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Der Ort des Treffens als Signal der Macht

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Es war ein ziemlich großer, ungemütlicher, langer Raum mit einem langen Tisch in der Mitte. Auf der einen Seite des Tisches saßen die Mitglieder der tschechoslowakischen, auf der anderen die Mitglieder der sowjetischen Delegation. An den Wänden standen Stühle für die Berater und Experten. An einer der Wände waren zwei Kabinen für die Dolmetscher. Zuerst hielt Breschnew ein langes dreistündiges Referat. Die sowjetische Delegation hatte aus irgendeinem Grund nur eine Dolmetscherin, die das gesamte Referat übersetzte. Gegen Ende war sie halbtot vor Erschöpfung, aber man erlaubte nicht, sie für ein paar Minuten abzulösen – das war nicht gestattet!2

Breschnew sprach mit ruhiger Stimme, ausdruckslos, ohne besondere Emotion. Aber er sagte sehr harte Worte: Dass in der Tschechoslowakei die Gefahr von rechts wachse; dass es konterrevolutionäre Organisationen gäbe, wie KAN (Klub der aktiven Parteilosen) oder K 231 (Klub politischer Gefangener, die in den 1950er- und 1960er-Jahren aufgrund von Artikel 231 verurteilt worden waren); dass in der Partei dieses »zweite Zentrum« bestehe; dass die tschechoslowakische Presse, das Radio das Fernsehen sich in ein Sprachrohr der rechten Kräfte verwandelt hätten und völlig der Kontrolle der Partei entglitten wären usw.3 Während Breschnew all diese Vorwürfe aufzählte, sprach er in geradezu väterlichen Ton, wie ein Lehrer zu seinem Schüler. Die anderen sowjetischen Führer sprachen weit grober und autoritärer.

Nach Breschnew sprach Dubček. Er hielt einen ernsthaften, gut begründeten Vortrag, der aufzeigte, dass es im Land keine Gefahr der Konterrevolution gäbe. Dubček nahm Radio, Presse und Fernsehen, über die Breschnew so Böses gesagt hatte, in Schutz. Aber man hatte den Eindruck, als ob er gegen eine Wand spräche: Die Sowjets hörten mit kühler Distanziertheit zu und wollten nicht ein einziges Argument anerkennen.

Dass die Sowjets kein Interesse daran hatten, wenigstens ein wenig zuzuhören oder zu verstehen oder zu verhandeln wurde mit jedem Auftritt eines ihrer Vertreter immer offensichtlicher. Tamara kann heute nicht mehr sagen wer genau worüber sprach, aber Tamara erinnerte sich noch deutlich daran, dass ihr Kossygins Auftritt besonders aggressiv erschien.4 Buchstäblich jeder Satz von ihm war von scharfer Bosheit getränkt, er spukte Gift und Galle und fügte Drohungen hinzu. Auf das Argument von Dubček, dass der neue Kurs der tschechoslowakischen Regierung die Unterstützung der gesamten Bevölkerung des Landes genieße und im ZK der Partei Resolutionen zu ihrer Unterstützung in Massen eingingen, erklärte Kossygin mit hämischem Grinsen, und daran erinnert sich Tamara sehr gut: »Was redet ihr dauernd von irgendwelchen Resolutionen? Wenn die Teilnehmer jetzt in Moskau anrufen, bekommt ihr von da so viele Resolutionen gegen die Konterrevolution in der Tschechoslowakei, dass sie sie diesen Saal vom Boden bis zur Decke ausfüllen!« Er konnte absolut nicht kapieren, dass Resolutionen auf Initiative der gewöhnlichen Bevölkerung verabschiedet werden könnten, die wegen einer Angelegenheit besorgt waren, also ohne Anweisung von oben. Und Kossygin war es auch, der sagte: »Eure Grenze ist auch unsere Grenze.« Das wurde mit dem Verständnis gesagt, dass die Westgrenze der Tschechoslowakei die Grenze des sozialistischen Lagers darstellte und die Sowjetunion jedes Mittel zu ihrer Sicherung ergreifen könne.

Wie Tamara schon sagte, war vom Anfang der Konferenz klar, dass die Sowjets sich weder nach der Situation richten noch etwas verstehen wollten. Die Vertreter des Reformflügels der tschechoslowakischen Führung sprachen wie vor einem leeren Saal, und hämisches Grinsen war die einzige Reaktion auf der sowjetischen Seite des Tisches. Die Sowjetführer reagierten nur, wenn einer ihrer Schützlinge das Wort ergriff: Bil’ak, Kolder, Rigo oder Švestka. Ihnen wurde mit betonter Aufmerksamkeit zugehört. Die Rede Bil’aks wurde besonders an der Stelle von laut geäußerter Billigung begleitet, als er von antisowjetischen und antisozialistischen Bestrebungen sprach, die es angeblich in der Tschechoslowakei gäbe, und dass die Kommunisten bald an den Straßenlaternen aufgehängt werden würden. Die Dolmetscher aber trauten ihren Ohren nicht: Wie konnte man nur über das eigene Land ganz offenkundige Lügen zu verbreiten?

Tamara erinnert sich, in welcher Reihenfolge gesprochen wurde. Šelepin war demnach der friedlichste Redner. Suslow war ein erfahrener, galliger Jesuit und sprach über ideologische Fragen. Mit monotoner Stimme legte er da, dass in der in der ČSSR der Revisionismus heftig anwachse.

Die tschechoslowakischen und sowjetischen Vertreter traten durcheinander auf. Es gab auf der Konferenz kein Programm, kein Reglement und auch keine Leitung. Breschnew zog die Rolle eines inoffiziellen Vorsitzenden ohne Absprache an sich. Dies setze sich einen halben Tag fort, bis Šelest das Wort erhielt. Dies war am 30. Juli 1968. Die Rede von Šelest war in ihrer Form die gröbste und schärfste. Er sprach buchstäblich mit Schaum vor dem Mund über die Konterrevolution in der ČSSR. In seiner Rede wurden auch antisemitischen Töne laut. Šelest schrie Phrasen über »einen gewissen Kriegel, einen Juden aus Galizien« hinaus. Und der Vorsitzende der Nationalen Front der ČSSR, František Kriegel, ein reformkommunistischer Politiker, Veteran des spanischen Bürgerkrieges und des Krieges in China, ein kluger Mensch, saß Šelest gegenüber und lächelte nur verstehend.

Europäische Zeitenwende: Prager Frühling

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