichtbare körperliche Hülle erscheint als nichts anderes als eine Maske, die das wirkliche Selbst nur verdeckt. Das individuelle Selbst wird quasi zum Gefangenen des alternden Körpers, der die wahre Identität nicht länger physisch zum Ausdruck bringen kann. Analog dazu geht das Ageless-Self-Konzept (Kaufman 1986) davon aus, dass mit zunehmendem Alter eine[21] wachsende Diskrepanz zwischen dem subjektiven Altersempfinden und dem chronologischen Alter einhergeht. Diese Konzepte wurden im Modell der Altersmaskerade reformuliert – als eine Strategie, um sich vor einer altersfeindlichen Umwelt zu schützen (Biggs 1993).

Das ursprünglich als eine Neuformulierung der Disengagementtheorie konzipierte und später stärker entwicklungspsychologisch ausgerichtete Modell der Gerotranszendenz (Tornstam 1989) geht davon aus, dass der Rückzug und die Passivität älterer Menschen auch positiv zu interpretieren sind. Es stellt erneut das gesellschaftliche Aktivitätsideal grundlegend in Frage und stellt heraus, dass mit zunehmendem Alter veränderte bzw. ganz neue Sichtweisen des Lebens (u. a. verminderte Ich-Zentriertheit, kosmische Transzendenz, stärkere Generativität und Reminiszenz) an Bedeutung gewinnen (können).

Auch die sozialkonstruktivistische Perspektive wurde mehrfach auf das Alter bezogen. Dort erscheint das Alter als a) in einem umfassenden symbolischen Verweisungszusammenhang konstruiert, b) in der sozialen Organisation gesellschaftlichen Handelns als objektive Struktur realisiert, c) in der Somatisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse materialisiert und d) zugleich in seiner sinnlich empfundenen Qualität als konstitutiver Bestandteil subjektiver Identitäten. Auf dieser Folie ist die Verwirklichung des Alters (Doing Age) (Schroeter 2012) idealtypisch auf vier Ebenen in den Blick zu nehmen: auf der symbolischen Ebene (allgemeine Alterssemantiken, -definitionen, -diskurse, -grenzen, -ordnungen), der interaktiven Ebene (korporale und soziale Performanzen, Präsentationen und Inszenierungen), der materiell/somatischen Ebene (Körperpolitiken und -strategien) und auf der leiblich-affektiven Ebene (subjektiv empfundenes und körperlich/leiblich gespürtes Altern).

Aktuelle Schwerpunkte

Ein großer Teil der gestiegenen Aufmerksamkeit für die Alterssoziologie ist vermutlich der zunehmend breiteren Thematisierung des demographischen Wandels und der damit verbundenen Problemlagen in der wissenschaftlichen Diskussion wie auch der breiteren Öffentlichkeit geschuldet. Entsprechend lassen sich Schwerpunkte in den Bereichen der Alterssicherung, der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung sowie generell der Familien- und Generationenbeziehungen ausmachen, wobei die Spannweite jeweils von der individuellen Ebene über die Analyse von Organisationen und Institutionen bis zum Vergleich von höher aggregierten Systemen reicht. Besondere Aufmerksamkeit erlangen z. B. die aufgrund der vorgenommenen Änderungen im System der Rentenversicherung zu erwartende Altersarmut bzw. zunehmende soziale Differenzierung, der politische Einfluss der Älteren, das Alter(n) nach Migration, die Belastungen der Pflegenden sowie die Möglichkeiten der Unterstützung der Älteren, der Pflegenden und auch der Versorgungsstrukturen insgesamt durch neue Technologien. Diskussionen gibt es auch um stärker (sozial-)politische Perspektiven und Positionen, etwa im Falle des »aktiven« oder »produktiven« Alterns als Gegenargument zur »Alterslast«-Interpretation auf der einen, als (unangemessene) Forderung für den Einzelnen auf der anderen Seite.

Literatur

Atchley, Robert C., 1983: Aging. Continuity and change, Belmont, CA. – Biggs, Simon, 1999: The mature imagination. Dynamics of identity in midlife and beyond, Buckingham, UK. – Boetticher, Karl W., 1975: Aktiv im Alter, Düsseldorf. – Cavan, Ruth S. et al., 1949: Personal adjustment in old age, Chicago, IL. – Cole, Thomas R. et al. (Eds.), 1993: Voices and visions of aging, New York, NY. – Cowdry, Edmund V. (Ed.), 1939: Problems of aging, Baltimore, MD. – Cowgill, Donald O.; Holmes, Lowell D. (Eds.), 1972: Aging and modernization, New York, NY. – Cumming, Elaine; Henry, William E., 1961: Growing old. The process of disengagement, New York, NY. – Dowd, James J., 1975: Aging as exchange. A preface to theory; in: Journal of Gerontology 30, 584–593. – Elder, Glen H. Jr., 1995: The life course paradigm; in: Moen, Phyllis et al. (Eds.): Examining lives and context, Washington, DC, 101–140. – Featherstone, Mike; Hepworth, Mike, 1991: The mask of ageing and the postmodern life course; in: Featherstone, Mike et al. (Eds.): The body. Social processes and cultural theory, London, UK, 371–389. – Green, Bryan S., 1993: Gerontology and the construction of old age, New York, NY. – Havighurst, Robert J.; Albrecht, Ruth, 1953: Older people, New York, NY. – Hohmeier, Jürgen, 1978: Alter als Stigma; in: Ders.; Pohl, Hans-Joachim (Hg.): Alter als Stigma, Frankfurt a. M., 10–30. – Katz, Steven, 1996: Disciplining old age, Charlottesville, NC/London, UK. – Kaufman, Sharon R., 1986: The ageless self. Sources of meaning in late life, Madison, WI. – Kohli, Martin, 1985: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37, 1–29. – Ders.; Künemund, Harald (Hg.), 2000: Die zweite Lebenshälfte, Opladen. – Levy, René, 1977: Der[22] Lebenslauf als Statusbiographie, Stuttgart. – Mayer, Karl U., 1996: Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel; in: Behrens, Johann; Voges, Wolfgang (Hg.): Kritische Übergänge, Frankfurt a. M., 43–72. – Minkler, Meredith; Estes, Carroll L. (Eds.), 1991: Critical perspectives on aging, Amityville, NY. – Moody, Harry R., 1988: Toward a critical gerontology; in: Birren, James E.; Bengtson, Vern L. (Eds.): Emergent theories of aging, New York, NY, 19–40. – Myles, John, 1984: Old age in the welfare state, Boston, MA. – Neugarten, Bernice L.; Datan, Nancy, 1978: Lebensablauf und Familienzyklus; in: Rosenmayr, Leopold (Hg.): Die menschlichen Lebensalter, München 165–188. – Parsons, Talcott, 1968: Alter und Geschlecht in der Sozialstruktur der Vereinigten Staaten; in: Ders.; Rueschemeyer, Dietrich (Hg.): Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied/Berlin, 65–83 (1942). – Pollak, Otto, 1948: Social Adjustment in Old Age, New York, NY. – Prahl, Hans-Werner; Schroeter, Klaus R., 1996: Soziologie des Alterns, Paderborn. – Riley, Matilda W. et al. (Eds.), 1972: Aging and society. A sociology of age stratification, vol. 3., New York, NY. – Rose, Arnold M., 1962: The subculture of the aging; in: The Gerontologist 2, 123–127. – Rosow, Irving, 1974: Socialization to old age, Berkeley, CA. – Schelsky, Helmut, 1965: Die Paradoxien des Alters in der modernen Gesellschaft; in: Ders.: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln, 198–220 (1959). – Schroeter, Klaus R., 2012: Altersbilder als Körperbilder; in: Berner, Frank et al. (Hg.): Individuelle und kulturelle Altersbilder, Wiesbaden, 153–229. – Tews, Hans P., 1971: Soziologie des Alters, Heidelberg. – Tornstam, Lars, 1989: Gerotranscendence; in: Aging. Clinical and Experimental Research 1, 55–63. – Townsend, Peter, 1981: The structured dependency of the elderly; in: Ageing and Society 1, 5–28.

Harald Künemund/Klaus R. Schröter

Anomie

Quellentexte

Der franz. Soziologe Emile Durkheim (1858–1917) hat den Anomiebegriff (engl. anomy, aus dem Griechischen: Verneinung/Fehlen von Gesetz/Ordnung) in die Soziologie eingeführt, vor allem im Rahmen seiner Untersuchungen zur Arbeitsteilung (1992 [1893]) und zum Selbstmord (1983 [1897]). Die zweite autoritative Quelle, auf die sich fast alle Soziologen beziehen, die heutzutage das Anomiekonzept – vor allem zur Erklärung abweichenden oder kriminellen Verhaltens – heranziehen, sind Arbeiten von Robert K. Merton (1910–2003), insb. zwei Aufsätze in Merton 1968 ([1957], Kap. 6, 7). Zu den deutschen Autoren, die eigene Varianten des Anomiekonzepts ausgearbeitet haben, gehören Dahrendorf (1979), Opp (1974), Waldmann (2003). Zum gegenwärtigen Stand der internationalen Diskussion s. den Sammelband von Agnew/Kaufman (2010).

Zentrale Bedeutungskomponenten

Zum Verständnis des Anomiekonzepts sind zwei analytische Unterscheidungen wichtig, die schon Durkheim (implizit) eingeführt hat: Als gesellschaftliches Strukturmerkmal bezeichnet Anomie verschiedene Formen einer »Störung der kollektiven Ordnung«, hervorgerufen vor allem durch eine unzulängliche normative Regulierung, die sich einerseits in der lebensweltlichen »sozialen Praxis« mehr oder weniger ungeplant vollzieht, andererseits durch bestimmte (nicht zuletzt staatl.) Instanzen und Akteursgruppen gestaltet wird. Durkheim konzentriert sich auf unzulängliche Koordination bzw. Kooperation zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen und den entsprechenden Akteursgruppen (z. B. Konflikte zwischen »Kapital« und »Arbeit«) sowie Formen einer »erzwungenen« Arbeitsteilung, die das Gerechtigkeitsprinzip verletzen und die Individuen an ihrer Selbstverwirklichung hindern. Auf der anderen Seite bezieht sich Anomie auf Persönlichkeitsmerkmale, insb. auf normative und kognitive Desorientierung, auf überschießende Bedürfnisse und Aspirationen, einen Verlust an Sinn gebenden moralischen Bindungen. Um die beiden Ebenen terminologisch auseinanderzuhalten, spricht man mit Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale auch von »Anomia« (verstanden als Folge gesellschaftlicher »Anomie«).

Damit kommen wir zur Unterscheidung von prozess- und struktur-bedingter Anomie. Durkheim hatte zunächst vor allem jene Regulierungsund Orientierungsdefizite im Blick, die durch einen rapiden, tiefgreifenden sozialen Wandel ausgelöst werden – weitgehend unabhängig von dessen spezifischer Entwicklungsrichtung (s. Thome 2010). Später entdeckte er die Möglichkeit einer »chronischen« Anomie in Form einer regulativ nicht mehr aufhebbaren Dominanz der Ökonomie über alle anderen Lebensbereiche.

Merton greift Durkheims Überlegungen auf, abstrahiert und systematisiert sie. Ihm zufolge ist eine anomische Konstellation strukturell durch drei Komponenten gegeben: a) Kulturell sind Werte und Handlungsziele definiert, die allgemein akzeptiert[23] und angestrebt werden. b) Kulturell sind auch die Wege und Mittel festgelegt, die dabei legitimerweise eingesetzt werden dürfen. c) Die Sozialstruktur verteilt diese Mittel unter den Aspiranten in ungleichem Maße, so dass viele Akteure die legitimen Ziele nicht mit legitimen Mitteln erreichen können. Es entsteht also ein hoher Anreiz, sich illegitimer (auch gesetzwidriger) Mittel zu bedienen. Dieser Anreiz ist umso stärker, je dominanter ein einzelnes Ziel ist (insbesondere der eigene ökonomische Erfolg im Vergleich zum Erfolg Anderer). Zu beachten ist außerdem, dass auch die illegitimen Mittel sozial ungleich verteilt sind, was für diejenigen, die auch hierin benachteiligt sind, den Einsatz körperlicher Gewalt besonders attraktiv macht.

Literatur

Agnew, Robert; Kaufman, Joanne (Hg.), 2010: Anomie, Strain and Subcultural Theories of Crime, Surrey (GB). – Dahrendorf, Ralf, 1979: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M. – Durkheim, Emile, 1983: Der Selbstmord, Frankfurt a. M. (1897). – Ders., 1992: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. (1893). – Merton, Robert K., 1968: Social Theory and Social Structure, Glencoe, IL (Frühere Ausgaben 1957/1949). – Opp, Karl-Dieter, 1974: Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, Neuwied. – Thome, Helmut, 2010: Violent Crime (and Suicide) in Imperial Germany, 1883–1902: Quantitative Analyses and a Durkheimian Interpretation; in: International Criminal Justice Review 20, 5–34. – Waldmann, Peter (Hg.), 2003: Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie, München.

Helmut Thome

Anspruchsniveau

Das Anspruchsniveau (engl. level of aspiration) bezeichnet einen Maßstab, an dem ein Individuum seine eigene Leistung misst bzw. bewertet. Der Begriff stammt aus der psychologischen Entscheidungsforschung (Charakterdiagnostik; Leistungsmotivation) und wurde dort von Lewin und Mitarbeitern eingeführt (Lewin et al. 1944; Hoppe 1931). Untersucht wurden der Einfluss des individuellen Anspruchsniveaus auf Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse und seine Bedeutung als motivbildender Faktor in leistungsorientierten Situationen. Dem Anspruchsniveau ist ein Zeitfaktor inhärent, der in den Wirtschaftswissenschaften als Zielausmaß (bzgl. Leistung, Besitz und Möglichkeiten) gekennzeichnet wird, das ein Individuum gegenwärtig oder in der Zukunft erreichen möchte. Im Marketing dient das Anspruchsniveau auch zur Reduktion möglicher Handlungsalternativen. Entspricht eine individuelle Leistung dem Anspruchsniveau oder liegt sie darüber, so erlebt das Individuum dies als Erfolg und erhöht in der Regel sein Anspruchsniveau. Liegt die Leistung darunter, so wird das Anspruchsniveau herabgesetzt. Liegt eine Leistung sehr weit über oder sehr weit unter dem Anspruchsniveau, so wird diese externen Faktoren zugeschrieben. Eine große Abweichung des Anspruchsniveaus vom tatsächlichen Leistungsniveau kann auf einen mangelnden Realitätssinn zurückgeführt werden oder aber auf eine neurotische Fehlhaltung im Leistungsbereich. Die Herausbildung eines »realistischen Sinns« (Lewin/ Lewin 1953) wird von den Sozialisationsbedingungen mitbestimmt. Damit spielen, neben im weitesten Sinne individuellen Variablen (Leistungsmotiv; Aufgabenhaltung; persönliche Standards) auch überindividuelle bzw. soziale Faktoren (Gruppendruck; Macht; geschlechtsspezifische bzw. ethnische Unterschiede) eine nicht unbedeutende Rolle im Hinblick auf die Genese des Anspruchsniveaus. Auf der Makroebene verändern sich gruppen- oder gemeinschaftsspezifische Anspruchsniveaus unter Deprivations- bzw. Wohlfahrtsbedingungen.

Literatur

Hoppe, Ferdinand, 1930: Erfolg und Misserfolg; in: Psychologische Forschung 40, 1–62. – Lewin, Kurt; Lewin, Gertrud W., 1953: Die Lösung sozialer Konflikte, Bad Nauheim. – Lewin, Kurt et al., 1944: Level of aspiration; in: Hunt, J. McV (ed.): Personality and the behaviour disorders, New York, 333–378.

Birgit Blättel-Mink

Arbeiterbewegung

Die Arbeiterbewegung (engl. labour movement) ist die dominante soziale Bewegung des 19. und frühen 20. Jh.s. Sie ist Produkt der kapitalistischen Industrialisierung (Industrielle Revolution) und ihrer sozialen Begleit- und Folgeerscheinungen (»Entfremdung«, »soziale Frage«, »Arbeiterfrage«). Die freie Lohnarbeit als dauerhaftes, »vererbbares« Schicksal wurde den besitzlosen, depossedierten, von zünftigen [24]Privilegien entbundenen Schichten (Proletariat) zum gemeinsamen Ausgangspunkt solidarischer Selbsthilfe (Hilfskassen, Genossenschaften), kollektiver Gegenwehr (Streiks, Kampfkoalitionen, Gewerkschaften) und politischer Organisierung (Arbeiterparteien); daneben formierten sich – als »vierte Säule« der Arbeiterbewegung – Arbeiterbildungsvereine und proletarische Freizeitorganisationen. Aus den zunächst spontanen Rebellionen (Maschinensturm) und vielfältigen kollektiven Aktionen zur Verbesserung der sozialen Lage, Erkämpfung politischer Rechte und Hebung des Bildungsniveaus entwickelte sich eine mächtige Bewegung, die den von abhängiger Arbeit lebenden und gesellschaftlich benachteiligten Unterschichten das Selbstbewusstsein vermittelte, die eigentlich produktive und »werteschaffende« Klasse zu sein (Klassenbewusstsein).

Hervorgegangen ist die Arbeiterbewegung nicht aus den verelendeten Schichten des Industrieproletariats; ihre ersten Trägergruppen kamen vielmehr aus der »Arbeiteraristokratie«, waren Handwerkerund Facharbeitergruppen, die sich gegen die Proletarisierung ihrer Arbeits- und Lebenssituation zur Wehr setzten. So gehörten die Buchdrucker zu den frühesten Gewerkschaftsgründern. Aus den bürgerlichen Schichten zur Arbeiterbewegung stoßende Intellektuelle wurden zu ihren wichtigsten Theoretikern (Marx, Engels, Lassalle, Lenin, Trotzki, Luxemburg).

Bei allen Unterschieden der politischen Strömungen war das generelle Ziel der Arbeiterbewegung die soziale und politische Emanzipation der arbeitenden Klasse, die Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Unterprivilegierung und Schaffung einer neuen, gerechten Gesellschaftsordnung. Der Marxismus, der sich als theoretischer Ausdruck der Arbeiterbewegung verstand, gewann auf die sozialistische Arbeiterbewegung Europas erheblichen Einfluss. Als Mitglied des Zentralrats der 1864 in London gegründeten »Internationalen Arbeiterassoziation« (IAA, später »Erste Internationale« genannt) formulierte Marx programmatische Aussagen (z. B. Inauguraladresse und Statuten der IAA). Sie postulierten als historische Aufgabe der Arbeiterbewegung die »Selbstbefreiung« des Proletariats durch Klassenkampf und revolutionäre Eroberung der politischen Macht zwecks Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft. Syndikalistische Richtungen der Arbeiterbewegung fanden vornehmlich in den romanischen Ländern Rückhalt; sie verwarfen – unter dem Einfluss des Anarchismus und ihrer Theoretiker (Proudhon, Bakunin) – Parlamentarismus, Wahlbeteiligung und politischen Kampf; stattdessen propagierten sie die »direkte Aktion«, letztlich den Generalstreik als »Revolution der gekreuzten Arme«. Sozialreformerische bzw. labouristische Tendenzen zeigten sich früh in der angelsächsischen Arbeiterbewegung; für sie war die pragmatisch-gradualistische Orientierung (Fabianismus) und die grundsätzliche Anerkennung des demokratisch-parlamentarischen Systems einschließlich des Bündnisses mit dem bürgerlichen Liberalismus kennzeichnend. Die christliche Arbeiterbewegung schließlich orientierte sich an der christlichen Soziallehre, die die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit fordert. – Nach der Russischen Revolution 1917 kam es zur Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung in eine sozialdemokratische und kommunistische mit jeweils eigenen internationalen Vereinigungen (Sozialistische Internationale, Kommunistische Internationale).

Galten die früheren Bemühungen der Arbeiterbewegung der Beseitigung der rechtlichen Restriktionen (Koalitions- und Streikverbot) und der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, dann zielten später die sozialen und politischen Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeiterparteien in den westlichen Demokratien auf die Nutzung der Tarifautonomie und des Wahlrechts als Hebel zur Schaffung eines Systems kollektivvertraglicher und sozialstaatlicher Sicherungen ab, die die Integration der vordem »exterritorialen Klasse« in die Massendemokratien des westlichen Kapitalismus aktiv beförderten. Mehr noch als Sozialstaat und Massenwohlstand haben die Auflösung proletarischer Lebensmilieus und die unaufhaltsame Schrumpfung der traditionellen Industriearbeiterschaft der These vom »Ende der Arbeiterbewegung« (Gorz, Pirker) eine zunehmende Plausibilität verliehen.

Literatur

Abendroth, Wolfgang, 1975: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. – Braunthal, Julius, 1978: Geschichte der Internationale, 3. Bde., Bonn. – Gorz, André, 1980: Abschied vom Proletariat, Frankfurt a. M. – Grebing, Helga, 1980: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 10. Aufl., München. – Klönne, Arno, 1980: Die deutsche Arbeiterbewegung, Köln. – Kocka, Jürgen, 1983: Lohnarbeit und Klassenbildung, Berlin. – Mooser, Josef, 1984: Arbeiterleben in Deutschland 1900–1979, [25]Frankfurt a. M. – Pirker, Theo, 1984: Vom Ende der Arbeiterbewegung; in: Ebbinghausen, Rolf; Tiemann, Friedrich (Hg.): Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Opladen, 39–51. – Ritter, Gerhard A. (Hg.), 1984 ff.: Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin/ Bonn (bisher erschienen: Bde. 1, 2, 5, 9, 10, 11, 12). – Tennstedt, Florian, 1983: Vom Proleten zum Industriearbeiter, Köln.

Walther Müller-Jentsch

Arbeitsbeziehungen

Die Begriffe Arbeitsbeziehungen oder industrielle Beziehungen sind – in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen synonym verwandte – wörtliche Übersetzungen aus dem Englischen (labour relations, industrial relations). Gebräuchlich sind auch die Begriffe: Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Sozialpartnerschaft, Konfliktpartnerschaft. In der älteren deutschen Literatur finden sich für den Gegenstandsbereich Umschreibungen wie »Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit« (A. Weber) oder »Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen« (Lederer, Marschak) oder einfach »soziale Arbeitsverhältnisse« (Geck).

Arbeitsbeziehungen bezeichnen ganz allgemein die ökonomischen Austauschprozesse und sozialen Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit in einem Betrieb, einem Wirtschaftszweig, einem Land oder einem regulierten transnationalen Wirtschaftsraum (z. B. Europäische Union) sowie die aus diesen Interaktionen resultierenden Normen, Verträge, Institutionen und Organisationen. Ihre Träger bzw. Akteure sind Verbände (Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen), Gruppen (Management, Betriebsrat, teilautonome Arbeitsgruppen) und Personen beider Seiten sowie staatliche Instanzen. Die Kapital und Arbeit repräsentierenden Akteure treten in der Regel als Kontrahenten im doppelten Sinne (Vertragspartner und Gegner) auf. Die staatlichen Instanzen nehmen a) hoheitliche Funktionen wahr (Setzung der institutionellen Rahmenbedingungen durch kollektives Arbeitsrecht, staatliches Schlichtungswesen etc.; Festlegung bestimmter Mindestnormen wie Mindestlohn, tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit und Mindestjahresurlaub), beeinflussen b) als »dritte Partei« den tarifpolitischen Prozess etwa durch einkommenspolitische Daten oder verhandeln c) als Tarifvertragspartei des öffentlichen Dienstes direkt über Lohnsätze und Arbeitsnormen.

Arbeitsbeziehungen haben die kollektive Regelung von Arbeitsverhältnissen (d. h. Beschäftigungs-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen) zum Inhalt. Ihr Gegenstandsbereich umfasst 1. den kontrahierten wirtschaftlichen Austausch zwischen Kapital und Arbeit (Lohn gegen Arbeitsleistung), 2. eine daraus resultierende typische Konfliktkonstellation, die sich in Arbeits- und Verteilungskonflikten (industrieller Konflikt) manifestiert, und 3. ein historisch gewachsenes Institutionensystem (z. B. Tarifautonomie und Betriebsverfassung), das die Austauschprozesse und Konfliktbeziehungen normativ regelt.

Die kollektiven Regelungen können unterschieden werden in 1. unilaterale, bilaterale und trilaterale, 2. formelle und informelle, 3. substantielle und prozedurale Regelungen.

Zum Kernbestand der Arbeitsbeziehungen gehören die bilateralen Regelungen z. B. zwischen Betriebsrat und Management (Betriebsvereinbarungen) sowie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Tarifverträge). Unilaterale Regelungen können vom Staat (Gesetze, Verordnungen) erlassen, vom Management (Direktionsrecht) angeordnet, aber auch von starken Arbeitergruppen (Arbeiterkontrolle) durchgesetzt, in seltenen Fällen auch von Gewerkschaften der anderen Seite aufgezwungen werden (z. B. Closed Shop). Bei trilateralen Regelungen ist überdies der Staat beteiligt (z. B. Konzertierte Aktionen, Sozialpakte, trilaterale Abkommen). Formelle Regelungen werden meist in Schriftform erlassen, vereinbart oder angeordnet, aber auch förmliche mündliche Anordnungen und Abreden sind ihnen zuzurechnen. Insbesondere im betrieblichen Alltag werden die formellen Regelungen ergänzt, modifiziert, konkretisiert und nicht selten konterkariert durch informelle Regelungen bzw. Normen. Sie füllen einerseits Planungslücken und Koordinationsmängel der Betriebshierarchie durch selbstständige »Belegschaftskooperation« (Frielingshaus) aus und schützen andererseits die abhängig Arbeitenden gegen Leistungsverdichtung und umfassende Management-Kontrolle. Substantielle Regelungen beziehen sich auf inhaltliche Arbeitsnormen (Arbeitsentgelt, Arbeitsbedingungen); prozedurale Regelungen sind Verfahrensregeln (z. B. über Mitbestimmung, Schlichtung, Konfliktaustragung).

[26]Retrospektiv betrachtet, sind Arbeitsbeziehungen eine historisch gewachsene Kompromissstruktur, die sich als »intermediäres Institutionensystem« zwischen die Arbeitsmarktparteien geschoben hat und deren unilaterale Konfliktstrategien durch bilaterale Verhandlungssysteme (»joint regulation«) überformte. Ihre Entstehung und Entwicklung verdankt sie zwei interagierenden und konfligierenden Kräften: dem (manifesten und latenten) Klassenkampf und der (reaktiven und prophylaktischen) Sozialpolitik von Unternehmern und Staatsapparat; zwischen beiden vermittelten bürgerliche Sozialreformer (vom Bruch).

Die für Deutschland charakteristischen Institutionensysteme der Arbeitsbeziehungen bestehen aus Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Tarifautonomie. Betriebsverfassung und Tarifautonomie bilden ein duales System der Interessenrepräsentation. Es ermöglicht eine funktionale Differenzierung der Regelung von Interessenkonflikten in zwei – nach Interessen, Akteuren und Durchsetzungsformen – voneinander getrennten »Arenen« (Müller-Jentsch 1997, 195). Eine die Betriebsverfassung ergänzende Institution ist die Unternehmensmitbestimmung (Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat), die meist in Personalunion von den Vorsitzenden und geschäftsführenden Mitgliedern des Betriebsrats, neben gewerkschaftlichen Vertretern, wahrgenommen wird.

Als neues Phänomen sind Systeme direkter Partizipation wie teilautonome Gruppenarbeit, Qualitätszirkel etc. (Müller-Jentsch 2007, 102 ff.) und »andere Vertretungsorgane« wie Runde Tische, Sprecher, Ältestenräte etc. (Hauser-Ditz et al. 2008, 73 ff.) anzusehen. Sie können als Ergänzung, Konkurrenz oder Substitut der repräsentativen Formen der Mitbestimmung durch den Betriebsrat in Erscheinung treten.

Da das Forschungsgebiet zentrale gesellschaftliche Konflikte und widersprüchliche Interessen zum Inhalt hat, kann eine geschlossene und allseits akzeptierte Theorie der Arbeitsbeziehungen nicht erwartet werden. Es herrscht theoretischer Pluralismus vor. Ein erster systematischer Versuch zu einer Theorie der Arbeitsbeziehungen stammt von John T. Dunlop. Heute werden folgende Theorieansätze unterschieden: a) systemtheoretische, b) marxistische, c) institutionalistische, d) handlungstheoretische, e) strukturationstheoretische und f) ökonomische bzw. modelltheoretische (vgl. Müller-Jentsch 2008, 239–283). Kennzeichnend für die Forschung ist indessen der pragmatische Umgang mit diesen sich nicht ausschließenden, z. T. komplementären Ansätzen.

Literatur

Dunlop, John T., 1958: Industrial Relations Systems, New York. – Ferner, Anthony; Hyman. Richard (eds.), 1998: Changing Industrial Relations in Europe, Oxford. – Geck, L. H. Adolph, 1931: Soziale Arbeitsverhältnisse, Berlin. – Hauser-Ditz, Axel et al., 2008: Betriebliche Interessenregulierung in Deutschland, Frankfurt a. M. – Keller, Berndt, 2008: Einführung in die Arbeitspolitik, 7. Aufl., München. – Lederer, Emil; Marschak, Jakob, 1927: Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen; in: Grundriß der Sozialökonomik IX. Abt., Tübingen. – Müller-Jentsch, Walther, 1997: Soziologie der Industriellen Beziehungen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. – Müller-Jentsch, Walther (Hg.), 1999: Konfliktpartnerschaft, 3. Aufl., München. – Müller-Jentsch, Walther, 2007: Strukturwandel der Arbeitsbeziehungen, Wiesbaden. – Müller-Jentsch, Walther, 2008: Arbeit und Bürgerstatus, Wiesbaden. – Müller-Jentsch, Walther; Ittermann, Peter, 2000: Industrielle Beziehungen. Daten, Zeitreihen, Trends 1950–1999, Frankfurt a. M. – vom Bruch, Rüdiger, 1985: »Weder Kommunismus noch Kapitalismus«. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland, München. – Weber, Adolf, 1954: Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, 6. Aufl., Tübingen.

Walther Müller-Jentsch

Arbeitssoziologie

Die Arbeitssoziologie (engl. sociology of work) ist eine spezielle Soziologie, die sich mit der besonderen Form des sozialen Handelns beschäftigt, das auf die Existenzsicherung gerichtet ist; dabei kann es sich um bezahlte Arbeit ebenso handeln wie um unbezahlte Arbeit, wobei in der Arbeitssoziologie traditionell die Erwerbsarbeit im Vordergrund steht (als Überblick Böhle et al. 2010; Minssen 2006). Während bis in die 1980er Jahre vor allem Industriearbeit Gegenstand der Untersuchungen war, ist in den letzten zwei Dekaden das Augenmerk verstärkt, dem gesellschaftlichen Wandel entsprechend, auf immaterielle Arbeit gerichtet worden, wobei Tätigkeiten mit eher geringen Qualifikationsanforderungen ebenso untersucht werden wie Tätigkeiten mit hohen Qualifikationsanforderungen (Wissensarbeit).

Arbeitssoziologie wird häufig in einem Atemzug mit Industriesoziologie genannt, wobei eine Abgrenzung [27]schwierig ist. In aller Vorläufigkeit kann der Unterschied darin gesehen werden, dass die Industriesoziologie ihren Blick auch auf die institutionellen Bedingungen richtet, unter denen die Produktion materieller und immaterieller Güter erfolgt; Forschungsthemen sind z. B. industrielle Beziehungen, die Folgen der als »Globalisierung« bezeichneten Veränderungen in der Weltwirtschaft oder die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Im Zentrum der Arbeitssoziologie hingegen steht stärker die Analyse der Bedingungen, Formen und Folgen der im Zeitverlauf wechselnden Lösungen der Transformationsproblematik, d. h. der Problematik, dass die unternehmerische Verfügbarkeit über Arbeitskraft noch keineswegs bedeutet, dass auch wie gewünscht gearbeitet wird. Zwar ist im Arbeitsvertrag geregelt, welche Arbeit für welche Vergütung zu leisten ist, es bleibt jedoch unbestimmt, wie die Arbeit geleistet wird, da nicht alle zu erbringenden Leistungen und Gegenleistungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Voraus zu spezifizieren sind (»Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages«). Die Überzeugungen, wie die Transformationsproblematik am besten zu lösen ist, verändern sich im Zeitverlauf.

Themen bis in die 1940er Jahre

Lange Zeit wurde die Subjektivität von Arbeitskraft als Störfaktor und das Allheilmittel für einen reibungslosen Arbeitsprozess in einer möglichst exakten Vorstrukturierung und einer rigiden Kontrolle der Arbeitsabläufe gesehen. Dies folgte den Überlegungen und Vorschlägen des amerikanischen Ingenieurs Frederick Winslow Taylor. Die Prinzipien des Taylorismus lassen sich in vier Punkten bündeln: Erstens eine Trennung von Hand- und Kopfarbeit, um die optimale Arbeitsausführung zu bestimmen, zweitens ein Wechsel vom Fest- zum Leistungslohn, um Leistungsanreize zu setzen, drittens eine weit vorangetriebene Arbeitsteilung, um durch die Zerlegung der Arbeit in einzelne Teilschritte eine hohe Spezialisierung bei der Ausführung dieser Teilschritte und damit einen hohen Leistungsgrad zu erzielen, und viertens schließlich eine sorgfältige Auslese und Anpassung der Arbeiter, um die Arbeitsaufgabe optimal zu erfüllen. Das technisch-organisatorische Rückgrat war das von Henry Ford 1913 für die Automobilproduktion nutzbar gemachte Fließband.

Allerdings zeigten die sogenannten Hawthorne-Experimente schon recht frühzeitig die personalwirtschaftlichen Nachteile dieses Arbeitssystems. Diese Experimente (Roethlisberger/Dickson 1939) begannen 1924 und zielten, durchaus in der Tradition tayloristischer Überlegungen, auf die Analyse der Auswirkungen von Arbeitsumgebungseinflüssen auf die Arbeitsleistung. In den Hawthorne-Werken der Western Electric Company in Chicago sollten die Auswirkungen der Beleuchtungsstärke auf die Arbeitsleistung von Arbeiterinnen untersucht werden. Die dabei durchgeführten Experimente wurden berühmt, weil sie (anfangs) scheiterten: alle Variationen der Beleuchtungsstärke gingen entgegen den Erwartungen einher mit Leistungssteigerungen der beobachteten Arbeiterinnen. Dies führte jedoch nicht zu einem Abbruch, sondern zu einer Weiterführung der Untersuchungen bis in die dreißiger Jahre, mit denen eine Forschungsgruppe um den Psychologen Elton Mayo beauftragt wurde. Diese Untersuchungen erbrachten vor allem zwei Ergebnisse: Zum einen wurde die Leistungssteigerung der Arbeitskräfte durch die Aufmerksamkeit erklärt, die diesen allein durch die Tatsache zuteilwurde, dass sie an einem wissenschaftlichen Experiment teilnahmen (der sogenannte Hawthorne-Effekt). Zum anderen wurden die informellen Gruppen entdeckt. Dies sind soziale Gruppen, die sich neben und außerhalb der formalen Organisationsstruktur aufgrund kooperativer Bezüge im Arbeitsprozess finden.

Diese Entdeckung der Bedeutung menschlicher Beziehungen im Arbeitsprozess war Ausgangspunkt einer Managementlehre, der »Human-Relations-Bewegung«, die in den 1930er und 1940er Jahren (vor allem in den USA) auf die Bedeutung hinwies, die auch unter ökonomischen Aspekten den zwischenmenschlichen Beziehungen im Betrieb zukommt. Das führte nicht nur zu einem enormen Aufschwung der Organisationspsychologie an amerikanischen Universitäten, sondern auch zu einem veränderten Verständnis von Führung, demzufolge das Management auch die Bedürfnisse der Arbeiter zu berücksichtigen habe. Zum anderen zeigte die Existenz von informellen Gruppen, dass der Ansatz von Taylors »scientific management«, eine Optimierung des Produktionsprozesses durch die Optimierung des Arbeitsablaufs eines einzelnen Arbeiters anzustreben, zumindest verkürzt war, da informelle Gruppen in starkem Maße das Arbeitsverhalten ihrer Mitglieder prägen.

[28]Themen 1950–1990

In Deutschland war die Themensetzung der Arbeitssoziologie bis in die 1980er Jahre zunächst, oftmals angeleitet durch die Marxsche Analyse des Produktionsprozesses, bestimmt durch das konflikthafte Verhältnis von Kapital und Arbeit. Dabei standen insbesondere zwei Themenbereiche im Vordergrund.

Erstens ging es um das Verhältnis von technischem Wandel und Industriearbeit (Popitz et al. 1957a; Kern/Schumann 1973). Der technische Wandel wurde als exogener Faktor begriffen, der prägenden Einfluss auf Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen hat. Im Laufe der Untersuchungen zeigte sich freilich, dass Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen durch Technik nicht determiniert sind, da sich die Annahme einer allgemeinen Entwicklungsrichtung (»je mehr Automatisierung, desto besser bzw. schlechter die Arbeitsbedingungen«) als verkürzt herausstellte.

Zweitens wurden die Veränderungen im Arbeiterbewusstsein untersucht (Popitz et al. 1957b). Alle Studien bestätigten, dass die Arbeiter sich mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland arrangiert hatten, auch wenn sie die Gesellschaft in ein »oben« und ein »unten« geteilt sahen. Der ehemals angenommene enge Zusammenhang zwischen Arbeitssituation und Bewusstsein erwies sich als zu kurz gegriffen, da subjektive Aneignungsprozesse der Arbeitssituation durch die Arbeiter mit in Betracht gezogen werden mussten, für die auch Erfahrungen in der außerberuflichen Lebenswelt von Bedeutung sind.

Eine tayloristische Arbeitsgestaltung galt in dieser Zeit als eine dem kapitalistischen Produktionsprozess angemessene Form der Arbeitsgestaltung. Zu Beginn der 1980er Jahre hatten sich freilich die Dimensionen von Rationalisierung sowohl hinsichtlich ihrer Ziele als auch hinsichtlich ihrer Reichweite verändert. Zum einen waren die Anforderungen an qualitative und quantitative Flexibilität gestiegen: vom Anbietermarkt zum Käufermarkt, so kann diese Entwicklung benannt werden. Damit wandelte sich auch die Perspektive von Rationalisierung: nicht mehr wie bisher Fertigung für einen Massenmarkt mittels standardisierter, hochproduktiver Maschinen und spezialisierter Arbeitskräfte, sondern flexible Spezialisierung, d. h. eine auf die jeweiligen Kundenwünsche ausgerichtete Fertigung durch Facharbeiter.

Zum anderen waren komplexe Informationsund Kommunikationstechniken bis zur Anwendungsreife entwickelt worden. Die Mikroelektronik hielt auf breiter Front Einzug in die Produktion. Dadurch wurde die Realisierung der gewandelten Rationalisierungsperspektive überhaupt erst denkbar; ohne Mikroelektronik in der Produktion wäre eine zugleich flexiblere und kostengünstigere Produktion kaum möglich gewesen. Es entstand ein »neuer Rationalisierungstyp«, die systemische Rationalisierung (Altmann et al. 1986); er zeichnete sich dadurch aus, dass Rationalisierung nun in der Perspektive auf den gesamten betrieblichen Ablauf erfolgte und dabei durch die Nutzung der Mikroelektronik auch Liefer-, Bearbeitungs- und Distributionsprozesse einbezogen werden konnten. Zeitgleich diagnostizierten Kern und Schumann (1984) unter der Überschrift »Ende der Arbeitsteilung?« neue Produktionskonzepte – oder zumindest deren Möglichkeit. Lebendige Arbeit galt zunehmend weniger als ein Störfaktor der Produktion, deren Unberechenbarkeit durch Vorstrukturierung und Technisierung in Schach zu halten ist, sondern auch aus einer ökonomischen Perspektive war die Wertschätzung der qualitativen Potentiale von Arbeit gestiegen; selbst im Management fand sich zunehmend eine Sichtweise, der zufolge es Gestaltungsoptionen auszuschöpfen galt, um die Qualifikations- und Motivationspotenziale von Arbeitern zu nutzen.

Einen nachhaltigen Einfluss übten dann die Ergebnisse einer weltweit durchgeführten Automobilstudie aus (Womack et al. 1990), die die Vorteile einer in Japan implementierten Produktionsweise herausstellte, von den Autoren »lean production« genannt. Der Erfolg dieser insbesondere bei Toyota entwickelten schlanken Produktion begründete sich nicht etwa in einer überlegenen Technik, einer weit vorangetriebenen Automation oder dergleichen, sondern in einer überlegenen Organisations- und Kooperationsform, die sich vor allem durch eine Dezentralisierung von Unternehmensstrukturen auf allen Ebenen auszeichnete. Für die Arbeitsebene popularisierte dies u. a. die Vorteile von Gruppenarbeit in der Fertigung, d. h. der Arbeit in dauerhaft eingerichteten Gruppen, der auch Entscheidungskompetenzen zugewiesen werden, die zuvor den unmittelbaren Vorgesetzten oblagen. Diese Form der Arbeitsgestaltung wurde nun nicht mehr nur als eine unter Aspekten einer Humanisierung der Arbeit wünschenswerte, sondern als eine auch ökonomisch[29] sinnvolle Form der Arbeitsgestaltung angesehen. Entsprechend wurde in vielen Unternehmen von der Einzelarbeit auf Gruppenarbeit umgestellt, so dass mittlerweile unter dem Label »Gruppenarbeit« eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Organisationsformen figuriert. Allen gemeinsam aber ist, dass die Arbeitsinhalte, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, erweitert und Entscheidungskompetenzen in die Gruppe verlagert worden sind.

Neuere Entwicklungen

Im Zusammenhang mit dem Konzept des »Shareholder Value« werden die auf Arbeit bezogenen Veränderungen in den letzten zwei Dekaden als Folgen einer »Vermarktlichung« rubriziert. Mit dieser Metapher soll darauf hingewiesen werden, dass Unternehmen sich gegenüber den Anforderungen externer Märkte geöffnet haben; der Erfolg am Markt soll für alle Unternehmensangehörigen zum Bezugspunkt ihres Handelns werden (»Unternehmer im Unternehmen«). Zugleich werden marktliche Elemente zunehmend als Steuerungsinstrumente genutzt, indem die unternehmensinterne Steuerung als (indirekte) Steuerung mit Hilfe von Kennzahlen erfolgt. Gewinnmargen und Ergebniserwartungen werden zu verbindlichen Zielgrößen. Auf Unternehmensebene geht dies bspw. einher mit einer Aufsplittung in Profit-Center, die in über Geld definierte Beziehungen treten – bis hin zu einer fiktiven oder faktischen Konkurrenz von Unternehmenseinheiten. Auf der Arbeitsebene bedeutet dies, dass die Leistungskontrolle verstärkt über marktlich bewertete Outputgrößen erfolgt und weniger als direkte Kontrolle des Arbeitsverhaltens; Steuerung qua Hierarchie tritt zurück zugunsten einer Selbststeuerung (»von der Prozesskontrolle zur Ergebniskontrolle«). Damit werden bislang gültige Standards der Arbeitsbedingungen, bisher übliche Formen der Beschäftigung und die bisher übliche Organisation von Arbeit verändert; Arbeitszeit und Personaleinsatz werden flexibilisiert, und seitens der Unternehmen wird vermehrt auf Selbstorganisation der Beschäftigten gesetzt. Dies geht einher mit einem veränderten Verständnis von Leistung: Als Leistung gilt nicht mehr eine der Aufgabe angemessene Leistungsverausgabung, sondern der Grad der Erreichung eines vereinbarten oder verordneten Ziels; letztlich zählt nicht mehr die Mühe, sondern der Erfolg, der sich auf dem Markt zu beweisen hat.

Dies führt zu Phänomenen, die als Entgrenzung diskutiert werden. Durch Prozesse der Dezentralisierung sind ehemals klare Grenzen undeutlich geworden. Die organisatorischen Grenzen von Unternehmen werden unschärfer, wenn sie sich zu Netzwerken wandeln, die durch marktliche Beziehungen verbunden sind. Ebenso verwischen sich die durch die vertikalen und horizontalen Trennlinien gezogenen Grenzen innerhalb von Betrieben, wenn im Zuge der Selbstorganisation Kompetenzen »nach unten« verlagert werden. Und schließlich werden die Grenzen zwischen Arbeit und Leben undeutlicher, wenn von Arbeitnehmern verlangt wird, sich in ihrem Handeln an den Unternehmenszielen zu orientieren und die an sie gestellten zeitlichen und räumlichen Flexibilitätsanforderungen zu bewältigen. Dies geht einher mit einer Subjektivierung der Arbeit. Der Subjektivitätsbedarf seitens der Unternehmen ergibt sich daraus, dass Regeln, Routinen und Vorgehensweisen nur unvollständig vorab definiert werden können. Subjektive Fähigkeiten sollen deswegen für betriebliche Zwecke genutzt werden; Haltungen, Wissen, Fertigkeiten, Motive, Gefühle, Werte etc. werden in Verwertungsstrategien einbezogen. Dies trifft durchaus auf Ansprüche der Beschäftigten an die Gestaltung ihrer Arbeit. Im Zuge des Wertwandels sind die Ansprüche an Selbstverwirklichung gewachsen, und dies betrifft auch die Sphäre der Arbeit; auch hier wollen die Beschäftigten ihre Subjektivität stärker berücksichtig wissen. In diesem Sinne unterliegt Erwerbsarbeit einem doppelten Subjektivierungsprozess: Einerseits haben Betriebe einen erhöhten funktionalen Bedarf an Subjektivität, andererseits tragen die Individuen verstärkt subjektive Ansprüche an ihre Arbeit heran. Darin begründet sich die Ambivalenz von Subjektivierung. Subjektive Fähigkeiten und Eigenschaften dürfen nicht nur in den Arbeitsprozess eingebracht werden, sie müssen auch genutzt werden; eine Eigenleistung wird nicht nur erlaubt, sie wird selbst dann gefordert, wenn sie gar nicht gewollt ist. Die Möglichkeit, die eigene Subjektivität in den Arbeitsprozess einbringen zu können, bedeutet zugleich den Zwang, die eigene Arbeitskraft umfassend zu ökonomisieren. Dies ist nicht beschränkt auf die Sphäre der Erwerbsarbeit allein, sondern Ausdruck übergreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die in der Soziologie als Individualisierung diskutiert werden.

Subjektivierung und Entgrenzung kulminieren in einem Typus von Arbeitskraft, für den sich die Bezeichnung [30]»Arbeitskraftunternehmer« eingebürgert hat, einem Unternehmer, der die eigene Arbeitskraft vermarktet. Der relativ gesicherte und standardisierte Status eines Arbeitnehmers mit relativ stetigen Arbeitsvorgaben wird im Grundsatz ersetzt durch einen Auftragnehmer mit temporären Auftragsbeziehungen. Da eine eng kontrollorientierte Strategie der Nutzung von Arbeitskraft für die betrieblichen Produktivitätsziele zunehmend weniger ausreicht, wird das Problem einer Transformation von Arbeitskraft in Arbeit an die Arbeitenden gewissermaßen zurückgegeben; sie haben sicherzustellen, dass die erwartete Leistung erbracht wird, wobei es ihnen im Grundsatz überlassen bleibt, wie sie das erreichen. Die Ergebniskontrolle geht einher mit einer verstärkten Selbst-Kontrolle der Arbeitenden, die sich insbesondere bezieht auf die Arbeitszeit, den Arbeitsort, die Regulierung der interpersonalen Beziehungen, die fachliche Flexibilität und die Fähigkeit zur Eigenmotivation. Hinzu kommt eine Selbst-Ökonomisierung, die nicht nur eine aktive Entwicklung der individuellen Potenziale umfasst, sondern auch ein gezieltes Selbst-Marketing, um die Arbeitskraft potentiellen Auftraggebern anzubieten. Selbst-Kontrolle und Selbst-Ökonomisierung haben Einfluss auf die gesamte Lebensorganisation, auf das Verhältnis von Arbeit und Leben. Erforderlich ist eine Selbst-Rationalisierung des gesamten Lebenszusammenhanges. Es muss systematisch durchgestaltet und auf Erwerb ausgerichtet werden. Der Arbeitskraftunternehmer ist nicht der bereits quantitativ vorherrschende Arbeitskrafttypus, aber er ist doch Realität. Als Typus findet er sich in erster Linie in einigen Bereichen der modernen Dienstleistungs-, Medien- und Telekommunikationsindustrien, aber nicht im Dienstleistungssektor insgesamt oder gar in den industriellen Kernsektoren. Die für den Arbeitskraftunternehmer typische Arbeits- und Erwerbsorientierung allerdings ist weiter verbreitet als der Typus selbst und findet sich auch bei abhängig Beschäftigten, vor allem bei Angestellten.

Literatur

Altmann, Norbert et al., 1986: Ein »Neuer Rationalisierungstyp« – neue Anforderungen an die Industriesoziologie; in: Soziale Welt 37, 189–207. – Böhle, Fritz et al. (Hg.), 2010: Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden. – Kern, Horst; Schumann, Michael, 1973: Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein, 2. Aufl., Frankfurt a. M. – Dies., 1984: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierungsprozesse in der industriellen Produktion, München. – Kratzer, Nick, 2003: Arbeitskraft in Entgrenzung. Grenzenlose Anforderungen, erweiterte Spielräume, begrenzte Ressourcen, Berlin. – Lutz, Burkart; Schmidt, Gert, 1977: Industriesoziologie; in: König, René (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 8, 2. Aufl., Stuttgart, 101–262. – Minssen, Heiner, 2006: Arbeits- und Industriesoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York. – Pongratz, Hans J.; Voß, G. Günter, 2003: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin. – Popitz, Heinrich et al., 1957a: Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, zit. nach 3. Aufl. 1976, Tübingen. – Popitz, Heinrich et al., 1957b: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen. – Roethlisberger, Fritz J.; Dickson, William J., 1939: Management and the Worker, Cambridge/Mass. – Schmidt, Gert et al. (Hg.), 1982: Materialien zur Industriesoziologie; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 24, Opladen. – Womack, James P. et al., 1990: The Machine that Changed the World, New York.

Heiner Minssen

Arbeitsteilung

Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Arbeitsbegriffes bezeichnet Arbeitsteilung (engl. division of labor) weitgefasst alle Formen der funktionalen Spezifizierung und sozialen Differenzierung (zumeist: ökonomisch) zweckorientierter produzierender Tätigkeit des Menschen. Teilung der Arbeit kann zunächst unter höchst unterschiedlichen Gesichtspunkten erfolgen: Alter, Fertigkeiten und Kenntnisse, Geschlecht, Geburtsstand, Macht und Einfluss etc.

Grundsätzlich zu unterscheiden – historischkonkret freilich immer wechselseitig aufeinander bezogen – sind Formen sozialer Arbeitsteilung (Berufsdifferenzierung und soziale Spezifizierung von Arbeitsrollen) und Formen technischer Arbeitsteilung (Arbeitszerlegung, Arbeitsaufsplitterung, Arbeitszerstückelung). Auseinanderhalten lassen sich analytisch darüber hinaus drei Bezugsebenen von Arbeitsteilung: Handeln (die Prägung von Handlungskonstellationen durch Arbeitsteilung), Organisation (Arbeitsteilung als Strukturprinzip von Produktionsbetrieben und Verwaltungen) und Gesellschaft (die Bedeutung der Berufsgliederung für die soziale Struktur und Entwicklungsdynamik von Gesellschaften).

[31]Das Stichwort »internationale Arbeitsteilung« schließlich weist auf in den letzten Jahren zunehmend bedeutsame Formen der Verlagerung spez. Produktionsbereiche – insbesondere der Elektronik-, Bekleidungs- und Textilindustrie – aus den entwickelten Industriestaaten in Dritte-Welt-Länder und sog. Schwellenländer und auf die hiermit verbundenen Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftsregionen und deren Rückwirkung auf Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklungen.

Arbeitsteilung ist eine grundlegende universale Voraussetzung für die Herausbildung von Gesellschaft. Komplexe Gesellschaften sind durch differenzierte Konfigurationen der Teilung von Arbeit gekennzeichnet. Bei ökonomischer und technischfunktionaler Betrachtung wird Arbeitsteilung vor allem unter den Gesichtspunkten der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte (Produktivitätsfortschritt) und der Effizienzsteigerung thematisiert. In soziologischer Sicht ist darüber hinaus Arbeitsteilung immer auch als Ausprägung und Problem sozialer Ungleichheit (z. B. gesellschaftsspezifische Arbeitsteilung) und als Ausdruck gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse (z. B. Differenzierung von disponierender Tätigkeit und ausführender Tätigkeit) Thema.

Die große Bedeutung von Arbeitsteilung als Phänomen gesellschaftlicher Strukturierung zeigt auch das Studium der Staatsphilosophie seit der griechischen Klassik. Von Aristoteles stammt der Satz: ›Aus zwei Ärzten entsteht keine Gemeinschaft, wohl aber aus einem Arzt und einem Bauern.‹

Vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung wirtschaftlichen Handelns und der Ausweitung gewerblicher Produktion setzt im 18. Jh. mit den großen Arbeiten Adam Fergusons (1723–1816) – »Essay on the History of Civil Society« (1767) – und Adam Smiths (1723–1790) – »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (1776) – die neuzeitliche sozialtheoretische Analyse der Arbeitsteilung ein. Smith rückt die produktionsorganisatorischen Aspekte ins Zentrum (Produktionssteigerung, Arbeitszerlegung – vgl. »Stecknadelbeispiel«), während Ferguson – Durkheim vorgreifend! – Arbeitsteilung als Strukturtyp von Solidarität fasst (Berufsdifferenzierung). Arbeitsteilung ist schon früh Thema wertender und interesseorientierter Stellungnahmen und Debatten: Charles Babbage (1792–1871) beispielsweise forciert den Unternehmerstandpunkt. Er rühmt: Verringerung der notwendigen Lehrzeit des Arbeiters, Austauschbarkeit der Arbeiter, Möglichkeit der Lohnsenkung. Demgegenüber hebt schon J. B. Say (1767–1832) hervor: extreme Arbeitszerlegung für den Arbeiter, Verkümmerung von Fähigkeiten und Unfreiheit. Karl Marx (1818–1883) unterscheidet zwischen »sozialer Arbeitsteilung« – gemäß natürlicher Merkmale der Menschen (Geschlecht, Alter etc.) oder als Ergebnis der Spezialisierung von Familien und Stämmen in verschiedenen Produktionsfeldern (Basis sind ganzheitliche Handwerksberufe), deshalb bei Marx auch »naturwüchsige Arbeitsteilung« – und »manufakturmäßige Arbeitsteilung« – die Zerlegung von Arbeit im Produktionsprozess einer Organisation gemäß technischer und ökonomischer Gesichtspunkte der Vereinfachung und Profitabilität. Seine auf eine theoretische Kritik der kapitalistischen Produktionsweise begründete Entfremdungstheorie, wonach der einzelne Arbeiter infolge der sozialen Trennung von Produktionsmittelbesitz und Arbeitskraft entfremdet ist vom Produkt seiner Arbeit, vom Produktionsprozess, von seinen Mitmenschen und letztlich von der Gattung, ist Ausgangspunkt späterer soziologischer Studien und politischer Frontstellungen zu Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung.

Rapide Industrialisierung und Verstädterung, die Aktualität der sog. »sozialen Frage« und die Faszination an den arbeitsorganisatorischen Formen und den sozialen Folgen des »Fabrikwesens« provozieren Ende des 19. Jh.s Versuche, Struktur und Dynamik der »modernen« Gesellschaft über Konzepte von Arbeitsteilung auf den »Begriff« zu bringen. Gustav Schmoller (1838–1917) etwa versucht, Arbeitsteilung und ständische Ordnung konzeptionell zu verknüpfen und auch die berühmte Tönniessche (Ferdinand Tönnies, 1855–1936) Gegenüberstellung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« basiert auf Typen von Arbeitsteilung (der »natürlichen Arbeitsteilung« – Familie, Dorf – steht die marktgenerierte Arbeitsteilung, die Generalisierung kontraktuell fixierter Teilzeitarbeit gegenüber).

Der wichtigste soziologische Klassiker der Theorie der Arbeitsteilung ist fraglos Emile Durkheim (1858–1917), dessen Dissertationsschrift »La Division du Travail« eine auf Modi der Arbeitsteilung fußende These zur Entwicklung von Gesellschaft vorträgt und speziell einen strukturell-funktionalen Analyseansatz forciert. Durkheim betont die Integrationsfunktion von Arbeitsteilung speziell in komplexen [32]Gesellschaften. Komplexe Gesellschaften sind – Durkheim zufolge – über organische Solidarität (beruhend auf sozialer Konfiguration und Arbeitsteilung gleichartiger »Einheiten«) integriert. Durkheim nimmt auch wahr, dass Arbeitsteilung nicht in jedem Falle sozialintegrativ ist – es gibt ihm zufolge ungeregelte »anomische« Arbeitsteilung, insbesondere auch im Kontext der modernen Fabrikarbeit, wo Prozesse der Arbeitszerlegung nur produktionstechnischen und/oder ökonomischen Kalkülen folgen, ohne Bindung an geltende sozialintegrierende Normen und Werte.

Um die Jh.wende konzentriert sich das Interesse dann vor allem auf die forcierten, mit dem Thema »Taylorismus« (Frederick W. Taylor, 1856–1915) und mit den Stichworten »Scientific Management« und »One best Way« verbundenen Bemühungen um rationelle Arbeitsgestaltung. »Taylorismus« und »Fordismus« (Fließbandfertigung) werden Signate für Formen extremer Arbeitszerlegung und für Rationalisierungsstrategien der Anpassung des Menschen an die Maschine bzw. an den funktional-technisch optimalen Prozess. Die betriebliche Politik der Arbeitsteilung und der Arbeitszerlegung wurde in den 20er und 30er Jahren mit Berücksichtigung des »Human Factors« und des »Group Factors« (Elton Mayo, F. Roethlisberger u. a.) auf eine theoretisch breitere Grundlage gestellt. Die Kennzeichnung der modernen Industriearbeit als »anomisch« war zumindest nicht hinreichend: Auch auf Basis extrem arbeitsteiliger Strukturen bilden sich Formen sozialer Integration – nicht zuletzt als Ausdruck kollektiver Opposition – heraus (sog. informelle Gruppen). Georges Friedmann, Alain Touraine, Robert Blauner, Heinrich Popitz und andere haben die Wirklichkeit der modernen Industriearbeit in ihren extrem arbeitsteiligen und entfremdeten Formen und speziell bezüglich der Herausbildung technikvermittelter Arbeitsformen und Kooperationsstrukturen analysiert.

Mit Blick auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird deutlich, dass Technisierung und organisatorische Systemisierung von Produktionsprozessen hinsichtlich Arbeitskrafteinsatz und Gestaltung betrieblicher Arbeitsteilung höchst unterschiedlich umgesetzt werden. Neben der Einführung neuer »negativer« Formen von Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung wird in einigen Industriezweigen eine »arbeitspolitische Wende« hin zu stärker »ganzheitlicher« Nutzung von Arbeitskraft erkennbar (Stichwort: »Neue Produktionskonzepte« – Kern/Schumann 1984 – zur daran anknüpfenden Fachdebatte siehe Malsch/Seltz 1987 und Springer 1999).

Literatur

Kern, Horst; Schumann, Michael, 1984: Das Ende der Arbeitsteilung? München. – Malsch, Thomas; Seltz, Rüdiger (Hg.), 1987: Die neuen Produktionskonzepte auf dem Prüfstand, Berlin. – Springer, Roland, 1999: Rückkehr des Taylorismus? Frankfurt a. M.

Gert Schmidt

Arbeitswissenschaft

Arbeitswissenschaft (engl. ergonomics) kann definiert werden als die Analyse und Gestaltung der technischen, organisatorischen, psycho-sozialen und medizinischen Bedingungen von Arbeitsprozessen. Verbunden wird damit das Ziel, dass die Arbeitenden in effizienten Arbeitsprozessen a) ausführbare und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen vorfinden, b) Standards sozialer Angemessenheit erfüllt sehen, c) Handlungsspielräume entfalten und in Kooperation mit anderen ihre Persönlichkeit entwickeln können (Schlick et al., 7). Die International Ergonomics Association (IEA) hat 2000 die folgende Definition verabschiedet: »Ergonomics (or human factors) is the scientific discipline concerned with the understanding of interactions among humans and other elements of a system, and the profession that applies theory, principles, data and methods to design in order to optimize human wellbeing and overall system performance«.

Die Anfänge einer systematischen Arbeitswissenschaft finden sich 1857 bei Jastrzebowki. Erste Studien und Institutsgründungen erfolgten seit Anfang des 20. Jh.s in einigen Ländern Europas und in Nordamerika. Weitreichende Institutionalisierungen des Fachs in Form der Einrichtung von Lehrstühlen und der Gründung wissenschaftlicher Vereinigungen setzen jedoch erst zu Beginn der 1950er Jahre ein. Sie wurden 1959 unter dem Dach der IEA zusammengefasst.

Forschung und institutionelle Verortung dieses interdisziplinären Fachs haben heute drei primäre Ausrichtungen: a) Physische Ergonomie befasst sich mit anatomischen, anthropometrischen, physiologischen [33]und biomechanischen Eigenschaften der körperlichen Aktivität. Themen sind u. a.: Arbeitsplatzund Maschinengestaltungen, Arbeitsumgebung wie Lärm, Strahlungen, Temperatur, etc. Körperbewegung, Kommunikation und Pausenregelungen (Kumar, Osborne). b) Die kognitive Ergonomie untersucht mentale Prozesse, wie Wahrnehmung, Denken, Bewegungsreaktionen etc. im Zusammenhang mit Interaktionen zwischen Menschen und anderen Elementen von Systemen. Themen sind u. a.: psychische Arbeitsbelastung und Stress, Entscheidungsfindung, Geschicklichkeitsleistung, Mensch-Computer-Interaktion (Kirlik). c) Organisatorische Ergonomie beschäftigt sich mit der Optimierung von soziotechnischen Systemen, einschließlich ihrer organisatorischen Strukturen, Verfahrensweisen und Prozesse. Themen sind u. a. Kommunikation, Projekt-, Team-, Gruppenarbeit, Partizipation, Vertrauen und Kontrolle, Arbeitszeitgestaltung, virtuelle Organisationen oder Qualitätsmanagement (O’Neill).

Konzepte

Unter den Leitkonzepten der Arbeitswissenschaft finden drei hervorgehobene Beachtung: das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept und Stresstheorien in der eher ingenieurs- bzw. in der humanwissenschaftlich ausgerichteten Mikroergonomie sowie Konzepte der Makroergonomie, die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Ursprünge haben.

In den 1970er Jahren entwickelte Rohmert ein Belastungs-Beanspruchungs-Konzept. Kausalanalytisch werden hier äußere Arbeitsbedingungen (Belastungen) mit menschlichen Reaktionen (Beanspruchungen) verbunden und inter- und intraindividuelle Varianzen von Arbeitspersonen berücksichtigt. Belastungen werden in diesem arbeitsphysiologischen Modell als objektive Faktoren der Bewirkung subjektiver Beanspruchungen angesehen und über den Umweg der Bewertung von Beanspruchungen gemessen. In einigen Teilbereichen energetischer, körperlicher Arbeit und insbesondere bei der Wirkung von Strahlung oder Gefahrenstoffen konnten gesetzesmäßige Zusammenhänge von Belastung und Beanspruchung aufgedeckt werden. Insgesamt ließen sich jedoch nur für einige Formen körperlicher Arbeit exakte Zusammenhänge nachweisen. Einerseits lassen sich verschiedene Teilbeanspruchungen nur schwer zu Gesamtbeanspruchungen zusammenfassen, so gehen v. a. psychische Arbeitsbelastungen nur unzureichend in solche Modelle ein. Zudem tragen etwa Geschlechterdifferenzen, ethnische Faktoren, Klasse und Beruf und der säkulare Trend der körperlichen Akzelleration von Kohorte zu Kohorte zur ›human diversity‹ bei (zur Synopse anthropometrischer Daten und zur ›human diversity‹ siehe Pheasant). Allgemein kam es in den letzten Jahrzehnten in fortgeschrittenen Gesellschaften zu einer Bedeutungsverringerung physischer Arbeitsbelastungen und zu einer Bedeutungssteigerung psychischer Arbeitsbelastungen (Salvendy).

Ein zweites zentrales Leitkonzept ist im Kontext der Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin der Stressbegriff. Als Stressbedingungen gelten Regulationshindernisse, -überforderungen und -unsicherheiten. Arbeitsmedizinische Studien haben Stress als wichtigen Gesundheitsfaktor belegt (Cox et al.). Zentral für das Stresskonzept ist, dass die Wirkung der Stressbedingungen durch personale und intersubjektive Ressourcen, etwa durch Netzwerke sozialer Unterstützung sowie den Grad der Handlungskontrolle, etwa durch Autonomie und Handlungsspielräume am Arbeitsplatz gemindert werden kann. In der Arbeitspsychologie, die Arbeit als bewusste, zielgerichtete Tätigkeit begreift, wird der zugewiesene Handlungsspielraum als eine zentrale Gestaltungsgröße menschengerechter Arbeit angesehen. Für diese subjektvermittelte Konzeptionalisierung von psychischen Arbeitsbelastungen spricht, dass sich neben negativen Stressfolgen auch positive Effekte von Stress (Eustress) feststellen lassen. Eine alternde Bevölkerung stellt Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin vor neue Aufgaben. Die Psychophysiologie des Alterns wird wichtiger mit Untersuchungen von Lernen, Gedächtnis, Wahrnehmung, Bewegungskontrolle, Anthropometrie, Biomechanik, Sprache und Kommunikation über den Lebensverlauf einschließlich der Möglichkeiten einer Pharmakologie des Verhaltens (Fisk/ Rogers). Zudem spielt die Kognitionsforschung in Verbindung von Psychologie und Medizin gegenwärtig eine besondere Rolle für Erwartungen an eine Verbesserung der Lebensqualität von Arbeit (Hancock).

Auch die Makroergonomie (Organisatorische Ergonomie) gewinnt in Folge der Veränderungen der Arbeitswelt an Bedeutung (O’Neill; Hendrick, Kleiner). Hier werden Technik, Organisationen, Arbeitsgruppen und Individuen als Subsysteme im Wechselspiel untereinander und mit ihrer Umwelt betrachtet. Das deterministische Weltbild einseitiger [34]kausaler Wirkungen ist aufgegeben. Stattdessen gelten technische, psychosoziale, organisatorische Komponenten und Umwelt als interdependent, sie können nur gemeinsam optimiert werden. In Abhängigkeit von der Wandlungsgeschwindigkeit und der Komplexität der Umwelt der Organisation bewähren sich unterschiedliche Organisationstypen. Der Maschine-Bürokratie-Typ zeichnet sich durch hohe Arbeitsteilung, Hierarchisierung und Formalisierung aus. Die Effizienz-, Kontroll- und Stabilitätsvorteile dieses Typs gleichen die mangelnde intrinsische Motivation der Beschäftigten aus, wenn eine überwiegend gering qualifizierte Arbeiterschaft routinisierte Systemoperationen in einer stabilen einfachen Umwelt zu vollziehen hat. Steigende Qualifikationsniveaus der Beschäftigten und komplexere, dynamischere Umwelten haben jedoch zu einer wachsenden Bedeutung von professionellen Bürokratie-Typen und zu verschiedenen Formen des Adhocracy-Typs geführt. Letztere sind durch geringere Formalisierung sowie durch projekt- und problembezogene Dezentralisierungen gekennzeichnet. Den Vorteilen einer schnellen, effizienten und kreativen Reaktion auf dynamische Umwelten stehen Nachteile in Form von aus mehrdeutigen Verantwortlichkeiten resultierenden Konflikten, sozialem und psychischem Stress und sich aus geringerer Routinisierung ergebender Ineffizienz entgegen.

Die Arbeitswissenschaft ist konsequent anwendungsorientiert und interdisziplinär. Unter ihren Bezugswissenschaften spielt die Soziologie eine geringe Rolle, obwohl z. B. Max Weber mit seinen Studien zur Psychophysik der industriellen Arbeit früh Schnittstellen zwischen der Soziologie und der Arbeitswissenschaft hergestellt hat und obwohl es eine lange Tradition arbeits- und industriesoziologischer Forschung gibt. Die mit den heutigen Veränderungen der Arbeitswelt einhergehende, steigende Bedeutung der Makroergonomie bietet von der Problemstellung her erneut Anknüpfungspunkte für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Soziologie und Arbeitswissenschaft, insbesondere im Bereich der Industrie- und Organisationssoziologie.

Literatur

Cox, Tom et al., 2000: Research on work-related stress. European Agency for Safety and Health at Work, Luxembourg. – Fisk, Arthur D.; Rogers, Wendy A. (Eds.), 1997: Handbook of Human Factors and the Older Adult, San Diego. – Hancock, Peter A. (Ed.), 1999: Human Performance and Ergonomics, San Diego. – Hendrick, Hal W.; Kleiner, Brian M. (Eds.), 2002: Macroergonomics: Theory, Methods, and Applications, Mahwah. – International Ergonomics Association (IEA), 2000: What is Ergonomics? – Kirlik, Alex (Ed.), 2006: Adaptive perspectives on human-technology interaction: Methods and models for human-computer interaction and cognitive engineering, New York/Oxford. – Kumar, Shrawan (Ed.), 1999: Biomechanics in Ergonomics, London. – Osborne, David (Ed.), 1995: Ergonomics and Human Factors, 2 Vol., Aldershot. – O’Neill, Michael, 1998: Ergonomic Design for Organizational Effectiveness, New York. – Pheasant, Stephen, 1986: Bodyspace, London. – Rohmert, Walter, 1973: Psychische Beanspruchung; in: Schmidtke, Heinz (Hg.): Ergonomie, Bd. 1, München. – Salvendy, Gavriel (Ed.), 2006: Handbook of Human Factors and Ergonomics, 3rd ed., New York. – Schlick, Christopher et al. (Hg.), 2010: Arbeitswissenschaft, Berlin/Heidelberg. – Weber, Max, 1998: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, Tübingen.

Reinhold Sackmann/Olaf Struck/Ansgar Weymann

Architektursoziologie

Gegenstand der Architektursoziologie (engl. sociology of architecture) ist das Gebaute, sind die architektonischen Artefakte in ihrem Bezug zu den Akteuren (deren Aktionen und Interaktionen) respektive zur Gesellschaft insgesamt (mit all ihren Teilsystemen und Institutionen). Darin eingebettet ist als weiteres Thema die Profession der Architekten.

Es handelt sich um eine junge Disziplin der Soziologie, die auf impliziten Klassikern aufbauen kann, sich aber vor allem aus neuen Theorieentwicklungen der Kultur- und Sozialwissenschaft speist: der Hinwendung zu Körper, Artefakten, Symbolischem, Affekten, Kreativem, zum Raum. Diese Architektursoziologie ist gesellschaftstheoretisch und diagnostisch angelegt sowie auf die interdisziplinäre Arbeit (v. a. mit der Architektur) angewiesen. Explizit kommt sie bisher vornehmlich aus dem deutschsprachigen Raum. Anders als die Stadtsoziologie geht sie davon aus, dass die Gesellschaft basal im Medium der architektonischen Artefakte zu beschreiben ist; anders als die Soziologie des Wohnens ist sie gesellschaftstheoretisch interessiert und umfasst alle Bautypen bis hin zur Infrastruktur (Verkehrsarchitektur, Kanalisierung); mit der Raumsoziologie hat sie Überschneidungen, wo diese sich den materialisierten Räumen widmet; mit der Artefaktsoziologie teilt sie[35] das Interesse für die Verschränkung von Artefakten und Akteuren. Anders als die Techniksoziologie berücksichtigt sie die Expressivität der Artefakte.

Entwicklung von Architektur und Gesellschaft

Die Entwicklung der Architektur ist so alt wie die Kultur – versteht man darunter auch alle nicht von Architekten entworfenen Gebäude, auch die gewebten und genähten Architekturen nichturbaner Gesellschaften. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ist es die Architektur, die in ihrer professionellen Kreativität stets neue Lebenswelten und zugleich bleibende Gestalten der Gesellschaft schafft.

Entwicklung der Architektursoziologie

Seit Gründung der Soziologie gibt es implizite architektursoziologische Klassiker, insbesondere französische (u. a. Mauss, Halbwachs, Maunier, Tarde, Foucault, Augé, Bourdieu, Lefebvre) und deutsche (u. a. Simmel, Krakauer, Benjamin, Elias). Sie lassen sich danach sortieren, ob sie die Architektur als bloßen Ausdruck der Gesellschaft verstehen oder ihr eine aktive Funktion in der Vergesellschaftung zusprechen. Wegen der Gegenstandsbestimmung der Allgemeinen Soziologie, die das Soziale als Interaktion intentional Handelnder oder als ›Kollektivbewusstsein‹ fasste, blieb die Thematisierung der Architektur insgesamt aber marginal. Erst in den 1970er Jahren etablierte sich eine explizite Beobachtung in einer kapitalismuskritischen oder aber sich an der Planung beteiligenden Architektursoziologie. Die neue Soziologie der Architektur (seit etwa 2000) ist demgegenüber grundlegend gesellschaftstheoretisch und -diagnostisch interessiert, offen für verschiedene Perspektiven.

Forschungsstand

Die neue Architektursoziologie wird u. a. von der ANT, der Philosophischen Anthropologie, der Praxeologischen Theorie, vom Poststrukturalismus aus entfaltet. Angesichts der faktischen Untrennbarkeit von Architektur und Sozialem hält sie die ganze Komplexität der Architektur im Blick (vom Entwurf bis zur Destruktion, vom Einzelhaus bis zur übergreifenden Struktur, von der Fassade über den Grundriss bis zu Baurecht, Eigentumsfragen, Finanzierung, von Interaktions-, Struktur- bis zu Symbolperspektiven, diagnostisch historisch-genetisch arbeitend oder auf aktuelle Entwicklungen konzentriert). Auch die methodische Annäherung ist entsprechend vielfältig (von Diskursanalysen bis zu ethnografischen Methoden).

Literatur

Champy, Florent, 2001: Sociologie de l’architecture, Paris. – Delitz, Heike, 2009: Architektursoziologie, Bielefeld. – Fischer, Joachim; Delitz, Heike (Hg.), 2009: Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld. – Jones, Paul, 2011: The Sociology of Architecture: Constructing Identities, Liverpool. – Schäfers, Bernhard, 2006: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, 2. Aufl., Opladen. – Trebsche, Peter et al. (Hg.), 2010: Der gebaute Raum. Bausteine einer Soziologie vormoderner Architekturen, Münster.

Heike Delitz

Aristokratie

Aristokratie (engl. aristocracy; aus dem Griechischen: Herrschaft der Besten) bezeichnet eine Herrschaftsform, wird aber auch synonym für die Gruppe der Edelleute, insbesondere des Hochadels, verwendet. Die Aristokratie beruht in der griechischen Staatslehre (Platon, Aristoteles, Polybios) auf der Führung durch eine auf Grund von Tugend und Verdiensten ausgezeichnete Gruppe. Sie unterscheidet sich von der Oligarchie durch die Orientierung am Gemeinwohl. In der Geschichte lassen sich Ritteraristokratien, Priesteraristokratien und Plutokratien differenzieren. Gesellschaften durchlaufen meist eine Phase der Aristokratie mit Ausnahme jener, die despotische Herrschaftsformen ausbilden (z. B. Osmanenreich). Da die Aristokratie auf Grund von internen Kämpfen keine stabile Herrschaftsform darstellt, geht sie früher oder später in Monarchie oder Demokratie über, wobei in beiden Fällen aristokratische Strukturelemente erhalten bleiben können.

Als Stand entwickelte sich die Aristokratie in Europa erst im Zuge der Stärkung der zentralen Gewalt der Krone ab dem Hochmittelalter; davor waren die Vorrechte des Adels nicht generell erblich und auch nicht formell geregelt. Voraussetzungen der Anerkennung als adelig waren ein Vermögen aus Grundherrschaft und der über Generationen hinweg nachgewiesene [36]Status des Freien (Edelfreie). Der Adelsbrief enthielt die Genehmigung zum Ritterschlag, die Standesvertretung gegenüber der Krone und die Vorrechte des Adels, d. h. die Ehrenvorrechte (Adelsprädikate, Insignien etc.), rechtliche Privilegien, politische Rechte (auf bestimmte Ämter oder Ränge) und wirtschaftliche Vorrechte (Grunderwerb, Steuerbefreiungen, Jagdrechte etc.).

Die Aristokraten stellten eine gesellschaftliche Elite dar, die sich durch ihre Werthaltung und Lebensweise von der Masse des Volkes abhob, sich auf die ehrenvolle Abstammung ihrer Familie berief und daher auf Grund des »Blutes« bzw. der Geburt eine hohe Stellung beanspruchte. Grundprinzipien der Aristokratie sind die Ausschließung durch »connubium« und die interne soziale Kontrolle über Lebensweise und Handlungen der Mitglieder sowie die Kontrolle über den Zugang zum Adel. Immer aber kam es auch zu einer gewissen sozialen Mobilität durch den Aufstieg von Personen aus dem Volk auf Grund von Verdiensten bzw. durch Reichtum. Im 18. Jh. nahmen die Nobilitierungen von Bürgerlichen und der Ämterkauf zu, weshalb sich der alte Schwertadel von diesem Amtsadel stärker abzugrenzen suchte.

Der Adel weist eine interne Hierarchie zwischen dem Hochadel und den niederen Rängen auf. Zwischen Letzteren und dem Bürgertum bestanden oft kaum Unterschiede der Lebensweise, und der Übergang war, wie etwa bei der englischen »gentry«, fließend. Meist konnten die Adeligen aber von einem ererbten Vermögen, vorzugsweise an Grund und Boden, leben, ohne nicht ihrem Ansehen entsprechende Tätigkeiten ausüben zu müssen. Besondere Betätigungsfelder des Adels waren der Krieg, der hohe Staatsdienst, hohe kirchliche Ämter und das Mäzenatentum in Kunst und Kultur. Der auf Grund von Eheschließungen zwischen den Herrscherhäusern und Grundbesitz sowie Herrschaftsrechten in verschiedenen Regionen Europas stark internationale Charakter des Hochadels und seine Werte und Lebensstile sowie die »höfisch-aristokratische Kultur« prägten den europäischen Zivilisationsprozess (Elias).

Mit der Französischen Revolution kam es in Frankreich vorübergehend zur Abschaffung des Adels, dann zum napoleonischen Neuadel und schließlich zur Restauration. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Vorrechte des Adels in allen Ländern Europas, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, abgeschafft; die Aristokraten wurden einfache Staatsbürger, sozial und kulturell werden sie aber auch heute noch in der Öffentlichkeit als eine besondere Gruppe mit eigenem Lebensstil wahrgenommen.

Die Adeligen selbst sind sich einerseits ihrer Tradition bewusst, müssen sich andererseits aber der modernen Welt in Bezug auf Werte, Lebensformen und berufliche Tätigkeiten öffnen. Der aristokratische Habitus umfasst daher Strategien zur Reproduktion des sozialen und symbolischen Kapitals und seiner Rekonversion in ökonomisches und Bildungskapital (Bourdieu; Saint Martin). Noch immer ist auch die interne soziale Kontrolle in Bezug auf standesgemäßes Verhalten, Ehre und Würde der Familie relativ stark wirksam. Sie stellen daher in gewisser Weise einen »verborgenen Stand« dar, dessen Werte und Normen eine Art Gegenwelt konstituieren (Walterskirchen). Da der Adel noch über einen beträchtlichen Grundbesitz verfügt, ist er auch von wirtschaftlicher Bedeutung.

Als Herrschaftsform wird der Begriff der Aristokratie zur Kennzeichnung von neuen Elitebildungen auch in demokratischen Gesellschaften (»labor aristocracy«, »Finanzaristokratie«) oder von überstaatlichen Eliten verwendet. Eine Elite als Aristokratie zu bezeichnen, betont das Bestehen einer starken sozialen Distanz in der Gesellschaft sowie die Wirkung eines Gruppencharismas und die Kontrolle über die gemeinsamen Werte und Lebensweisen der Gruppe.

Literatur

Beck, Hans et al. (Hg.), 2008: Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ›edler‹ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München. – Bourdieu, Pierre, 2004: Der Staatsadel, Konstanz. – Conze, Eckart; Wienfort, Monika (Hg.), 2004: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien. – Demel, Walter, 2005: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München. – Elias, Norbert, 1969: Die höfische Gesellschaft, Darmstadt/Neuwied. – Roscher, Wilhelm, 1933: Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Leipzig, 57 ff. – Saint Martin, Monique de, 2003: Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz. – Simmel, Georg, 1908: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin, 545 ff. – Walterskirchen, Gudula, 2010: Adel in Österreich heute. Der verborgene Stand, Innsbruck/Wien.

Gertraude Mikl-Horke

[37]Armut und Reichtum

Armut (engl. poverty) und Reichtum (engl. wealth) sind extreme Erscheinungsformen sozialer Ungleichheiten, deren Bestimmung immer von normativen Wertungen abhängt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Erscheinungen des Mangels oder des Überflusses als Armut bzw. Reichtum hängt dabei vom historischen, regionalen und sozialpolitischen Kontext ab. In modernen Gesellschaften ist der Begriff der Armut eng verbunden mit der Idee einer sozialstaatlich garantierten Mindestsicherung: Er verweist auf eine Schwelle, unterhalb derer Menschen nicht mehr in sozialer Würde leben können. Mit der Feststellung von Armut ist daher ein sozialpolitischer Handlungsimperativ verbunden: Armut ist zu bekämpfen. Wo jedoch diese Armutsschwelle liegt und wie sie abgeleitet werden kann, ist umstritten und bedarf grundsätzlicher normativer Entscheidungen. Von daher existiert eine Vielzahl an Armutskonzepten.

Noch stärker hängt die Bestimmung von Reichtum von normativen bzw. konventionellen Abgrenzungen ab. Im Unterschied zu Armut provoziert die Feststellung der Existenz von Reichtum keinen unmittelbaren sozialpolitischen Handlungsbedarf: Reichtum ist nicht prinzipiell verwerflich. Offenbar beziehen sich Armut und Reichtum aber auf ein gemeinsames normatives Koordinatensystem der Bewertung (extremer) sozialer Ungleichheit.

Armutsberichterstattung: Zwischen Sozialpolitik und Armutsforschung

Eine zentrale Rolle für die Verbreitung von Armutskonzepten spielt die Armutsberichterstattung, d. h. das regelmäßige Monitoring der Entwicklung und Strukturen von Armut (vgl. BMAS 2001, 2005, 2008). Aufgrund des normativen Charakters von Armutskonzepten werden in Armutsberichten in der Regel verschiedene Armutskonzepte bzw. Armutsindikatoren zu Grunde gelegt und auf dieser Basis untersucht, wie sich Armut im Zeitverlauf entwickelt, wie Armutsrisiken bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verteilt sind oder nach Regionen und Ländern variieren. Während das Niveau der Armut stark vom verwendeten Armutskonzept abhängt, liefert der Vergleich über die Zeit oder zwischen Gruppen und Ländern belastbare Informationen, die etwa zur Bewertung sozialpolitischer Maßnahmen der Armutsbekämpfung genutzt werden können.

Armutsberichte gibt es auf kommunaler, Länderund nationaler Ebene sowie darüber hinaus auf suprastaatlicher (EU, OECD) und globaler Ebene (z. B. Weltbank). Die Armutsberichterstattung steht dabei im Schnitt- und Spannungsfeld zwischen einer sozialpolitisch eingebundenen Berichterstattung und der wissenschaftlichen Armutsforschung. Die wissenschaftliche Armutsforschung reicht in ihren Zielsetzungen und Erkenntnisinteressen über die Berichterstattung hinaus, indem sie sich intensiver mit den methodischen und theoretischen Aspekten der Armutsmessung beschäftigt und Armut im Kontext von ökonomischen und sozialen Ungleichheiten sowie gesellschaftlichen Entwicklungen analysiert.

Armutskonzepte

Viele Sozialstaaten verpflichten sich selbst dazu, ein »Existenzminimum« zu gewähren, das als eine politisch definierte Armutsschwelle interpretiert werden kann (zur Übersicht von Armutskonzepten vgl. Andreß 1999; Groh-Samberg 2008; Groh-Samberg/ Voges 2013). Dabei unterscheidet man zwischen Personen, die Mindestsicherungen beziehen (»bekämpfte Armut«) und Personen, die zwar Anspruch darauf haben, faktisch aber keine Leistungen beziehen (»verdeckte Armut«). Bei der Verwendung politisch definierter Armut tritt jedoch eine Paradoxie auf: So führte eine Herabsetzung der Bedürftigkeitsschwelle zu einer Reduktion der Armut, während umgekehrt eine Heraufsetzung von Mindeststandards eine wachsende Zahl von Armen mit sich bringt. Ebenso ist umstritten, inwiefern der Bezug von Mindestsicherungen, die ja die Bezieher/innen über die politisch definierte Armutsschwelle heben sollen, als Armut zu bezeichnen ist (daher der Ausdruck »bekämpfte Armut«).

Faktisch greift auch die Sozialpolitik bei der Bestimmung von Armut auf wissenschaftliche Verfahren zurück. Das traditionelle sozialpolitische Modell besteht in einer durch Experten vorgenommenen Festlegung von Mindestbedarfen an Ernährung, Kleidung, Obdach etc., die in entsprechende Warenkörbe umgesetzt und auf Basis gängiger Marktpreise in monetäre Armutsschwellen umgerechnet werden (sog. Warenkorbmodell). Der Schwellenwert zur Bestimmung von Armut kann reichen von der Festlegung eines physischen Existenzminimums [38]bis hin zu einem darüber hinausgehenden »sozio-kulturellen Existenzminimum«, das am Wohlstandsniveau der Gesellschaft oder unterer Einkommensgruppen orientiert ist. Bei einem Schwellenwert, der die unmittelbare Bedrohung der physischen Existenz durch Hungern oder Erfrieren zum Kriterium erhebt, wird häufig von absoluter Armut gesprochen. Dahinter stand lange Zeit die Vorstellung, dass es ein zeit- und raumunabhängiges physiologisch bestimmbares Existenzminimum gibt; heute weiß man, dass dies unmöglich ist, da körperliche Mangelerscheinungen infolge von Armut in vielen graduellen Abstufungen vorkommen.

Bei einem relativen Verständnis von Armut tritt die Relation zum Wohlstand aller Gesellschaftsmitglieder in den Vordergrund – Armut wird hier grundsätzlich als relativ zu konkreten Gesellschaften in historischer Zeit gedacht. Am bekanntesten und verbreitetsten ist das Konzept der relativen Einkommensarmut. Als arm gelten hier Personen, deren bedarfsgewichtetes verfügbares Einkommen unterhalb eines bestimmten Prozentanteils des Durchschnittseinkommens aller Personen liegt. Für die Festlegung einer relativen Einkommensarmutsgrenze gibt es kaum schlüssige theoretische oder inhaltliche Argumente, sondern nur politische Übereinkünfte. Nach den EU-Empfehlungen von Laeken 2001 wird ein Schwellenwert von 60 % des Median-Einkommens als Indikator für Armutsgefährdung verwendet.

Einkommensarmutsschwellen lassen sich auch anhand repräsentativer Bevölkerungsumfragen zum notwendigen Mindesteinkommen bzw. zur Bewertung von Einkommenspositionen bestimmen (subjektive Einkommensarmut). Die Armutsgrenze wird an dem Punkt festgelegt, wo sich das tatsächliche Einkommen und die berichteten Mindesteinkommen entsprechen (in der Regel liegt sie für Alleinstehende über dem Wert von 60 % des Medianeinkommens).

Einkommen und Lebenslage: Zur Definition von Armut

Einkommensbasierte Armutskonzepte sind nach wie vor am stärksten verbreitet, jedoch auch der Kritik ausgesetzt. So werden die tatsächlich verfügbaren monetären Ressourcen häufig nur unzureichend erfasst, weil etwa Vermögenswerte und Verschuldung meist ausgeblendet bleiben und auch die Messung von laufenden Einkommen nie fehlerfrei gelingt. Ungeachtet der dominanten Bedeutung monetärer Ressourcen lässt sich nicht umstandslos vom Einkommen auf den Lebensstandard schließen, weil eine Vielzahl vermittelnder Faktoren (soziale Netzwerke und Unterstützung, Eigenproduktion, Haushaltsausstattung, Sonderbedarfe aufgrund von Krankheiten und Behinderungen, Verwendungsweise der Ressourcen, Zeit) unberücksichtigt bleiben.

Aus diesen Gründen wird statt von relativer Einkommensarmut vielmehr von Armutsgefährdung (at-risk-of-poverty) gesprochen. Nach einer (ursprünglich von Peter Townsend vorgeschlagenen) Definition des EU-Ministerrates sind diejenigen Personen als arm zu bezeichnen, »die über so geringe (materielle, soziale und kulturelle) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.« (BMAS 2001: XIV) Armut wird also verstanden als ein durch Ressourcenmangel (im Unterschied etwa zu Krankheit oder Lebensstilpräferenzen) verursachter Ausschluss vom minimalen Lebensstandard. Ressourcenmangel oder ein nicht mehr akzeptabler Lebensstandard allein erfüllen also noch nicht den Tatbestand der Armut: beides muss gleichzeitig vorliegen, und zwar als Kausalzusammenhang.

Vor diesem Hintergrund werden ressourcenbasierte Armutskonzepte auch als indirekte Armutsmessungen bezeichnet. Der Deprivations- oder Lebensstandardansatz versucht demgegenüber, diese Armutsdefinition empirisch direkter umzusetzen. Anhand repräsentativer Umfragen, welche Güter oder Aktivitäten von der Bevölkerung als lebensnotwendig eingeschätzt werden, wird ein minimaler Lebensstandard direkt zu bestimmen versucht und gleichzeitig erfragt, ob sich die Befragten Elemente dieses Lebensstandards aus finanziellen Gründen nicht leisten können (vgl. Andreß 1999).

Im Unterschied zum Lebensstandardansatz versucht der Lebenslagenansatz, die unterschiedlichen Lebenslagen – Einkommen, Konsum, Wohnen, Bildung, Gesundheit, Arbeit etc. – umfassender zu dokumentieren, also auch nicht finanziell bedingte Einschränkungen – z. B. Arbeitslosigkeit oder fehlende Bildungsabschlüsse – zu erfassen. Damit werden der Sozialpolitik einerseits konkretere Informationen über eventuelle Mangellagen bereitgestellt, wobei für die ausgewählten Lebenslagenbereiche jeweils Unterversorgungsschwellen definiert werden[39] müssen. Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, diese vielfältigen Informationen in die eine Bestimmung von Armut vs. Nicht-Armut zu überführen.

Armutsdynamik

Eine tiefgreifende Wendung erfuhr die Beschäftigung mit Armut durch die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension, also der Dauer von Armutsepisoden und der individuellen Armutsgeschichten (vgl. Leibfried et al. 1995). Implizit denken wir bei Armut an ein dauerhaftes Phänomen: Ressourcenmangel wird erst dann zum Ausschluss von einer minimal akzeptablen Lebensweise und zu nachhaltigen Folgen für die Lebenschancen führen, wenn dieser Mangel von Dauer ist. Andererseits zeigt die empirische Längsschnittanalyse von Armut, dass Armutsepisoden häufig nur von kurzer Dauer sind (etwa weniger als ein Jahr). Häufig sind aber auch wiederholte und/oder mehrjährige Armutsepisoden, wobei diese Haushalte auch in den Jahren der »Nicht-Armut« kaum über prekäre Lagen hinausgelangen. Damit wird bereits deutlich, dass der Einbezug der zeitlichen Dimension die Abgrenzung von Armut vs. Nicht-Armut noch einmal komplizierter macht, weil neben der »Stärke« (z. B. 40 %-Schwelle vs. 60 %-Schwelle) auch die Dauer bzw. das zeitliche Muster von Armut entscheidend ist. Die damit einhergehenden Herausforderungen sind in der Armutsberichterstattung noch nicht eingelöst worden. Die dynamische Betrachtungsweise hat vorrangig in der wissenschaftlichen Armutsforschung große Bedeutung erlangt. Sie ermöglicht etwa die genauere Analyse der Ursachen, die in Armut hineinführen, aber auch wieder aus der Armut herausführen können, und generell die Analyse von Mustern der Armutsbetroffenheit über den Lebenslauf hinweg.

Armutsentwicklung und Armutsrisikogruppen

Die Armutsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland weist einen langfristigen U-förmigen Verlauf auf: Nach einem steilen Absinken der Nachkriegsarmut durchlaufen die Armutsquoten in den 70er Jahren ihre Talsohle, um seit Ende der 1970er Jahre allmählich und relativ kontinuierlich – dabei dem stufenförmigen Anstieg der Arbeitslosigkeit folgend – wieder anzusteigen. Insbesondere seit der Jahrtausendwende hat sich dieser Trend deutlich beschleunigt: die Armut wächst in diesem Zeitraum in Deutschland schneller als in allen anderen OECD-Ländern. Dabei nehmen nicht nur die Armutsquoten zu, sondern auch die Dauer der Armutsepisoden. Die Armut verfestigt sich zunehmend (vgl. Groh-Samberg 2008).

Nach wie vor ist das Armutsrisiko sozialstrukturell ungleich verteilt, mit besonders hohen Armutsrisiken bei Personen aus den Arbeiterschichten, gering Qualifizierten, Alleinerziehenden, kinderreichen Familien und Personen mit Migrationshintergrund – entsprechend kumuliert das Armutsrisiko bei Überlappung dieser Merkmale. Besonders betroffen vom Anstieg der Armut sind Personen aus Ostdeutschland und mit Migrationshintergrund sowie Alleinerziehende. Ebenfalls zugenommen hat die Armut in Erwerbstätigkeit (working poor).

Armut und soziale Ungleichheit

Die wissenschaftliche Armutsforschung befasst sich nicht nur intensiver mit den theoretischen Grundlagen und methodischen Problemen verschiedener Armutskonzepte, sondern analysiert auch die Erscheinungsformen und Entwicklungen der Armut in einer breiteren sozialwissenschaftlichen Perspektive. Hier geht es etwa um die Bewältigungsstrategien und Erfahrungsweisen von Armut, um eine stadt- und ungleichheitssoziologische Verortung von Armut im Sinne einer sozialen Exklusion oder underclass, um Fragen der sozialen Spaltung und ihrer Gefährdung politischer Demokratie, um den Einbezug von Prekarität und Unsicherheit und um die langfristigen Folgen von Armut im Lebenslauf, etwa in Bezug auf Bildung oder Gesundheit, kurz: um die individuellen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Armut (vgl. Kronauer 2010).

Reichtum

Die Abgrenzung von Armut als einem untersten Bereich sozialer Ungleichheit, der soziapolitisch nicht tolerierbar und daher zu bekämpfen ist, steht unmittelbar im Kontext von sozialstaatlichen Institutionen der Sicherung eines minimalen Lebensstandards. Für die Abgrenzung von Reichtum am entgegengesetzten Ende der sozialen Ungleichheit findet sich dazu kein Pendant: es gibt keine Schwelle, ab der Reichtum nicht mehr »tolerierbar« ist, und keine sozialpolitische Institution, die eine solche Idee der Deckelung des Reichtums legitimieren[40] könnte (abgesehen vielleicht von der Bemessungsgrundlage in der Sozialversicherung); und es fehlt auch ein Pendant zur »absoluten« Schwelle des Todes. Dass Reichtum trotzdem Eingang in die Armuts- und Reichtumsberichterstattung gehalten hat, lässt sich gleichwohl mit Verweis auf das sozialpolitische Motiv des sozialen Ausgleichs und der Reduktion (übermäßiger) sozialer Ungleichheit begründen. Diese Verallgemeinerung ist im Kontext relativer Armutskonzepte insofern methodisch konsequent, als dass eine Zunahme des Reichtums zu einer Erhöhung des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens führt (zumindest beim arithmetischen Mittel; nicht beim Median, wenn nur die obere Bevölkerungshälfte immer reicher wird!) und in der Konsequenz auch die Armut zunimmt. Im Sinne von Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit macht es daher Sinn, Armut stets auch im Zusammenhang mit Reichtum zu betrachten.

Die Bestimmung einer Reichtumsschwelle ist aus den genannten Gründen jedoch arbiträr. Es hat sich die schwache Konvention gebildet, diese bei dem Zwei- oder Dreifachen des Durchschnittseinkommens anzusetzen. Freilich bereitet auch die Messung von Reichtum erhebliche Probleme, insbesondere, weil hier das Vermögen eine ungleich dominantere Rolle spielt. Die verfügbaren Daten für Deutschland zeigen, dass nicht nur die Einkommensarmut, sondern auch der Einkommensreichtum in den letzten Jahren zugenommen hat. Auch die im Vergleich zum verfügbaren Einkommen ungleich größere Vermögenskonzentration hat zwischen 2002 und 2007 noch zugelegt (vgl. Frick et al. 2010).

Literatur

Andreß, Hans-Jürgen, 1999: Leben in Armut. Analysen der Verhaltensweisen armer Haushalte mit Umfragedaten, Opladen. – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn (2003: Zweiter Bericht; 2008: Dritter Bericht). – Frick, Joachim R. et al., 2010: Die Verteilung der Vermögen in Deutschland. Empirische Analysen für Personen und Haushalte, Berlin. – Groh-Samberg, Olaf, 2008: Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven, Wiesbaden. – Groh-Samberg, Olaf; Voges; Wolfgang, 2013: Armut und soziale Ausgrenzung; in: Mau, Steffen; Schöneck, Nadine M. (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 3. Aufl., Wiesbaden, 58–79. – Kronauer, Martin, 2010: Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, 2. Aufl., Frankfurt a. M./New York. – Leibfried, Stephan et al, 1995: Zeit der Armut: Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt a. M.

Olaf Groh-Samberg/Wolfgang Voges

Ausbeutung

In der ursprünglichen, heute noch geläufigen Bedeutung meint Ausbeutung (engl. exploitation) die Extraktion von Bodenschätzen. Als Aneignung fremder, unbezahlter Arbeit hat Marx – im Anschluss an die klassische Politische Ökonomie (A. Smith; D. Ricardo) und den Frühsozialismus (R. Owen) – Ausbeutung ins Zentrum seiner Kapitalismusanalyse und Klassentheorie gerückt. Dort erscheint Ausbeutung als Bedingung der Kapitalverwertung und Ursache des Klassenantagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital. In der Entfremdung und Verelendung des Proletariats werden ihre Begleit- und Folgeerscheinungen gesehen.

Alle Klassensysteme beruhen auf Ausbeutung, auf dem Transfer von unbezahlter Arbeit von der ausgebeuteten zur ausbeutenden Klasse. Die vorkapitalistischen Formen der Ausbeutung (Sklaverei; Leibeigenschaft) sind leichter durchschaubar als die kapitalistische Ausbeutung, weil jene auf außerökonomischem Zwang beruhen und die Gratisarbeit der Ausgebeuteten offensichtlich ist, diese jedoch durch die frei kontrahierte Lohnarbeit verschleiert wird: »Auf Basis des Lohnsystems erscheint auch die unbezahlte Arbeit als bezahlt« (MEW 16, 134). Das »Geheimnis des Arbeitslohns« sah Marx darin, dass in Wirklichkeit nur die notwendige Arbeit (d. h. das Äquivalent für die Reproduktionskosten der Arbeitskraft) entlohnt wird und die Mehrarbeit den Kapitalbesitzern als Mehrwert zufließt. Die Mehrwertrate (Verhältnis der Mehrarbeitszeit zur notwendigen Arbeitszeit) ist das Maß für die Ausbeutung.

Der Marxsche Ausbeutungsbegriff wird gewöhnlich als Bestandteil der Arbeitswerttheorie angesehen, Roemer und Holländer haben indes gezeigt, dass Ausbeutung und Klassenantagonismus auch unabhängig von dieser Theorie begründet werden können, wobei Holländer die Marxsche Annahme in Frage stellt, dass Ausbeutung ausschließlich in der Produktionssphäre stattfinde. Ein ökonomisch-mathematischer Beweis für die Ausbeutung stammt von Morishima.

[41]Mit der Theorie vom »ungleichen Tausch« hat Emmanuel, im Anschluss an Lenins Imperialismustheorie, den Ausbeutungsbegriff auf das Verhältnis der Industrieländer zu den Entwicklungsländern der Dritten Welt übertragen. Auch Wallersteins Weltsystemtheorie (1974 ff.; 1984) basiert auf der Annahme eines systematischen Profittransfers von den Ländern der Peripherie in die des kapitalistischen Zentrums.

Literatur

Emmanuel, Arghiri, 1972: Unequal Exchange, London. – Holländer, Heinz, 1982: Class Antagonism, Exploitation and the Labour Theory of Value; in: The Economic Journal 92, 868–885. – Marx, Karl, 1962: Das Kapital, 1. Bd.; in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, Berlin. – Ders., 1968: Lohn, Preis und Profit; in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 16, Berlin. – Morishima, Michio, 1973: Marx’s Economics, Cambridge. – Roemer, John E., 1982: A General Theory of Exploitation and Class, Cambridge (Mass.). – Wallerstein, Immanuel, 1974(I), 1980(II), 1989(III): The Modern World System, Vols. I ff., New York. – Ders., 1984: Der historische Kapitalismus, Berlin.

Walther Müller-Jentsch

Auswahlverfahren

Auswahlverfahren in der quantitativen Forschung

Die quantitativen Auswahlverfahren (engl. sampling strategies) sind Methoden, die im Rahmen des quantitativen Forschungsparadigmas dazu dienen, aus einer bestimmten Grundgesamtheit gezielt jene Elemente auszuwählen, die einer empirischen Analyse unterzogen werden sollen.

Untersuchungsansätze, die dem quantitativen Paradigma folgen, zielen in der Regel darauf ab, Parameter einer Grundgesamtheit anhand von bei Stichproben ermittelten Parametern zu schätzen. So könnte es beispielsweise darum gehen, den vermutlichen Stimmenanteil zu schätzen, der auf eine bestimmte Partei bei einer Wahl entfallen wird. Da es kaum möglich ist, für diesen Zweck alle Elemente der Grundgesamtheit – in unserem Beispiel alle wahlberechtigten Bürger – zu befragen, werden in der quantitativen Forschung Auswahlverfahren eingesetzt. Mittels solcher Stichprobenverfahren wird eine bestimmte Anzahl an Personen ausgewählt, die dann empirisch untersucht werden. Aus den so ermittelten Ergebnissen erfolgt dann die Schlussfolgerung auf die Grundgesamtheit.

Die Bedeutung quantitativer Auswahlverfahren

Quantitative Auswahlverfahren besitzen in der empirischen Sozialforschung eine hohe Bedeutung: Erstens verursacht die Erhebung von empirischen Informationen Kosten. Mit steigendem Stichprobenumfang nehmen diese Kosten zu. Gelingt es, für die Bearbeitung eines Problems eine optimale Stichprobengröße zu bestimmen, so können entsprechend Kosten gespart werden. Zweitens erlauben es die quantitativen Auswahlverfahren, Vertrauensintervalle zu bestimmen. Die Erhebung von Stichproben liefert – im Unterschied zu Totalerhebungen – stets nur unsichere Ergebnisse. Ist für die Auswahl der Elemente der Stichprobe ein Zufallsverfahren eingesetzt worden, so lässt sich ermitteln, in welchem Intervall der in der Stichprobe ermittelte Wert mit welcher Wahrscheinlichkeit auch in der Grundgesamtheit angetroffen werden kann. Die Frage, ob z. B. eine Partei die Fünfprozenthürde erreichen wird, wenn sie in einer Umfrage einen bestimmten Wert erreicht hat, lässt sich über die Bestimmung des Vertrauensintervalls beantworten.

In der sozialwissenschaftlichen Umfragepraxis hat sich eine ganz Reihe an Auswahlverfahren etabliert. Dabei handelt es sich um die Zufallsverfahren, bewussten Auswahlverfahren und willkürlichen Verfahren zur Auswahl der Untersuchungseinheiten.

Zufallsauswahlen

Allen Zufallsauswahlen ist gemeinsam, dass die Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann, mit der ein Element der Grundgesamtheit in die Stichprobe gelangt. Diese Wahrscheinlichkeit muss größer als null sein.

Bei einstufigen oder einfachen Zufallsverfahren erfolgt die Auswahl ähnlich wie mithilfe einer Urne oder einer Lostrommel. Hier wird aus der Gesamtheit aller Elemente zufällig die gewünschte Anzahl gezogen. Dafür ist in der Praxis ein Auswahlrahmen (engl. frame) erforderlich, in dem diese Elemente vollständig verzeichnet sind und der von der Forschung für diesen Zweck genutzt werden darf. Für zahlreiche Untersuchungsanliegen existiert ein solcher Auswahlrahmen jedoch nicht, weshalb nach[42] anderen Strategien gesucht werden muss. In der Bundesrepublik haben sich mehrstufige, geschichtete und geklumpte Zufallsverfahren durchgesetzt, um Stichproben in der Allgemeinbevölkerung zu ziehen. Dazu werden in einem ersten Schritt Gemeinden gezogen. Hier existieren dann Melderegister, aus denen beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen eine Zufallsauswahl an zu befragenden Personen gezogen werden kann. Hier handelt es sich also um ein zweistufiges Verfahren. Der ADM hat für diesen Zweck ein dreistufiges Design entwickelt (vgl. ADM 1999).

Auch für telefonische Befragungen wurden Vorgehensweisen für die Ziehung von Zufallsstichproben ausgearbeitet, da hier ebenfalls nicht auf einen geeigneten frame zurückgegriffen werden kann. Bekanntlich sind zahlreiche Telefonanschlüsse nicht mehr in Verzeichnissen gelistet. Deshalb werden zunächst aus den zur Verfügung stehenden Verzeichnissen alle gelisteten Rufnummern heruntergeladen. Danach werden systematisch in bestimmten Abschnitten Nummernfolgen ergänzt und daraus dann zufällig die für die Stichproben zu verwendenden Nummern gezogen. Zu Einzelheiten bei dieser Vorgehensweise vgl. Gabler/Häder (1997, 2002) und Häder et al. (2012).

Bewusste und willkürliche Auswahlen

Eine andere Klasse an Auswahlverfahren sind die bewussten Auswahlen, bei denen nicht zufällig, sondern bewusst ermittelt wird, wer in die Stichprobe gelangt. Gegenüber den Zufallsauswahlen kann hier eine Wahrscheinlichkeit, mit der ein Element in die Stichprobe gelangt, nicht angegeben werden. Insbesondere Quotenverfahren werden genutzt, um eine solche Auswahl vorzunehmen. Dazu werden den Interviewern bestimmte Merkmale der zu befragenden Personen vorgegeben. Diese werden als Quoten bezeichnet. Die Zusammenstellung der Quoten erfolgt nach Merkmalen wie der Ortsgröße, dem Geschlecht, dem Alter und der Tätigkeit der zu befragenden Person. Im Weiteren steht es den Interviewern frei, welche Personen sie für die Befragung aussuchen. Im Ergebnis erhält man eine Stichprobe, die in den genannten Kriterien die Struktur der Grundgesamtheit abbildet. Andere Verfahren, die zu einer bewussten Auswahl führen, suchen bspw. nach typischen Beispielen für eine konkrete Ausprägung von Merkmalen oder nach kontrastierenden Beispielen, um die bisherigen Erkenntnisse gezielt mittels weiterer Informationen zu ergänzen.

Schließlich kommen auch willkürliche Auswahlen zum Einsatz. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Stichprobenelemente unkontrolliert rekrutieren, dass also die Auswahl nicht – wie bisher beschrieben – bestimmten Regeln folgt. Diese preisgünstige Strategie hat sich als gangbare Möglichkeit erwiesen, wenn es darum geht, bestimmte Modelle zu testen. Auch in der psychologischen Forschung sowie im Rahmen von Pretests hat ein solches Vorgehen Bedeutung.

Auswahlverfahren in der qualitativen Forschung

Auch in der qualitativen Forschung ist zu überlegen, welche Fälle man für eine Untersuchung auswählt. Wenngleich das Thema in der Methodenliteratur lange wenig Aufmerksamkeit erfuhr, so bezweckt die qualitative Forschung ebenfalls, Aussagen über die untersuchten Fälle hinaus zu treffen (und nicht etwa, einen Sachverhalt anhand beliebiger Fälle zu illustrieren). Verallgemeinerungen erfolgen hier allerdings nicht, wie in der quantitativen Forschung üblich, auf dem Weg der statistischen Repräsentativität einer möglichst großen Stichprobe für die Grundgesamtheit einer Population, sondern mit Hilfe anderer Verfahren (z. B. einer Typenbildung) und oft mit einem Schwerpunkt auf Theorieentwicklung. Für die Auswahl von Fällen heißt dies, dass das Sampling ein Abbild der theoretisch relevanten Kategorien widerspiegelt.

Es sind verschiedene Verfahren des Samplings zu unterscheiden, die auch kombinierbar sind:

In einer Einzelfallstudie wird ein bestimmter Fall untersucht (eine Person, Organisation, eine Situation etc.), wobei unterstellt wird, dass allgemeine Strukturen in dem Fall zum Ausdruck kommen (z. B. die Kulturhauptstadt Europas als ein Beispiel für ein ›Mega-Event‹ bei Hitzler et al. 2013). Teilweise dient eine Einzelfallstudie als (eigenständige) Exploration vor weiteren empirischen Forschungen zum Thema.

Andere qualitative Auswahlverfahren zielen darauf, Fälle einzubeziehen, die die Bandbreite der für das Thema relevanten Kategorien spiegeln. Insbesondere gehört dazu das von B. Glaser und A. Strauss im Rahmen der Grounded Theory entwickelte Theoretische Sampling. Die Fälle werden hier nach und nach[43] im Laufe der Untersuchung bestimmt: Nach einer recht offenen Auswahl erster Fälle werden Hypothesen über relevante Kategorien bzw. Konzepte aufgestellt und auf dieser analytischen Basis mittels minimaler und maximaler Kontrastierung weitere Fälle ausgewählt. In einer Studie von Glaser/Strauss über die Interaktion mit Sterbenden stellte sich etwa als relevante Kategorie heraus, in welchem Maße sich der Sterbende seines Zustands bewusst war. Der Prozess der Datenerhebung wird somit durch die sich entwickelnde Theorie kontrolliert. Die minimale Kontrastierung richtet sich auf ähnliche Fälle (mit der Frage, ob sie die Relevanz der Kategorien und Zusammenhänge bestätigen), die maximale Kontrastierung lotet die Varianz im Untersuchungsfeld aus, bis durch neue Fälle keine neuen Erkenntnisse mehr erzielt werden können. Man spricht hierbei von theoretischer Sättigung. Um diese Sättigung zu erreichen, wird unter anderem das Schneeballverfahren angewendet, wobei Akteure im Feld, z. B. Interviewpartnerinnen, auf andere Akteure verweisen und ggf. einen Kontakt zu ihnen herstellen.

Ein anderer Weg, die Bandbreite eines Untersuchungsfeldes abzustecken, ist das selektive Sampling. Es handelt sich um eine Fallauswahl nach zuvor festgelegten Kriterien. Dies kann bspw. im Rahmen eines Mixed-Methods-Designs geschehen, wenn Befunde aus quantitativen Studien näher auf zugrunde liegende Mechanismen untersucht werden sollen und dann z. B. Teilgruppen in den Blick genommen werden (z. B. zum Thema Studienverläufe Absolvent/innen, die ihr Studium besonders schnell abgeschlossen haben). Teilweise liegen auch vor der Datenerhebung Arbeitshypothesen über strukturell bedeutsame Einflussfaktoren vor, so dass ein Stichprobenplan mit einer Kombination der Ausprägungen dieser Merkmale erstellt wird (z. B. könnte festgelegt werden, aus mehreren Wirtschaftsbranchen jeweils Frauen und Männer zu befragen). Auch dieses Verfahren – das nicht zuletzt oft forschungspraktischen Erwägungen folgt – strebt die Berücksichtigung theoretisch bedeutsamer Merkmalskombinationen an und stellt nicht das Abbild einer Häufigkeitsverteilung dar.

Literatur

ADM, Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e. V. (Hg.), 1999: Stichproben-Verfahren in der Umfrageforschung. Eine Darstellung für die Praxis, Opladen. – Gabler, Siegfried; Häder, Sabine, 1997: Überlegungen zu einem Stichprobendesign für Telefonumfragen in Deutschland; in: ZUMA-Nachrichten 41, 7–18. – Dies. (Hg.), 2002: Telefonstichproben, Münster u. a. – Häder, Sabine et al., 2012: Telephone Surveys in Europe, Research and Practice, Berlin/Heidelberg. – Hitzler, Ronald et al., 2013: Mega-Event-Macher. Zum Management multipler Divergenzen am Beispiel der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010, Wiesbaden. – Kelle, Udo; Susann Kluge, 1999: Vom Einzelfall zum Typus, Opladen, Kap. 3. – Kromrey, Helmut, 2009: Empirische Sozialforschung, 12. Aufl., Stuttgart, 251–295. – Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika, 2008: Qualitative Sozialforschung, München, Kap. 4. – Strauss, Anselm; Corbin, Juliet, 1996: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim, Kap. 11.

Michael Häder/Nicole Burzan

Autorität

Herkunft und Bedeutung des Begriffs

Der Begriff Autorität (engl. authority) leitet sich aus dem lateinischen auctoritas ab, das für eine charismatische Macht stand, die den im Staat maßgeblichen Persönlichkeiten zugeschrieben wurde. Der Schlüsselsatz zum Verständnis des Begriffes findet sich im Tatenbericht des ersten römischen Kaisers Augustus, der im Jahr 27 v. Chr. seine vorher gewaltsam erworbenen Machtbefugnisse feierlich an die (allerdings politisch gleichgeschalteten) legitimen Verfassungsorgane zurückgab und seitdem formal als Privatmann lebte, faktisch jedoch auch weiterhin unangefochten über das Reich herrschte. Er schrieb: »Seit jener Zeit (nämlich seit der Rückgabe der Ämter) überragte ich alle an auctoritas, an Amtsgewalt aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte« (Augustus 1975, Abschnitt 34). Auctoritas steht für eine informelle, auf Ansehen, Würde und Respekt gegründete Machtposition und ist damit streng zu trennen von potestas, der formellen Amtsgewalt.

Diese Bedeutung bildet auch heute noch den Kern des Begriffes »Autorität«. Der Pädagoge Winfried Böhm drückt es so aus: »Autorität ist streng zu unterscheiden von Macht und Gewalt. Während diese die faktische Möglichkeit bezeichnen, anderen zu befehlen und sie zu einem bestimmten Handeln und Verhalten zu zwingen, setzt jene grundsätzlich die freie Zustimmung dessen voraus, über den Autorität ausgeübt wird (…). Autorität meint also die[44] anerkannte Fähigkeit einer Person, einer Gesellschaft oder Einrichtung, auf andere einzuwirken, um sie einem bestimmten Ziel näherzubringen« (Böhm 1994, 60).

Autorität und Autoritarismus

Allerdings wird im Alltagsverständnis und auch in manchen wissenschaftlichen Diskussionen die logische Trennung zwischen Autorität und auf Gewalt gegründete Machtausübung nicht immer vollständig vollzogen. Die klare Unterscheidung zwischen authority und authoritarianism, wie sie im Englischen üblich ist, hat sich im Deutschen nicht gänzlich durchgesetzt. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang vermutlich die berühmte Studie »The Authoritarian Personality« von Theodor W. Adorno und Mitarbeitern aus dem Jahr 1950 (Adorno 1967), die den Begriff des Autoritären prominent in der intellektuellen Debatte platzierte. Dieses Stichwort wurde in den folgenden Jahrzehnten in verschiedener Form aufgegriffen – etwa als »antiautoritäre Erziehung« – und dabei oft mit der Forderung verbunden, traditionelle Autoritäten in Frage zu stellen. Die dadurch entstandene Vermischung der Begriffe klingt im heutigen Wortverständnis nach. In Repräsentativumfragen zeigt sich, dass das Stichwort »Autorität« bei Teilen der Bevölkerung auch Assoziationen wie »Machtmissbrauch« oder »Gewalt« weckt, die eigentlich eher dem Begriff des Autoritären zuzuordnen wären (Petersen 2011, 23).

Quellen der Autorität

Autorität wird von der Bevölkerung überwiegend als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, sie ist aber zu einem gewissen Grad auch an Ämter und gesellschaftliche Positionen gebunden. Autorität ist deswegen nicht mit bloßer Gefolgschaft aufgrund von Vertrauen zu verwechseln, auch wenn beides miteinander verknüpft ist. Fragt man die Bevölkerung, welchen Personengruppen sie vertraut, und zum Vergleich, welche Personengruppen Autorität besitzen, erhält man unterschiedliche Ranglisten. Vertrauen wird beispielsweise Ärzten entgegengebracht, Nichtregierungsorganisationen oder Vereinen. Autorität besitzen aus Sicht der Bevölkerung beispielsweise die Polizei, Gerichte, aber auch Lehrer und Professoren (Petersen 2011, 65). Zur Bereitschaft, die Autorität einer Person anzuerkennen, gehört damit auch der Respekt vor deren gesellschaftlicher Position.

Gesellschaftliche Bewertung von Autorität

Autorität wird – trotz der beschriebenen Begriffsvermischung mit dem Stichwort des Autoritären – von der deutschen Bevölkerung überwiegend als etwas Notwendiges angesehen. Die positiven Assoziationen überwiegen deutlich die negativen. Auf die Frage »Glauben Sie, dass man in einer Gesellschaft Autoritätspersonen braucht, oder meinen Sie das nicht?« antworteten in einer Repräsentativumfrage vom Herbst des Jahres 2010 79 %: »Man braucht sie« (Petersen 2011, 34).

Literatur

Adorno, Theodor W., 1967: The Authoritarian Personality, 2 Bde, 3. Aufl., New York. – Augustus, 1975: Res Gestae Tatenbericht (Monumentum Ancyranum). Lat.-griech. u. deutsch. Übers. u. hg. v. Marion Giebel, Stuttgart. – Böhm, Winfried, 1994: Wörterbuch der Pädagogik, 14. Aufl., Stuttgart. – Petersen, Thomas, 2011: Autorität in Deutschland. Bad Homburg.

Thomas Petersen

Wörterbuch der Soziologie

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