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Abweichung vom sowjetischen Weg
ОглавлениеŠelest brachte die Sache auf den Punkt. Es wurde klar gesagt: Ihr weicht vom Weg ab, wir werden dies nicht dulden, sondern euch auf unsere »proletarische« Art auf den richtigen Weg bringen. Es hätte Gott weiß wie ausgehen können, aber im Lauf der Konferenz fand mit Šelests Rede ein Bruch statt. Šelest sprach besonders grob über Dubček, den er des Verrates an der Sache des Sozialismus beschuldigte. Dubček reagierte darauf, wie Tamara im Nachhinein klar wurde, für die sowjetischen Führer völlig unerwartet: Er reagierte wie ein normaler Mensch, der grob und zu Unrecht beleidigt wurde. Er ergriff das Wort und erklärte, dass er kategorisch nicht mit dem einverstanden sei, was Šelest gesagt habe, dass die freundlichen Beziehungen zur Sowjetunion für ihn heilig seien und dass es vollkommen ungerechtfertigt sei, ihn einer antisozialistischen Stimmung zu beschuldigen, ihn, dessen Familie am sozialistischen Aufbau in der UdSSR in den 1920er-Jahren in der tschechoslowakischen landwirtschaftlichen Kooperative Interhelp in Kasachstan teilgenommen habe. Die Stimme Dubčeks begann zu zittern, er las den Text nicht zu Ende, sondern stand von seinem Platz auf und wandte sich ab, um den Saal zu verlassen. Einer, Tamara ging davon aus, dass es der Parlamentspräsident Smrkovský war, eilte zu ihm und begann, mit ihm zu sprechen. Im Saal herrschte Verwirrung. Die sowjetischen Vertreter saßen mit roten Gesichtern dort. Tamara glaubt nicht, dass sie nur verwundert waren. Tamaras Meinung nach waren sie nicht in der Lage, zu verstehen, was geschehen war, und sie hatten keine normale menschliche Reaktion von einem Politiker erwartet. Dies ging über das Verständnis Breschnews und anderer, die mit ihm waren, hinaus. Darauf begannen sie untereinander zu flüstern und einer, wohl Podgorny, ging zu Dubček auf den Bahnsteig.
Die Konferenz wurde unterbrochen. Was weiter geschehen würde, war unklar. Die sowjetische Delegation zog sich in ihre Waggons zurück und erst am Abend kam einer zu Dubček. Dabei wurde, wie sich später zeigen sollte, besprochen, dass die weitere Arbeit hinter verschlossenen Türen stattfinden sollte. Auf sowjetischer Seite nahmen Breschnew, Kossygin, Podgory und Suslow an den Verhandlungen teil, auf tschechoslowakischer Dubček, Svoboda und Smrkovský.
Die Unterredungen wurden am dritten Tag, dem 31. Juli 1968, fortgesetzt, ohne Übersetzer, ohne Sekretäre und ohne Experten. Es waren jeweils nur eine sowjetische Übersetzerin und eine Stenografin anwesend. Es ist nicht bekannt, worüber konkret gesprochen wurde. Bestimmt wurde jedoch darüber gesprochen, dass eine Konferenz der Führer der Kommunistischen Parteien der sozialistischen Länder (mit Ausnahme Rumäniens und Jugoslawiens) in Bratislava stattfinden sollte. Es wurde offensichtlich auch über die Zensur gesprochen, denn von tschechoslowakischer Seite wurden nach der Konferenz von Čierna bestimmte Schritte in dieser Richtung unternommen. Als der schwere Zug, keuchend, das sowjetische Politbüro zur Übernachtung auf sein heimatliches, sicheres Territorium transportierte (der Zug mit der sowjetischen Delegation fuhr jeden Tag am Morgen nach Čierna und am Abend in die umgekehrte Richtung zurück in die ukrainische Sowjetrepublik), wurden die tschechoslowakischen Teilnehmer in den Salonwagen eingeladen, wo in einer Schüssel ein gebratenes Spanferkel lag. Eine Delegation aus dem slowakischen Gebiet hatte das Ferkel gebracht. Tamara weiß bis heute nicht, wie es dieser gelungen war, auf den Bahnsteig vorzudringen. Der Bahnsteig war buchstäblich vom überzogenen Land hermetisch abgeriegelt. Kein einziger Journalist, kein einziger Besucher, keine einzige Delegation war während dieser Zeit in Čierna. Telefonieren konnte man nur in Ausnahmefällen und mit besonderer Erlaubnis möglich.