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II.1 Die horizontale Achse der Wissensspezialisierung

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Wie Michel Foucaults Diskurs-, aber auch Niklas Luhmanns Systemtheorie und Reinhart Kosellecks historische Semantik geht auch die Interdiskurstheorie vom Befund zunehmender horizontal-funktionaler Arbeits- und Wissensteilung seit etwa dem Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Demnach sind moderne Gesellschaften in verschiedene, relativ autonome Wissensbereiche gegliedert, die jeweils spezifische Formen der Rede, je eigene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Die Gesamtkultur einer modernen Gesellschaft besteht dann in ihrer horizontalen Gliederung aus dem Spektrum ihrer Spezialdiskurse, zum Beispiel naturwissenschaftlichen, human- und sozialwissenschaftlichen sowie kultur- und geisteswissenschaftlichen.

Um Verständigung über die von Foucault in den Blick genommenen Grenzen von Diskurs- und Wissensformationen hinaus zu gewährleisten, muss es jedoch auch re-integrierende Diskursformen geben, die den Zusammenhalt und das Zusammenspiel der eigentlich auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Teilbereiche sichern. Moderne Gesellschaften und ihre jeweiligen Kulturen haben sich daher nicht nur in Spezialbereiche ausdifferenziert, sondern als kompensatorische Antwort darauf auch solche Verfahren entwickelt, die zwischen den Spezialisierungen wieder neue Verbindungen herstellen, also gleichsam Brücken schlagen.

Zu dieser Art von verbindenden, inter-diskursiven Elementen1 gehören alle Formen von Analogien, Metaphern und Symbolen, aber auch Mythen und Stereotype (einschließlich Klischees) sowie unterhalb der Ebene ganzer Erzählungen angesiedelte, wiederkehrende Narrative, wie sie bereits im Alltag (als einem solchen nicht-speziellen Lebensbereich) und dann gehäuft in der Literatur und auch den verschiedenen (Massen‑)Medien anzutreffen sind. In ihrer Gesamtheit bilden sie den allgemeinen Artikulationsrahmen des Diskurssystems einer Kultur. Ganze Interdiskurse (verstanden als Summe solcher Verfahren) stellen von daher eine Art Reservoir von Anschauungsformen bereit, auf das mit Notwendigkeit zurückgegriffen wird, wenn es gilt, Verständigung über die Grenzen der Spezialdiskurse hinweg zu erzielen. Mittels dieser Ensembles von Anschauungsformen können – dadurch, dass sie kohärent verwendet werden – in konkreten Kontexten nun durchaus verschiedene diskursive Positionen artikuliert werden.

Die Gesamtheit der interdiskursiven Verfahren ließe sich dann als die integrierende Kultur einer Gesellschaft beziehungsweise einer regionalen oder auch lokalen Community verstehen. Das, was den immer wieder thematisierten Zusammenhang einer Kultur eigentlich ausmacht, wird vom Ort der Interdiskurstheorie aus damit materiell greifbar, nämlich als Summe derjenigen Brückenschläge, die „die praktisch geteilte Arbeit“ und Gesellschaft „imaginär in Lebenstotalität“2 verwandeln, eine Totalität, die man dann wiederum als jenen kulturellen Zusammenhang erleben kann, der eben auch als Angebot zum ‚Andocken‘ und damit zur Ausbildung von Identitäten dient. Dabei kann es natürlich nicht um vollständige Integration aller gesellschaftlichen Teilbereiche und aller menschlichen Fähigkeiten gehen, wie sie beispielsweise Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen3 entworfen hat, sondern nur um einzelne, in der Regel fragmentarisch bleibende Brückenschläge. Sie sind vor allem im Alltagswissen, in den modernen Medieninterdiskursen und nicht zuletzt auch in der Literatur zu finden.4

Doch wie sieht der Prozess des ‚Sich-Andockens‘ von empirischen Individuen an interdiskursive Positionen als eine Form von Identitätsbildung genau aus? Für die empirischen Subjekte stellen Interdiskurse und die mit ihnen eingenommenen Positionen Angebote zur Assoziation bereit, das heißt zur Ausbildung von mal eher kurzzeitig gültigen, mal langdauerstabil bestehenden individuellen oder kollektiven Identitäten. Eine solche Assoziation, oder ein solcher Sozius, kommt dadurch zustande, dass Individuen sich an die für sie attraktiven Positionen innerhalb des Diskurssystems der jeweiligen Kultur ankoppeln. Die Einheit oder Identität eines solchen Sozius ist also nichts anderes als eine diskursive (semiotische und vor allem sprachliche) Einheit, durch die Einzelindividuen auf jeweils verschiedene Weise zu ebenso verschiedenen Assoziationen, das heißt ebenso verschiedenen Sozialkörpern zusammengeschlossen werden; und sie ist nicht zuletzt eine, die zeigt, wie Identität aus Interdiskursen und ihren Elementen entsteht.5

Das bedeutet aber auch, dass historisch wechselnden Diskurssystemen auch wechselnde individuelle und kollektive Subjektivitätstypen entsprechen, das heißt wechselnde ‚Ich‘- und ‚Wir‘-Subjekte mit entsprechend wechselnden Identitäten. Dem Prozess des Sich-Ankoppelns, der Bildung einer Assoziation würde dann ein Sozialkörper, ein Sozius, entsprechen, für den es keine im Vorhinein schon bestehende Identitätssubstanz gibt und Identität auch nicht zwischen Interakteuren allererst ausgehandelt werden muss.

Um diesen Vorgang etwas anschaulicher zu machen, kann man sich das Funktionieren des Diskurssystems am besten, wie Jürgen Link es vorgeschlagen hat, als eine Maschine zur Reproduktion von Diskursen und der in und mit ihnen eingenommenen diskursiven Positionen vorstellen, als eine Maschine, „die zunächst einmal unabhängig von bestimmten, individuellen Interakteuren ‚laufen‘ kann“. Diese Maschine ‚Diskurssystem‘ hält nun in Form der angebotenen diskursiven Positionen attraktive Schnittstellen für Individuen bereit. Dabei sind die einzelnen Individuen durchaus austauschbar, denn ihre ‚Eignung‘ resultiert nicht aus ihren mitgebrachten Charaktereigenschaften, sondern aus dem „Grad der Kompatibilität ihrer sprachlichen, diskursiven und subjektiven […] ‚Sozialisation‘“ mit der jeweiligen Diskursposition. „Dieser empirische Vorgang des austauschbaren ‚Eintretens‘ verschiedener und wechselnder Individuen in analoge vom Diskurs parat gehaltene Positionen ist nichts anderes als der empirische Prozess der Subjektbildung als ‚Wir‘-Bildung“, also derjenige der Identitätsbildung.6 Die diskursiven Positionen und die Elemente, die sie ausmachen, sichern die dafür nötige Kohäsion, das heißt, wir haben es in die eine Richtung gedacht mit einem Prozess der Ver-Subjektivierung von Diskurselementen und -positionen zu tun, in der anderen Richtung mit dem Andocken an diskursive Positionen.

Noch einmal sei betont: Es besteht keine Vorgängigkeit der Subjekte, „vielmehr bilden sich konkrete Subjekte […] in den ‚Hohlformen‘ allererst heraus, die der Diskurs für Subjekte ‚anbietet‘“.7 Wer also nach ‚Identität‘ fragt, ist gut beraten, sich mit diesen ‚Hohlformen‘, also den Interdiskursen der betreffenden Kultur, zu beschäftigen.

Aus einer soziologischen Perspektive sieht auch Heike Delitz Identitäten als kulturell erzeugte Gegenstände an, als

Imagination, die nur mittels vielfältiger symbolischer oder kultureller Artefakte und ihrer Bedeutungen stabilisiert wird. In diesen wird sie genauer gesagt überhaupt erst sichtbar und teilbar. Sie ist kulturell erzeugt. Die Existenz des Kollektivs ebenso wie auf das Kollektiv bezogene Artefakte basieren auf symbolischen Verkörperungen. Diese drücken also das Kollektiv und dessen Identität nicht einfach nur noch aus. Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollektiven Existenz.8

Nun sind moderne Gesellschaften jedoch nicht nur durch Wissensteilung (in Spezialdiskurse), sondern auch durch Macht(ver)teilung gekennzeichnet, zum Beispiel in Form von Klassen, Schichten oder Normalitäten. „Deshalb entwickeln […] sich in ihnen“ neben den assoziativen auch „dissoziierende Tendenzen“, viele kleine Sub-Assoziationen, die zur Identitätsdiffusion führen können.9 Solche Tendenzen des Auseinanderdriftens „werden entweder erfolgreich unterdrückt“ oder führen zu Friktionen und eventuell sogar Spaltungen der ursprünglichen Assoziation, was in ein unverbundenes Nebeneinander oder auch ernsthaftere soziale Konflikte münden kann.

Hinzu kommt noch eine zweite Verwerfung: Moderne Gesellschaften „tendieren zur ‚Atomisierung‘ (Isolierung und ‚Autonomie‘) ihrer Individuen“. Das führt einerseits zu einer gewissen „Dominanz der Ich-Subjektivität über die kollektive Wir-Subjektivität“, was dann wiederum kompensierende Tendenzen verstärkter Assoziation auf den Plan ruft.10

Identitätskonzepte in der Literatur

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