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Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien – Mit einem Fokus auf die Matrix des An-Instituts „Moderne im Rheinland“
ОглавлениеJasmin Grande, Düsseldorf
2019 und 2020 jährte sich die Gründung der „Moderne im Rheinland“ als Arbeitskreis ebenso wie als An-Institut zum 30. bzw. 20. Mal.1 Ausgangspunkt für den ministeriellen Gründungsappell zum Arbeitskreis Ende der 1980er Jahre war der Mangel an interdisziplinärer Forschung zur Region. Mit der Anbindung zunächst an die Aachener Germanistik über den damaligen Lehrstuhlinhaber Dieter Breuer und seit 2001 an die Düsseldorfer Germanistik über Gertrude Cepl-Kaufmann, steht die home base der „Moderne im Rheinland“ in der Germanistik. Ausgehend von einem komparatistischen Wissenschaftsbegriff arbeitet das An-Institut über Regionen und Modernen, insbesondere das Rheinland und dessen Moderne. Über Jürgen Wiener als zweitem Vorsitzenden des Arbeitskreises hat in den letzten Jahren verstärkt eine Anbindung an das Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattgefunden.
Die Moderne im Rheinland hat in der Vergangenheit, mit ihrer Befragung der Rhetorik der Region, der Gedächtnistopographien im Vergleich sowie der Arbeit an einer Kulturtopographie der Bonner Republik Schwerpunkte gesetzt, die auf die Relevanz von Ausstellungen für die Region,2 den Kirchenbau in der Moderne,3 den Transfer von Avantgarde im Wissensbegriff4 oder auch das Spannungsfeld einer regionalen Moderne zwischen Kunst, Literatur, Engagement und Diskurs aufmerksam gemacht. Mit dem Forschungsschwerpunkt der „Bonner Republik“ gerät insbesondere im Vergleich zur frühen Moderne ein Zeitraum in den Blick, in dem sich die Literatur an ihrem raumbeschreibenden Potential in der Erkundung eines bundesrepublikanischen Profils erprobt hat. Sei es in Form von Schriftstellervereinigungen wie der Dortmunder Gruppe 61,5 der eine vergleichbar enge Kooperation mit Künstler:innen, wie es 1919 z.B. im „Jungen Rheinland“ oder im Aktivistenbund stattfand, nicht nahe lag. Sei es in Form von poetologischen Strategien, wie Rolf-Dieter Brinkmanns Auseinandersetzung mit Köln oder Karin Strucks Texten aus den 1970er Jahren,6 die in ihrer Arbeit an Unmittelbarkeit und Authentizität einen mentalitätsgeschichtlichen, von der Region her gedachten literarischen Raum der BRD entwerfen.7 Wo die Anfänge der Moderne ein Plädoyer für das Miteinander der Künste führen, versucht die deutschsprachige Postmoderne die Befragung von Bild und Text über den Text zu lösen.
Nicht zuletzt die Position zwischen den Disziplinen und der daraus motivierten Blickwechsel haben die literatur- und kulturtheoretischen Reflexionen des eigenen Forschungszugriffs motiviert, in die auch wissenschaftstheoretische Fragen hineinspielen. Dementsprechend ist das Nachdenken darüber, wann die Forschungsobjekte der Kunst und wann sie der Literatur zugehören, inwiefern dies die Perspektiven auf die Region verändert ebenso wie der Vergleich der theoretischen Positionen der Disziplinen und der divergenten Forschungspraktiken Teil des Diskurses im Institut. Denn bekanntermaßen hat die Ausdifferenzierung der Disziplinen zu Verständigungshürden zwischen den Vertreter:innen der einzelnen Fächer geführt, z.B. in Form divergierender Moderne-Begriffe in der Kunstgeschichte, der Geschichte und der Germanistik.8 Und während im 19. Jahrhundert die „historische Betrachtungsweise“ als verbindendes Element, „um die kaum noch existierende, aber dringend benötigte Geschichte einer Kulturnation zu rekonstruieren“,9 eine gemeinsame Wissensidentität für die Fächer der Philosophischen Fakultäten ermöglicht hat, so haben bereits die Autor:innen, Theoretiker:innen, Künstler:innen etc. der Moderne auf die Probleme einer historiographischen Systematik hingewiesen: „Es ist notwendig, das Gedankenwerk einer einheitlichen Historie zu zerstören. Jede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl.“10 In der Literatur- und Kulturhistoriographie der Moderne spielen also neben Fragen nach den disziplinär motivierten Perspektiven eine ebenso große Rolle wie die Frage, wie die Vergangenheitsnarrative angeordnet und konstruiert sind und welchen Erkenntniswert der Anteil der Geschichte darin einnehmen kann.
Wie also funktioniert regionale Literaturgeschichtsschreibung im Kontext der Moderne? Eine Antwort auf diese Frage haben unlängst Britta Caspers, Dirk Hallenberger, Werner Jung und Rolf Parr publiziert. Sie arbeiten darin mit dem Konzept der Kulminations-/Knotenpunke:
Auf regionale Literaturgeschichtsschreibung übertragen bedeutet dies, das Handlungssystem Literatur (auf das die bisherigen Arbeiten zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung hauptsächlich abheben) mit dem Symbolsystem Literatur (und damit der konkreten Ästhetik der einzelnen Texte) kurzzuschließen.11
Die Grundlage des Ansatzes bildet ein „interdiskurstheoretischer Zugriff“, der „nach denjenigen diskursiven Elementen [fragt], die Texte und Regionen gleichermaßen zugesprochen werden, […]. Damit aber können Regionen und Regionalitäten […] als ‚Kulturraumverdichtungen‘ begriffen werden […].“12
Dem Begriff der Kulturraumverdichtung ähnlich, allerdings stärker im medialen Arbeitsfeld der Kulturwissenschaften angesiedelt, ist der Begriff der Kulturtopographie, den Gertrude Cepl-Kaufmann für das Forschungsprogramm der „Moderne im Rheinland“ ausdifferenziert hat.13 Ausgehend von der Befragung einer Rhetorik der Region,14 die eine Methode zur Befragung von Ereignissen in ihrer regionenkonstitutiven Relevanz darstellt, rückte zunächst der Vergleich einer Gedächtnislandschaft im Dreiländereck15 und, daran anschließend, mit dem Forschungsschwerpunkt der „Bonner Republik“,16 die Frage nach der kulturwissenschaftlichen Verdichtung von Regionenentwürfen als Erinnerungsorten in den Blick und damit der Begriff der Kulturtopographie.17
Aus einer medien- und kulturtheoretischen Perspektive hat Hartmut Böhme das Thema der kulturellen Topographie bereits 2005 in einem umfangreichen Sammelband bearbeitet, dabei standen allerdings nicht die regionalen Aspekte deutschsprachiger Literatur, sondern vielmehr die raumtheoretischen Lesarten von Literatur im Kontext von Transnationalität im Fokus. Der Band ist damit dem Forschungsfeld der interkulturellen Literaturwissenschaft zuzuordnen, die nach den Transfers zwischen Fremdem und Eigenem fragt.18 In der Übertragung von Ereignissen und biographischen Stationen auf Karten, so zeigt Toni Bernhardt anhand der Geschichte der Literaturgeographie, ist dieses Nachdenken über das Verhältnis von Text und Raum vorgenommen worden.19
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Michael Böhler, Co-Leiter und Nationaler Koordinator des trilateralen Forschungsschwerpunkts der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Schweizerischen Nationalfonds zu „Differenzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozess der Modernisierung“ arbeitet mit dem Begriff der Kulturtopographien, allerdings ohne ihn methodisch zu klären.20 Im Fokus des Forschungsschwerpunkts stand die Untersuchung von „Vielfalt und Einheit der Literatur im deutschsprachigen Kulturraum unter dem Gesichtspunkt ihrer kulturtopographischen Ordnungsstrukturen und deren Dynamik“.21 Es ging in insgesamt 35 Projekten um die Frage, welche Karte sich als verbindendes Narrativ für die Gliederungselemente von „deutschsprachig“ und „Literatur“ entwickeln ließ. Neben der Relevanz regionaler Fragestellungen in der Ablösung nationaler Diskurse sowie einer Verschiebung des Fokus’ auf europäische Identitätsfragen, legten die theoretischen Verschiebungen des Literaturbegriffs im Kontext von New Historicism, Diskursanalyse/Kulturpoetik und Wissenspoetik die Grundlage zur Einrichtung eines trilateralen Forschungsschwerpunkts. Dementsprechend stellt Michael Böhler in seinem eröffnenden Beitrag für die regionale Literaturgeschichte fest:
Zu den Folgen des Nationalsozialismus und des Abdriftens der Germanistik in eine ‚Deutsche Wissenschaft‘ gehörte in der Nachkriegszeit in unmittelbarer Reaktion darauf der fast völlige Diskussionsabbruch von Fragen um binnenkulturelle Ausdifferenzierungen des deutschsprachigen Literaturraums in unterschiedliche Kultur- und Literaturlandschaften mit je eigenen Traditionslinien und literarischen Ausprägungen, die Ausblendung jener Fragen also, die im Zusammenhang mit dem Nationalliteraturdiskurs des 19. Jahrhunderts, teilweise schon im 18. Jahrhundert, eingesetzt hatten und die in der Folge mit wechselnder Intensität und zu je unterschiedlichen Zeitpunkten in Deutschland, Österreich und der Schweiz diskutiert worden waren.22
Böhlau zeigt, wie die Frage regionaler Literaturgeschichtsschreibung anfänglich nicht nur an ihrer eigenen Wissenschaftsgeschichte,23 sondern auch im theoretischen state of the art des Faches, der werkimmanenten Textinterpretation, in den 1950ern scheitert und über die Vorstellung, dass „nur das Mindergeglückte die Spuren seines Herkommens an sich trägt“24 die Suche nach einem übergeordneten – nationalen – Narrativ dennoch seine Dominanz behauptet. Dass nun seit 20–30 Jahren die regionale Literaturgeschichtsschreibung wieder an Konjunktur gewinnt, ist sicherlich auch ein Impuls, der aus der Arbeit an der Europäischen Gemeinschaft sowie dem dazugehörigen Nachdenken über ein gemeinsames Narrativ, über das Spektrum geteilter Erinnerungsmomente resultiert: „It is, therefore, not surprising that culture and cultural heritage became an integral element of European political discourse on a collective European identity long before the EYCH, notably since the very beginning of the European project after the Second World War“,25 so der habilitierte Historiker und Forschungsadministrator im Europäischen Parlament Markus J. Prutsch. Die Suche nach verbindenden Inhalten und Perspektiven zielt dabei weniger auf Vereinheitlichung, sondern auf die Entwicklung eines Begriffs von Diversität, der zugleich verbindend ist.26 Dies findet aktuell allerdings nicht im Bereich der Literatur statt. So lässt sich das Bauhausjahr 2019,27 mit seinen zentralen Projekten „bauhaus imaginista“28 und den „Bauhaus Agenten“29 als ein Versuch verstehen, der, gleichwohl aus Deutschland heraus, an Möglichkeiten eines transnationalen Geschichtsnarrativs gearbeitet hat. Ebenso die Organisation der Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs 2014 von Frankreich, England und Nordrhein-Westfalen aus, die u.a. an der Frage nach einer europäischen Geschichte des Ersten Weltkriegs gearbeitet haben.30 Das Potenzial von Kunst, Literatur und Kulturtheorie als transkulturelle Metanarrative hat Konjunktur und wird als gemeinsames Jahr und Jubiläum inszeniert, so auch im European Year of Cultural Heritage (EYCH) 2018.
Mit diesem Appell an die Fassbarkeit von Ambivalenz und Diversität, Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, Moderne und Antimoderne haben sich in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zuletzt vor allem die Arbeiten zur Theorie auseinandergesetzt. Für die Literaturwissenschaft kulminiert das in einem erweiterten Textbegriff, den immer auch die Debatte um das Spezifische von Texten begleitet, also das, was z.B. die Germanistik wiederum als Textwissenschaft legitimiert und damit von anderen Disziplinen abgrenzt, so z.B., ausgehend von der Diskurstheorie, über die Befragung von Texten auf ihre Wissensbegriffe, in den darin vermittelten Kultur- und Wissenspoetiken. So gilt es, auch für die regionale Literaturgeschichtsschreibung, Komparatistik, Interdisziplinarität und Textbegriff in ein Verhältnis zu setzen. Einen Differenzierungsansatz stellt dabei die Frage nach dem Impact dar, den Texte und ihre Wissenschaften auf die außertextuelle und außeruniversitäre Realität haben.
Wenn Eberhard Lämmert also auf dem Lateinamerikanischen Germanistenkongress 2003 die Relevanz der Regionalwissenschaft für die Zukunft der Germanistik betont,31 so zeigt er damit Wege der germanistischen Realitätsrelevanz auf und vernetzt das prozessuale Handlungsgeschehen in den Texten mit der außertextuellen Realität, er legitimiert das Fach. Die Beschreibung der Laokoon-Gruppe wird damit raumgestaltend. Wilhelm Amann hat, den Beitrag Eberhard Lämmerts aufgreifend, über die Definition des Begriffs Region in der Geschichtswissenschaft, der Soziologie und der Sozialgeographie u.a. in Verbindung mit dem Begriff der Globalisierung eine methodisch orientierte Definition von Region erarbeitet:
Regionen dieses Typs reagieren auf jene Transformationsprozesse, die im Kontext des alten Regionalitätstyps und seiner Fixierung auf Heimat und Nation, auf Familie, Brauchtum, Sprachnormen und vor allem Herkunft nicht mehr bewältigt werden können. Als flexible Rahmungen rechnen sie grundsätzlich mit einer heterogenen Population mit gestreuten Milieus, pluralen Lebensstilen, Migrationskulturen oder Transnationalitäten. Sie kommen also einem Zugehörigkeitsbedarf entgegen, der weniger an überkommenen Traditionen als vielmehr an Routinen und Normalitäten orientiert ist, d.h., sie haben transitorischen Charakter und setzen auch die Austauschbarkeit sogenannter regionaler Identitäten voraus.32
Mit der Befragung zweier Texte – Stefan Thomes Grenzgang (2009) und Frank Goosens Sommerfest (2012) – nach der Übertragbarkeit dieses fluiden Regionenbegriffs in die Literatur schließt Amann und zeigt, dass es schwierig bleibt:
Den zitierten Vorwurf des Protagonisten [in Frank Goosens Sommerfest], die Kulturhauptstadtkampagne arbeite mit Verklärung, muss sich der Roman selbst gefallen lassen. Dieser performative Widerspruch würde dann auch den Stellenwert von Goosens Roman in einer Literaturgeschichte der Region bestimmen, wohingegen der mit einem ähnlichen Handlungsgerüst arbeitende Roman von Thome unspektakulär über die Kontingenz regionaler Lebensräume erzählt und zu einem zeitgemäßen Verständnis des Regionalen beiträgt.33
Grundlegend für diesen kritischen Blick auf das Potenzial zweier Beispiele der Gegenwartsliteratur für die regionale Literaturgeschichtsschreibung ist dabei der Literaturbegriff und die Nähe zwischen Forschung und Forschungsobjekt sowie Moderne und Antimoderne.
Wo zuvor nach der politischen Relevanz des Faches gefragt wurde, geht es nun um die Realitätsrelevanz des Mediums. Während die Differenzierung von Regionenbegriffen in der interdisziplinären Perspektive abhängig von der Verabschiedung überkommener positivistischer Raum- und Wissensbegriffe ist sowie dem Austausch zwischen den Fächern, steht die Literatur in einem Spannungsverhältnis von Rezeptionsästhetik34 und Modernität im Sinne ihres Potenzials, zeitgemäß auf den diskurstheoretischen state of the art zu reagieren.
Drei Punkte können aus dem Forschungsdiskurs zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung an dieser Stelle notiert werden:
1 In der Arbeit an einer regionalen Kulturgeschichtsschreibung dominiert die Germanistik.
2 Die Frage nach einer regionalen Literaturgeschichte ist fachkonstitutiv für die Germanistik.
3 Regionale Literaturgeschichtsschreibung stellt in ihrem Bezug auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen eine Möglichkeit dar, die Sichtbarkeit und Realitätsrelevanz der Forschungsdisziplin und der Literatur zu erhöhen.
Mit der Titelmatrix der „Moderne im Rheinland“ ist nicht nur der regionale und zeitliche Zugriff vorgegeben – Moderne und Rheinland –, sondern über diese auch die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt, Objekt und Theorie. Ausgehend von dem Verständnis, dass Forschung eine Möglichkeit der Wissensproduktion ist, wie auch Literatur und Kunst Wissen produzieren, geht es hierbei um Distanz und Nähe. Mit dem Begriffsfeld der Moderne ist die Frage nach der Konstruktion und Auflösung von Spannungsfeldern wie Natur/Kultur, Anfang/Ende, Ich/Wir35 verbunden. Diesem Denken in Gegensätzen haben die epochemachenden Protagonist:innen z.B. im Monismus widersprochen:
Dieser Einheit der Natur entspricht vollständig die Einheit der menschlichen Naturerkenntnis, die Einheit der Naturwissenschaft, oder was dasselbe ist, die Einheit der Wissenschaft überhaupt. Alle menschliche Wissenschaft ist Erkenntnis, welche auf Erfahrung beruht, ist empirische Philosophie, oder wenn man lieber will, philosophische Empirie. Die denkende Erfahrung oder das erfahrungsmäßige Denken sind die einzigen Wege und Methoden zur Erkenntnis der Wahrheit.36
Der Monistenbund hat mit Louise Dumont, Hedda und auch Herbert Eulenberg, dem Mitbegründer der Künstlervereinigung „Das junge Rheinland“ wichtige Vertreter:innen, die in der Region lebten und diese gestalteten. Die Rekonstruktion von Wissensprozessen hat auch in den transcultural studies Relevanz. Dabei verstehe ich Transkulturalität ausgehend von Kultur als differenztheoretischem37 Begriff als Möglichkeit, Regionen nicht nur aus dem Kontext ihrer Grenze, sondern in der umgekehrten Denkbewegung, ihres komplexen Miteinanders zu verstehen. So hat der Literaturwissenschaftler und Japanologe Naoki Sakai für die Area Studies einen Forschungsansatz entwickelt, der mit der Matrix der „Filter of translation“ nach den Transferprozessen zwischen Begriffen und Theorien in der Wissenschaftsgeschichte fragt.38 Ausgehend von der Frage, welche Filter jede Übersetzungsleistung, sei es eine sprachliche, sei es eine regionale, sei es eine zeitliche, einzieht, und welche Inhalte hierbei verloren gehen, zeigt Sakai auf, dass der Begriff des Westens als Trope eine Denkbewegung animiert, die mit dem Westen das meint, was nicht der Rest ist: „The west and the rest“.39 Der Westen ist ein nur scheinbar geographischer Begriff, denn tatsächlich lässt sich sein geographischer Raum nur über die Abgrenzung zum ‚Rest‘ bestimmen und dieser ‚Rest‘ generiert sich aus der jeweiligen Redesituation, nicht als fester Bestand. Insofern ist Westen eine Trope, die Machtbewegungen konzipiert und die Basis hierfür bildet eine Geisteswissenschaft, die sich selbst im ‚Westen‘ verortet und diejenigen, die nicht Teil dieses Westens sind, im Forschungsfeld der Ethnologie zusammenfasst. In diesem Zugriff besteht ein qualitativer Unterschied darin, dass der Westen die Theorien und Methoden, um über sich selbst zu forschen ebenso entwickelt wie die Methoden, die benötigt werden, den ‚Rest‘ zu erforschen. Während der Westen im Bereich der Geisteswissenschaften also sowohl Subjekt der Forschung als auch Objekt ist, ist der Rest ausschließlich Objekt. Die „spectres of the west“ sind somit z.B. koloniale Selbstverständnisse als Basis in den methodischen und rezeptionsästhetischen Gedächtnissen sowie Ritualen unserer Geisteswissenschaften. Mit seinem Zeitschriftenprojekt Traces geht Sakai seit 2001 diesen Zusammenhängen nach und lädt neben weiteren Autor:innen auch Künstler:innen ein, sich dem Themenfeld zu nähern. Für das hier skizzierte Forschungsfeld der regionalen Literaturgeschichtsschreibung erscheint Sakais Ansatz zunächst zu stark im Kontext der amerikanischen Area Studies angesiedelt, die nach 1945 aus der politischen Situation des Kalten Krieges als interdisziplinäres Forschungsfeld aus Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Kulturwissenschaft gegründet wurden und Herrschaftswissen über andere Regionen und Nationen generieren sollten. Für die regionale Literaturgeschichtsschreibung können bei Sakai jedoch neben der Hantologie die Aushebelung der Distanznahme zwischen forschendem Subjekt und zu erforschendem Objekt übertragen werden; oder anders, die Frage, aus welcher Perspektive der Zugriff auf die Kulturtopographien erfolgt. Wissenschaftstheoretisch ist die Fragestellung brisant, macht sie doch den Transfer von Wissensproduktion und -transfer aus der Universität in andere Institutionen und in die Öffentlichkeit, z.B. Wikipedia, sichtbar und findet aktuell z.B. in Ansätzen und Begriffen wie artistic research, ästhetisches Denken, TheoryPractice oder der Transgression im Kontext von Avantgarde statt. In Mieke Bals Trias der Kulturanalyse – „kulturelle Prozesse, Intersubjektivität und Begriffe“40 – spiegelt sich die Befragung des Objektes und das notwendige Vermittlungspotential im Begriff der Intersubjektivität wieder. Wenn Gertrude Cepl-Kaufmann ihren Band 1919 – Zeit der Utopien. Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres als „Wimmelbild“ bezeichnet, so zielt sie damit auf eben dieses Miteinander von Theorie und Weiterschreibung ab. Bernhard Siegert hat in seiner Einleitung in das Cluster „Repräsentationen diskursiver Räume“41 drei mögliche Lesarten von Karten als Topographien gelistet:
1 Eine hermeneutische Lesart, die das Narrativ der Karte befragt.
2 Eine medientheoretische Lesart, die den „subjektkonstituierenden Charakter“42 der Karte befragt, was sich vielleicht auch mit dem Begriff der Agency verstehen lässt.
3 Ein phänomenologisch-grammatologischer Ansatz, der die Topographie nicht in „die Intentionen eines kulturell prädisponierten Bewusstseins, sondern auf eine Rhetorik [hin übersetzt]. […] Mögliches Handeln schreibt sich immer schon in die Bewegung eines Textes ein, der unablässig neu gewebt und wieder aufgeknüpft wird.“43
Was lässt sich hieraus für die regionale Literaturgeschichtsschreibung gewinnen? Dem hier vorgestellten Forschungsdiskurs zwischen dem Begriff der Kulturtopographie als methodischem Zugriff sowie der Frage nach der Relevanz der Literatur darin und vice versa dem Input in die Öffentlichkeit sind in diesen Perspektiven neue Möglichkeiten gegeben. In einem Selbstverständnis, das dem universitären Forschungsdiskurs neben der Wissensproduktion und -vermittlung auch die Aufgabe des Wissensmanagements gibt, ermöglichen z.B. die citizen science neue Ansätze der Kartographie. Damit ist nicht nur die Erhebung von Daten gemeint, sondern ein partizipativer Wissenschaftsbegriff, der die regionale Literaturgeschichtsschreibung aus ihren institutionen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten lösen kann und den Literaturbegriff mit dem „Kit“ eines transkulturellen Regionenverständnisses aktualisiert. Dazu bedarf es eines Netzwerks der regionalen Literaturgeschichtsschreibung, das sowohl die verschiedenen, z.B. institutionell verankerten Literaturbegriffe – zwischen Literaturarchiven, Schreib- und Lesezirkeln, Universitäten, Forschungsprojekten und Museen – verbindet als auch regionenvergleichend arbeitet.