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Vorwort
ОглавлениеAls Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig vereinnahmt und (tages)politisch instrumentalisiert. Die daraus abgeleitete „Identitätspolitik“ gilt vielen mittlerweile als Chiffre für eine gesellschaftliche Polarisierung und argumentative Kompromisslosigkeit. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat sich in zahlreichen Schriften sachlich mit den gegenwärtigen sozialen Phänomenen beschäftigt, die unter dem Zeichen der Identitätsdebatte stehen:
Was das überhaupt heißt, Identität? Was Identität zunächst bezeichnet, ist das Selbstverstehen von Individuen. Also, wie sie sich selber verstehen, wie sie sich selber interpretieren, wie sie sich einordnen als XY.
Das hat auch immer so eine selbstreflexive Dimension. Man interpretiert sich auf eine bestimmte Art und Weise als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe. Wir unterscheiden auch soziologisch personale Identität von kollektiver Identität. Also, Individuen verstehen sich selbst als Individuum. Das ist die personale Identität. Und dann kann es sein, dass sie sich auch als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Das wäre die kollektive Identität.1
Die Beiträge des vorliegenden Bandes perspektivieren vor diesem Hintergrund den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Fokus auf die Literatur ist hierfür in besonderer Weise geeignet, weil dieser seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen ist. Vor allem der Literatur mit regionalem Bezug kommt in diesem Prozess zentrale Bedeutung zu, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z.B. im Hinblick auf das Genre Heimatliteratur, entwickelt haben. Die aktuelle Literaturproduktion belegt, dass die politische Debatte nicht ohne Spuren geblieben ist. Unter den Neuerscheinungen finden sich signifikant häufig Texte, die sich thematisch auf identitätsstiftende Faktoren wie Geschlecht, Generation, Ethnie, soziale Schicht oder geographische Herkunft fokussieren.
Indem die Funktion der Konstitution wie der Stiftung von Identität durch die Literatur vergleichend und epochenübergreifend betrachtet wird, werden signifikante Aspekte und Tendenzen aktueller Diskussionen hinterfragt und vertieft: Wie verhalten sich regionale Identitätskonzepte mit geschlechts-, gruppen- oder generationsbezogenen Entwürfen, die sich in der Literatur nachweisen lassen? Im Hinblick auf die regionale Referenz stellt sich weitergehend die Frage, ob sich gleichermaßen antagonische und analoge Identitätsentwürfe wie „Europäer:in“ oder „Weltbürger:in“ mit der zunehmenden Globalisierung und kulturellen Vernetzung herausgebildet haben und sich in ein literarisches Programm fassen lassen?
Weil bereits der Begriff der Identität unscharf, vielschichtig und polyvalent ist, diskutieren die Beiträge des Bandes darüber hinaus Konzeptualisierungen und Diskursfelder von Identität im Werk einzelner Autorinnen und Autoren.
Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes im November 2019 nach Saarbrücken eingeladen hat. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank.
Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.
Saarbrücken, im Sommer 2021
Hermann Gätje und Sikander Singh