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Spanferkel

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Wie es auch immer dahin gekommen sein mag, das Spanferkel lag auf dem Tisch. Ministerpräsident Černík, bewaffnet mit Messer und Gabel, begann, es zu tranchieren, nachdem er zuvor gesagt hatte, dass er sich gut auskennen würde, denn sein Vater sei Fleischer gewesen. Die Stimmung war dennoch nervös, und Tamara fühlte sich nicht wohl. Es waren alle da: diejenigen, die Dubček unterstützten, und diejenigen die ein paar Wochen später »der gesunde Kern« der KPČ genannt wurden. Die letzteren sprachen grundsätzlich kein Wort. Und die anderen, zu denen auch Tamara gehörte, unterhielte sich mit ihnen auf demonstrative Weise nicht. Die Vertreter dieses »gesunden Kerns« zogen sich als erste allmählich zurück, und später gingen auch die anderen, nachdem sie Dubček in ihr Abteil eingeladen hatten, um dort einfach zu sitzen und Wodka zu trinken.

Am Abend kamen Dubček, Černík und Kriegel in das kleine Abteil der Dolmetscher (sie schliefen in einem Abteil für zwei Personen). Zu siebt nahmen sie auf einer Bank Platz, an der Wand gegenüber hockten Experten auf den Knien, irgendjemand stand an der Tür. Das Team öffnete eine Flasche Wodka, sie gossen den Wodka in Plastikbecher. Alle redeten über allgemeine Dinge. Nach und nach ging man zu konkreten Fragen über, aber Dubček und Černík antworteten grundsätzlich optimistisch, so als würde dies der tschechoslowakischen Seite nichts bedeuten. Grundsätzliche Zugeständnisse wurden nicht gemacht. Kriegel schwieg. Tamara dachte, ihm wäre die Situation klar, aber er zöge es vor, zu schweigen. Später erzählte irgendjemand eine uralte Anekdote, und Dubček lachte so herzlich, dass nun alle um die Wette Anekdoten erzählten, um ihm nur irgendetwas Angenehmes zu tun.

Die »Abendgesellschaft« wurde unterbrochen durch die Ankunft einer unangenehmen Person, die Dubček in einer nicht sehr höflichen Form deutlich machte, dass er unverzüglich zu einer Besprechung erscheinen solle. Auch an diesem Abend kam eine ähnliche Person in den Wagen und sammelte alle schriftlichen Materialien, die da waren, ein. Man nahm den Übersetzern etwa die schriftlichen Texte der Referate der sowjetischen Teilnehmer ab. Die Dolmetscher hatten sie bekommen, damit die Übersetzung ins Tschechische genauer vor sich gehen konnte. Es ist bei Konferenzen durchaus üblich, dass ein solcher Text als Arbeitsmaterial vorgelegt wird und die Dolmetscher für sich Notizen unmittelbar in den Text machen. In diesem Fall waren in dem Text des Referates von Kossygin nicht nur Arbeitsnotizen, sondern auch Kommentare einer Dolmetscherin, Kommentare, die für Kossygin nicht schmeichelhaft waren. Auch dieser Text wurde abgenommen, und Bil’ak behauptete später in der Versammlung eines Parteiaktivs, schon nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag, dass die antisowjetische Stimmung in der Tschechoslowakei so stark gewesen war, dass sich sogar ausgewählte bei der Konferenz in Čierna anwesende Dolmetscherinnen grobe Bemerkungen an die Adresse »führender sowjetischer Genossen« erlaubt hätten.

Am nächsten Tag sollte die sowjetische Delegation früh kommen, aber ihr Zug erschien erst um zwei Uhr mittags. Die Sitzung – diesmal waren die Dolmetscher auch dabei – war sehr kurz. Breschnew verlas den sowjetischen Entwurf eines Kommuniqués und ohne zu fragen, ob es noch Fragen gebe (die tschechoslowakische Delegation hatte auch einen Entwurf), ließ er abstimmen. Der Entwurf wurde angenommen, nach dem Prinzip: »Niemand dagegen – angenommen.« Zum Abschluss wurde in der Halle des Kulturhauses ein Empfang abgehalten, wo in ziemlich steifer Atmosphäre nur über Nichtigkeiten geredet wurden. Darauf kam ein Fotograf, und vor dem Kulturhaus wurde die Aufnahme gemacht, die danach in der Presse erschien: Ein lächelnder geradezu gutmütiger Breschnew mit einem Blumenstrauß und neben ihm Dubček. Darauf begleitete die tschechoslowakische Führung die sowjetische Delegation zu den Waggons des sowjetischen Zuges, und der Zug fuhr ab. Dann wurde der Bahnsteig geöffnet, die Bewohner Čiernas strömten in Massen auf ihn ein. Sie unterhielten sich mit Dubček, Černík, Smrkovský, Svoboda und Kriegel, umarmten sie und sprachen ihnen ihre Sympathie und Solidarität aus.

Europäische Zeitenwende: Prager Frühling

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