Читать книгу Spiel- und Medienpädagogik - Группа авторов - Страница 10

2.2 Entwicklungsaufgaben

Оглавление

Betrachtet man das Spiel als Methode oder Mittel zur Aneignung von Welt (vgl. Piaget 1992, S. 139ff) wird schnell deutlich, welchen Stellenwert es in der kindlichen Entwicklung und weiterführend in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen einnimmt. Die spielerische und von Motivation und Neugier geprägte Exploration des Selbst in einer von Erwachsenen dominierten Gesellschaft hat entscheidende Wirkungen auf den Entwicklungsprozess des Menschen und das sich Zurechtfinden in einer immer komplexer werdenden Umwelt. Ergänzend können Planspiele oder Simulationen als spielerische Vermittlungsmethoden auch bei Erwachsenen die Komplexität des Alltags auf ein einfacheres Maß reduzieren und Wechselwirkungsprozesse sowie Abhängigkeitsfaktoren in Systemen transparent vermitteln. In Simulationsspielen wie »Ecopolicy« (Brett- und Computerspiel) oder »Democracy« (Computerspiel) agieren Spieler*innen als Entscheidungsträger*innen, um einen Staat zu lenken. Dabei werden die Auswirkungen dieser Entscheidungen nach jeder Runde transparent dargestellt, ausgewertet und dienen den Spielenden dazu, ihre nächsten Züge und Eingaben entsprechend anzupassen und aus Erfolgen sowie Misserfolgen zu lernen. Zufällige Spielereignisse bieten zusätzliche Herausforderungen, auf die reagiert werden muss und die wiederum Auswirkungen auf die nächsten Entscheidungen haben. Auch für Gruppen konzipierte Planspiele verfolgen diesen Zweck, nur dass hier ein weiterer Aspekt hinzukommt, nämlich das Interagieren mit anderen in (gruppen-)dynamischen Prozessen. Diese soziale Interaktion in Spiel- und Lernumgebungen erfordert seitens der Spielenden eine Übernahme und Aneignung von vorgegebenen Rollen im Wettbewerb oder Zusammenarbeit mit anderen Spiel-Identitäten, die oft eigene Ziele innerhalb des Settings verfolgen. Hierzu schlüpfen sie in die jeweilige Rolle und schau-spielern entsprechend. Dabei bringen sie zwar ihre eigenen Erfahrungen und ihre Persönlichkeit in das (Schau-)Spiel mit ein, agieren aber rollenbezogen und als anderer Charakter. Dies gelingt mit Kreativität sowie der Fähigkeit des Menschen, sich in andere hineinversetzen und aus sich selbst herausgehen zu können. Der Psychologe Donald W. Winnicott bescheinigt dem Spiel mit Identitäten eine schöpferische Kraft, die es ermöglicht, aus den Spielerfahrungen wiederum Rückschlüsse auf das Selbst zu ziehen und Veränderungsprozesse in Gang zu setzen (vgl. Winnicott 1973). Allen Spielformen gemein ist, dass Spieler*innen im Spiel an sich aufgehen, die Umgebung oder Zeit vergessen und sich ganz auf die Anforderungen und das Agieren konzentrieren. Die skizzierten Beispiele belegen die von Roger Caillois in seinem Werk »Les jeux et les hommes« (Caillois 1958) vorgenommene Unterteilung von Spielen in vier Kategorien: agon (Wettkampf), alea (Zufall), illinx (Rausch) und mimikry (Maskierung), die einzeln oder auch kombiniert vorkommen können.

An den Beispielen wird zusätzlich deutlich, dass die Grenzen von Fachdisziplinen, vor allem der Kulturellen Bildung, verschwimmen. Es finden sich Elemente von Theater, Spielpädagogik, Games-Studies, Human- und Sozialwissenschaften bis hin zu Psychologie oder allgemeiner Pädagogik. Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen haben, die von Caillois skizzierten, Merkmale weiterentwickelt und im jeweiligen Fachdiskurs erweitert. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die offensichtliche Nähe von Spiel und Computerspiel. Der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi entwickelte das Prinzip des Flow (Csíkszentmihályi 1995) als Beschreibung des Aufgehens in einer Tätigkeit im Sinne eines Schaffensrauschs, der sowohl in der Spielpädagogik als auch den Game-Studies zentrales Element für die Bindung von Spieler*innen in einem Spiel-Setting darstellt und entsprechend auch in der Ausbildung von Game-Designer*innen vermittelt wird. Katie Salen und Eric Zimmermann haben den von Huizinga im »Homo Ludens« (Huizinga 1938) beschriebenen »Magic Circle« in ihrem Buch »Rules of Play: Game Design Fundamentals« (Salen & Zimmermann 2003) auf virtuelle Spielwelten übertragen. Der »Magic Circle« beschreibt die Abgrenzung von einem Spiel-Setting zur realen Welt. Spieler*innen agieren innerhalb des Spiels und eine Verbindung zur Außenwelt ist während des Spielens nicht gegeben. Eine Durchlässigkeit ergibt sich in der Regel erst nach dem Spiel, wenn Erfahrungen auf reale Lebenskontexte übertragen werden oder vor dem Spiel, wenn reale Settings im Spiel simuliert oder nachgestellt werden sollen. Mit einer Ausnahme: Moderne Spielformen, die sich mittels Smartphones und »Augmented Reality« genau an der Grenze des Magic Circles bewegen und bewusst damit spielen, Virtuelles und Analoges verschwimmen zu lassen. Prominentes Beispiel ist »Pokemon Go«, in dem die Spielfiguren über den Handy-Bildschirm in der realen Umgebung eingeblendet werden und mit ihnen interagiert wird.

Wie bereits beschrieben, unterscheiden heute Kinder und Jugendliche nicht mehr zwischen digital und analog oder online und offline. Für sie ist der Magic Circle zwischen Medienwelten und Realität in beide Richtungen durchlässig geworden. Soziale Netzwerke und Messenger sind integraler Bestandteil ihrer Kommunikation, Online-Videoplattformen und Streaming-Dienste zentrale Elemente der Informationsbeschaffung und Unterhaltung und das Smartphone als multimediale Universalmaschine vereint Computer, Internet, Fernseher, Telefon und viele weitere Gerätschaften, die für die Generationen vor ihnen als voneinander getrennt betrachtet wurden und mitunter bis heute werden. Der Pädagoge und Manager Mark Prensky beschrieb mit der Einführung der Begriffe »Digital Native« und »Digital Immigrant« (Prensky 2001) die Herausforderung, neue Technologie adaptieren zu können. Während es für Personen, die schon mit der Technik aufwachsen, einfach und selbstverständlich ist, mit ihr klar zu kommen und sie zu nutzen, stellt es für die »nicht-digital-geborenen« eine Herausforderung dar, da sie sich deren Nutzung erst mühsam aneignen müssen. Mit entsprechenden Auswirkungen auf den Dialog der Generationen, auf das Aufwachsen, den Entwicklungsprozess und auch auf Erziehung und Bildung. Inzwischen ist die Kluft aber deutlich spürbarer. Die post-digital lebende Generation (Negroponte 1998) kann mit der Unterscheidung zwischen analog und digital oder real und virtuell schlicht nichts mehr anfangen. Sie beziehen ihr Wissen aus dem omnipräsenten Internet, den Video-Plattformen und präferieren multimediale Darstellungsformen. Aktuell ist daher unter Umständen die Differenzierung zwischen »digital residents« und »digital visitors« dienlicher.

Wenn digitale Medien essenzieller und selbstverständlicher Bestandteil des Lebens von Heranwachsenden sind, kommt ihnen im Rahmen der Entwicklungsaufgaben auf dem Weg zum Erwachsenwerden eine zentrale Bedeutung zu. Auch das Spiel fördert Kompetenzen, die den Entwicklungsprozess unterstützen können. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann benennt vier zentrale Entwicklungsaufgaben (vgl. Hurrelmann & Quenzel 2016):

• Qualifikation durch Schulung von intellektuellen und sozialen Kompetenzen.

• Bindung durch den Aufbau von Selbstbild, Identität und Kontakten zu anderen Menschen, wie auch der emotionalen Loslösung von den Eltern.

• Konsum mit der Ausbildung von Strategien zur Entspannung und Regeneration durch die Nutzung entsprechender Angebote der Konsumgesellschaft.

• Partizipation mit der Fähigkeit der aktiven Mitgestaltung von Gesellschaft und ihren Regeln, Werten und Normen.

Somit erfolgt ein Übergang in die Berufswelt (Qualifikation), in eine Partner- und Familienrolle (Bindung), zum Konsumenten (Konsum) und zum Bürger (Partizipation). All diese Entwicklungsaufgaben lassen sich in Spielszenarien abbilden, erproben, bewerten und mittels Rückschlüssen aus den gewonnenen Erfahrungen für den weiteren individuellen Entwicklungsprozess nutzen. Spiel kann emotionale, soziale, motorische und kognitive Kompetenzen fördern und somit entsprechend in Entwicklungs- und Lernprozessen zielorientiert eingesetzt werden, sofern bestimmte Voraussetzungen gegeben sind.

Die Programmierumgebung »Scratch«, die am MIT in Boston entwickelt wurde, um Kinder in die Welt der Programmierung einzuführen, verfolgt einen spielerischen und kreativen Ansatz. Mitchel Resnick benennt vier »P« zur Realisierung eines auf Kreativität bauenden Lernprozesses (Resnick 2017, S. 2f): Die Realisierung von Projekten in einer interagierenden Community (Projects), die Möglichkeit zur Verfolgung eigener Interessen und Leidenschaften (Passion), den sozialen Prozess im Austausch und der gegenseitigen Unterstützung im Lernprozess (Peers) sowie den spielerischen Umgang mit einer komplexen Thematik inklusive der Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen (Play). In seinen Forschungsarbeiten ist Resnick zu dem Ergebnis gekommen, dass genau diese Mischung in einem auf Selbstlernen und wechselseitiger Unterstützung mit anderen aufbauenden Lernumgebung in einem spielerischen Setting im Sinne einer Selbstoptimierung für die notwendige Motivation sorgt, auch dranzubleiben und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Eine ähnliche Herangehensweise verfolgen in Deutschland Projekte wie »Jugend hackt«1, »hello world«2 oder »Gamescamp«3, die von der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) als innovative Medienprojekte mit dem Dieter-Baacke-Preis ausgezeichnet wurden oder nominiert waren4. Einen anderen Ansatz verfolgt der Lehrer und Musiker John Hunter mit dem »World Peace Game«5. In dem analogen Planspiel wirft er Kinder in eine hoch-komplexe Simulation, in der sie ökonomischen, politischen und globalen Krisensituationen ausgesetzt sind, die sie gemeinschaftlich lösen müssen, um das Spiel zu meistern. Die Kinder sind je Teil eines fiktiven Landes und müssen in unterschiedlichen Rollen agieren. Das Setting ist vorgegeben, Lösungswege nicht. Hunter folgt mit dem Projekt der Annahme, dass auch – oder sogar vor allem – Kinder in der Lage sind, gemeinsam die großen Probleme der Welt zu lösen, wenn sie in einem offenen und auf Zusammenarbeit basierenden Lernsetting selbst und intrinsisch motiviert agieren und ihre individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen einbringen können. Die Rolle des Pädagogen/der Pädagogin besteht darin, ein Setting und einen Spielraum zur Verfügung zu stellen und durch Wertschätzung und Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder ein menschliches und positives Lernklima zu schaffen. Hunter vertritt die Ansicht, dass solche Projektformen einen prägenden Einfluss auf den Entwicklungsprozess von Kindern haben und in der Lage sind, Persönlichkeiten auszubilden, die zukünftig auch als potenzielle Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft agieren können. In einem unterhaltsamen und inspirierenden TED-Talk stellt er die Hintergründe, das Rollen- und Planspiel, die innovative pädagogische Herangehensweise und die Erfahrungen im Einsatz mit Kindern vor6.

Blickt man auf die Bedürfnisse, die Jugendliche haben und ihren Entwicklungsprozess prägen, wird deutlich, dass digitale Medien im Sinne der Post-Digitalität inzwischen entscheidenden Einfluss nehmen oder zumindest zu den früheren Formen der Bedürfnisbefriedigung hinzukommen. Das Bedürfnis nach a) Erlebnis wurde durch Unternehmungen mit Freund*innen und medialen Erlebnissen in Film und Fernsehen gedeckt, heute kommen Internet, Soziale Netzwerke, Video-Plattformen und virtuelle Spielwelten hinzu. Der Wunsch nach b) Zugehörigkeit erfolgte über Freund*innen, Vereine und Familie, deren Funktion durch (Online-) Communities und die Kommunikation über Soziale Netzwerke teils sogar ersetzt wird. Die eigene c) Identitätsentwicklung wurde durch die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen und im Dialog der Generationen voran getrieben, heute geschieht dies auch in Communities und virtuellen Spielformen, wie MMORPGs (Massive Multiplayer Online Roleplaying Games), die eine spielerische und experimentelle Form des Ausprobierens unterschiedlicher Persönlichkeitsdarstellung gegenüber Dritten ermöglichen, ohne negative Konsequenzen im realen Leben befürchten zu müssen. Das d) Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit erfolgte durch das Rebellieren gegen Autoritäten, sei es im Elternhaus oder gegen Obrigkeiten, heute vollzieht sich die Abgrenzung von Erwachsenen vor allem in digitalen Medien, wenn die digitalen Räume exklusiv von Jugendlichen genutzt werden und Erwachsene sie gar nicht erst nutzen. Facebook z. B. wurde in dem Moment für Jugendliche uninteressant, als ihre Eltern sich entsprechende Accounts eingerichtet hatten und es fand eine Migrationsbewegung zu anderen Diensten statt. Auch die Tatsache, dass Eltern den Plattformen kritisch gegenüberstehen, ermutigt Jugendliche erst recht, sie zu nutzen. Das verständliche Bedürfnis nach Abgrenzung von Erwachsenen im digitalen Raum hat allerdings auch zur Folge, dass die Aktivitäten oft unter Ausschluss pädagogischer Einflussnahme stattfinden, was bezogen auf den Kinder- und Jugendschutz entsprechende Herausforderungen mit sich bringt. E) Orientierung und Sicherheit gaben gemeinsam mit anderen Jugendlichen konsumierte Medien mit ihren Vorbildern sowie sichtbare Zugehörigkeitsmerkmale, wie Bekleidung oder bestimmte Marken. Smartphone, Computerspiele und Internetplattformen erweitern diese Bedürfnisbefriedigung entsprechend, auch ohne, dass Zugehörigkeiten außerhalb der Mediennutzung wahrgenommen werden können. Die f) sexuelle Orientierung wurde von Jugendzeitschriften und in Interaktion mit Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts bedient, heute konsumieren schon Kinder Hardcore-Pornografie über einschlägige und frei verfügbare Internetseiten. Und das Bedürfnis nach g) Status wurde mit sportlichen Aktivitäten und Marken-Bekleidung gedeckt, zu denen sich inzwischen die Anzahl von Likes in den Sozialen Netzwerken, Aufmerksamkeit-generierende Posts oder Erfolge in Online-Games hinzugesellen.

Pädagogik und Kulturelle Bildung agieren schon immer mit Lebensweltbezug. Entsprechende Angebote für eine digital lebende Generation kommen nicht umhin, auch digitale Medien aufzugreifen und Zielgruppe entsprechend in ihrer Lebenswelt abzuholen. Der Medienpädagogik fällt hier eine Schlüsselrolle zu, nämlich zwischen digital und analog zu vermitteln, Anschlussmöglichkeiten offen zu legen und auf mögliche Schnittstellen hinzuweisen. Das kann ein im virtuellen Raum umgesetztes Theaterstück sein, die Bearbeitung von Film- oder Computerspielmusik im Rahmen der Musikvermittlung, das Schreiben von Geschichten in Hypertext-Formaten oder das Aufgreifen von medialen Unterhaltungsformen, wie Serien und Filmen in der Bildenden Kunst als Basis für einen kreativen Schaffensprozess nutzbar zu machen. Dabei nimmt Medienpädagogik im Sinne einer ganzheitlichen Kulturellen Bildung nur einen Teil in einem sich wechselseitig befruchtenden Fächerkanon ein.

Spiel- und Medienpädagogik

Подняться наверх