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I. Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma1

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Jörg Krappmann, Olomouc

Als Friedrich A. Kittler die Aufschreibesysteme mit einem Nachwort ausstattete, lagen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung seines diskursanalytisch grundierten medientheoretischen Ansatzes bereits einige Zeit zurück.2 In diesem paratextuellen Statement blickt Kittler mit einigem Stolz auf das mittlerweile Erreichte zurück und spart – wie nicht anders zu erwarten – Seitenhiebe auf das (nicht nur) germanistische Establishment nicht aus. Nachbetrachtung und kritische Gegenwartsdiagnose gerinnen in der resümierenden Feststellung: „Der Glaube an unerschöpfliche Werke ist einfach die Unlust, neben heiligen Schriften auch ihre verstaubten Geschwister zur Hand zu nehmen“.3 Unlust wie Verstaubtheit lassen sich auch auf Umgang und Zustand der Regionalliteratur übertragen. Wurde doch die Region, gerne als Provinz bezeichnet, nur aufgesucht, um ihr vergessene Texte der deutschen Literatur zu entreißen, die selbstverständlich einem überregionalem Anspruch genügen müssen (Mecklenburg), oder um unter der Devise einer (angeblichen) Komplexitätsreduktion im begrenzten Raum (literatur-)soziologische Studien zu erstellen (von Heydebrand, Stüben), die weitaus mehr über die Produktionsverhältnisse aussagen als über die regionalliterarischen Texte selbst, die meist ungelesen blieben.4 In beiden Vorgehensweisen fand die Regionalliteratur als eigenständige literaturwissenschaftliche Einheit mit epistemischem Anspruch keine Anerkennung.

Um die Leistungsstärke regionalliterarischer Untersuchungen aufzuzeigen, die scheinbar feststehenden Wertungen und unterkomplexen Zuschreibungen entraten, werden im Folgenden Modellierungen von Künstleridentitäten in der Moderne anhand einiger Beispiele aus den Böhmischen Ländern aufgezeigt,5 in denen der Aufbau von Mehrfachidentitäten behandelt wird. Dass die Ansätze zu einem „regional turn der Literaturwissenschaft“ gerade in dieser Kulturregion ihren Ausgangspunkt nahmen,6 ist zum einen der Dichotomisierung zwischen der „Prager deutschen Literatur“ und der sogenannten sudetendeutschen Literatur geschuldet, die den Konstruktionscharakter von Ab- und Ausgrenzungsmodellen gegenüber regionalen Literaturphänomenen besonders deutlich hervortreten lässt. Die umfassende Debatte kann hier zwar nicht nochmals aufgerollt werden, aber so viel sei gesagt: Die Prager deutsche Literatur ist eine rein heuristische Kategorisierung, die der Germanist Eduard Goldstücker in den 1960er Jahren konzipierte, um innerhalb des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei überhaupt wieder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur zu ermöglichen. Eine Ausweitung des Objektbereichs war angestrebt, konnte aber aufgrund der Zerschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 nicht mehr vollzogen werden. Die Prager deutsche Literatur, als deren Zentrum nun Franz Kafka gesehen wird, ist also ein ideologisch grundiertes Narrativ, das jedoch über eine enorme Reichweite innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft verfügt.7

Zum anderen war diese Region von jeher von (nicht nur) kulturellen Austauschprozessen geprägt. Das liegt zum einen an der interethnischen Konstellation der Bevölkerung, die neben kleineren Minderheiten auf einem Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden beruht. Zum anderen auf einer Mittellage zwischen den lange Zeit preußisch dominierten deutschen Gebieten auf der einen und der Habsburger Monarchie auf der anderen Seite, wobei sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine kulturelle Eigenständigkeit artikulierte. Durch den Aufstieg des Nationalgedankens, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts zum hegemonialen Dispositiv des Nationalismus entwickelt hatte, wurden die soziopolitischen Verhältnisse prekär, da eindeutige nationalkulturelle Positionierungen präferiert und landespatriotische oder utraquistische Identitätsmodelle abgelehnt, zumindest aber mit Argwohn betrachtet wurden. Die Formulierung von Hildegard Kernmayer, dass „radikalisierte Kontingenz-, Differenz- und Alteritätserfahrungen in der Kultur der zentraleuropäischen Moderne jene Krisen der Identität zeitigen, die mittlerweile als Signatur der Epoche fungieren“ trifft auf die Böhmischen Länder deswegen in besonderen Maße zu.8

Identitätskonzepte in der Literatur

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