Читать книгу Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter - Группа авторов - Страница 32
3.3 Die typische klinische Symptomatik
ОглавлениеAus dem Gesagten folgt, dass sich entsprechende Patienten nicht mit der Frage nach einer ASS in der psychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxis vorstellen. Dies ist allenfalls in Spezialsprechstunden der Fall. Vielmehr ist es meist ein buntes psychopathologischen Mischbild oft im Kontext schwerer und schwer zu verstehender psychosozialer Konflikte am Arbeitsplatz oder in den Beziehungen, welches die Betroffenen zum Arzt führt. Und in solchen Konstellationen wird die Diagnose häufig trotz intensiver diagnostischer und therapeutischer Bemühungen nicht erkannt oder nur sehr spät gestellt.
Plakativ ausgedrückt könnte die Atypizität als ein zentrales Präsentationskriterium der hochfunktionalen ASS im Erwachsenenalter angeführt werden. Hochfunktional autistische Menschen werden meist seit Kindheit von anderen Menschen als anders erlebt und erleben sich selbst meist auch als „anders als die anderen“. Diese Andersartigkeit ist vor allem in den Schwierigkeiten der sozialen Wahrnehmung und sozialen Kompetenz sowie dem extremen Bedürfnis nach erwartungsgemäß geregelten Abläufen und Routinen des Alltagslebens begründet. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten in kommunikativen Situationen sowie die extreme Inflexibilität der betroffenen Menschen ist für die anderen (oder die Neurotypischen, wie die nicht-betroffenen Menschen von manchen Betroffenen genannt werden) meist schwer nachvollziehbar, einfühlbar und damit kaum verstehbar. Dies kann ein Grund für zahlreiche Konflikte am Arbeitsplatz oder in privaten Beziehungen sein, die nicht selten ihren Kern in fundamentalen Missverständnissen und Deutungsfehlern des Verhaltens betroffener Menschen mit einer ASS haben.
Dementsprechend präsentieren sich erwachsene Menschen mit bis dato nicht diagnostizierter ASS häufig in Zusammenhang mit schweren psychosozialen Konflikten beim Erwachsenenpsychiater. Häufig werden dann zunächst die Diagnosen einer Belastungsreaktion, einer Anpassungsstörung, eines Burn-out-Syndroms, einer atypischen Depression oder einer oft kombinierten Persönlichkeitsstörung gestellt. Begleitende psychische Auffälligkeiten wie etwa ein sonderbares Essverhalten, seltsame zwangsähnliche Phänomene oder Besonderheiten der Wahrnehmung führen oft zu Diagnosen wie atypischen Zwangsstörungen, atypischen Psychosen oder atypischen Essstörungen. In der Beurteilung durch den Arzt ist es das Sonderbare, Komplexe, Unklare und schwer Verstehbare, also insgesamt gerade das Atypische, was typisch ist für einen erwachsenen Menschen, der sich erstmalig mit einer ASS vorstellt.
Bei Menschen mit atypischen Depressionen, atypischen Zwangssymptomen, Burn-out, emotional-instabilen, Borderline-artigen Syndromen, „seltsamen Persönlichkeitsstörungen“, Essstörungen oder psychoseartigen schwer verstehbaren Symptomen, die in der Gegenübertragungsanalyse eigenartig, sonderbar, verwirrend oder schwer verstehbar wirken, sollte differenzialdiagnostisch an eine Autismus-Spektrum-Störung gedacht werden.
Die hohe Intelligenz und die guten Kompensationsstrategien haben es den betroffenen Menschen meist ein Leben lang ermöglicht, teilweise sehr kreative und originelle Umgehungsstrategien für ihre Schwächen in der sozialen Kognition zu finden und umzusetzen. Dementsprechend sind gerade Erwachsene, die sich erstmalig mit einer ASS präsentieren, beruflich aufgrund ihrer hohen Intelligenz gelegentlich recht erfolgreich. Letztendlich sind es in dieser für die Erwachsenenpsychiatrie klassischen Konstellation meist die aus den Eigenheiten der Betroffenen resultierenden psychosozialen Konflikte, welche über eine Belastungsreaktion, ein depressives oder ein sozial-phobisches Syndrom zur Vorstellung beim Arzt führen.
Menschen mit hochfunktionalem Autismus im Erwachsenenalter stellen sich typischerweise nicht wegen der autistischen Kernsymptome, sondern wegen heftiger interpersoneller Konflikte oder Probleme in Schule, Studium oder Beruf vor, die dann zu sekundären Depressionen, Angst- oder Stressreaktionen führen. Der hochfunktionale Autismus ist hier als Basisstörung für diese sekundären Probleme zu verstehen (vgl. auch Tebartz van Elst et al. 2013)!