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Christian Fürchtegott Gellert
und die Empfindsamkeit
ОглавлениеSikander Singh
1768, wenige Monate nach dem Tod des Schriftstellers Laurence Sterne, veröffentlichte Johann Heinrich Cramer die deutsche Übertragung des letzten, unvollendet gebliebenen Werkes des Dichters unter dem Titel „Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien“. Im Vorbericht der Ausgabe teilt der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode eine Passage aus einem Brief von Gotthold Ephraim Lessing mit, die deshalb Beachtung gefunden hat, weil der Dramatiker als deutsche Entsprechung des englischen Begriffs „sentimental“ das Wort „empfindsam“ vorschlägt.1 Die Vokabel ist zwar bereits in den Jahren zuvor nachweisbar, etablierte sich aber erst nach der Publikation der deutschen Ausgabe des englischen Romans.2
Die Geschichte des Neologismus ist nicht allein deshalb interessant, weil in ihr die Genese eines ästhetischen Konzeptes erkennbar ist, das die Debatten der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts wesentlich bestimmt hat. Für die Frage nach dem Einfluss der Werke und Schriften Christian Fürchtegott Gellerts auf die Entwicklung der deutschen Empfindsamkeit ist die Beobachtung bedeutsam, weil sie sichtbar macht, dass der Schriftsteller, der 1769, also ein Jahr nach der Veröffentlichung der „Empfindsamen Reise“, verstarb, zwar nicht als Vertreter dieser literarischen Strömung gelten kann; sich aber in seinem Werk jene philosophischen Diskurse und ästhetischen Paradigmenwechsel abzeichnen, welche die prozesshaften Übergänge und Verwerfungen im Spannungsfeld von mittlerer und später Aufklärung, von literarischem Rokoko, Empfindsamkeit und Sturm und Drang charakterisieren.
Dieser Befund zeigt sich bereits in den Urteilen, die der Leipziger über die frühen Werke von Christoph Martin Wieland und Friedrich Gottlieb Klopstock formuliert. So schreibt er über die „Empfindungen eines Christen“3: „Wielands Empfindungen haben, als Poësie betrachtet, große Schönheiten für die Einbildung; aber mein Herz weigert sich, seine Sprache zu reden, wenn es mit Gott redet.“4 Indem Gellert auf die „Schönheiten für die Einbildung“ eingeht und damit einen der zentralen Begriffe der Dichtungslehre des Schweizers Johann Jakob Breitinger aufgreift, erkennt er zwar an, dass Wielands Werk trotz seines religiösen Inhalts einen ästhetischen Eigenwert behauptet, gleichwohl vermag er dies nicht mit seinem eigenen Dichtungsideal zu vereinbaren.5
Die gleiche Dialektik spiegelt sich auch in Gellerts Urteilen über die Dichtungen Klopstocks. In einem Brief an Charlotte Sophie von Bentinck bezeichnet er den Dichter als ein „großes aber schwehrdenkendes Genie“.6 Die nachfolgend skizzierten Leseeindrücke antizipieren zwar die emphatischen Urteile, die Klopstocks Werk in den literarischen Zirkeln der Zeit hervorgerufen hat, stellen aber zugleich die Vorbehalte heraus, die Gellert gegenüber dem Jüngeren hegt. Indem er am Ende seines Schreibens feststellt, dass Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger Klopstock „zu hastig u. ausschweifend gelobt“ haben, während die „andre Partey“ den Dichter „zu seicht u. zu beleidigend getadelt“ hat, betont er seine eigene, vermittelnde Stellung zwischen jenen Positionen, deren Widerstreit den poetologischen Diskurs der Epoche bestimmt hat.7
In „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Johann Wolfgang von Goethe über Klopstock und seinen Einfluss auf das Dichtungsverständnis seiner Epoche: „Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen.“8 Gellert ist einer der Wegbereiter dieser neuen ästhetischen Ideale, die Goethe im Werk Klopstocks erstmals in der Geschichte der deutschen Literatur in produktiver Weise ausgebildet findet.9 Indem er an dem rationalistischen Ordnungsbegriff der Aufklärung festhält, die das literarische Kunstwerk als die „Objektivation eines Regelsystems“ begreift, und bereits dem Subjektiven des Gefühls Ausdruck verleiht und mit diesem „empfindsamen“ Ansatz sowohl produktions- als auch wirkungsästhetische Potentiale des literarischen Schreibens entfaltet, wird der Übergang zweier Epochen in seinem Werk manifest.10 Wie sein akademischer Lehrer Johann Christoph Gottsched beharrt Gellert jedoch auf der Vorstellung, die Literatur müsse auf einer moralischen Überzeugung gründen und diese – im Sinne des Horazischen „aut prodesse volunt aut delectare poetae“ – auf eine ebenso angenehme wie ästhetisch überzeugende Weise vermitteln, denn neben den „Eigenschaften des Verstandes, die ein wahrer Poet besitzen und wohl anwenden muß, soll er auch von rechtswegen ein ehrliches und tugendliebendes Gemüth haben“.11