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4. Bildung und Gerechtigkeit aus Perspektive der Anerkennung Anerkennung und Bildung

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Anerkennung hat sich in den letzten Jahren zu einer Schlüsselkategorie sozialwissenschaftlicher Forschung entwickelt. Als Ausgangspunkt dafür kann die Neuformulierung der Anerkennungstheorie durch Axel Honneth gelten, dessen Werk „Kampf um Anerkennung“ 1992 erschien. Sein Anspruch ist es, eine „normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie“ (HONNETH 1992, S. 7) zu entwerfen, was unter Bezugnahme auf die Schriften G. W. F. Hegels und G. H. Meads geschieht. Honneth stellt zunächst einen Zusammenhang zwischen den Anerkennungsansprüchen von Individuen im Laufe der Subjektivitätsentwicklung und normativen Ansprüchen von Individuen her. Diese sind in deren wechselseitigen Anerkennungsbeziehungen bereits strukturell angelegt. Anerkennung fungiert als Mechanismus des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und kann über soziale Bewegungen zu gesellschaftlichem Wandel führen (vgl. ebd.). Honneth entwickelt ein intersubjektivitätstheoretisches Personenkonzept, wonach Erfahrungen in drei ontogenetisch aufeinander aufbauenden Formen der wechselseitigen Anerkennung (Liebe, Recht und Wertschätzung) wesentlich für eine ungestörte Selbstentwicklung sind. Diesen Formen der Anerkennung stehen drei Formen der Missachtung (physische Misshandlung, Entrechtung und Entwürdigung) (vgl. ebd.) gegenüber. Anerkennungserfahrungen in diesen drei Bereichen ordnet Honneth drei Formen der Selbstbeziehung zu. Als strukturellen Kern gegenseitiger Anerkennungsbeziehungen führt er die Liebe an. Aus der Ausbalancierung von Bindung und Selbstständigkeit, einer wichtigen Entwicklungsaufgabe der frühen Kindheit, erwächst Selbstvertrauen, das für die „autonome Teilhabe am öffentlichen Leben die unverzichtbare Basis ist“ (HONNETH 1992, S. 174). Über die Zuerkennung von Rechten hingegen entwickelt der erwachsene Mensch Selbstachtung, denn dadurch bekommt er die Möglichkeit, „sich auf sich selber als eine moralisch zurechnungsfähige Person zu beziehen“ (ebd., S. 191f.). Mit sozialer Wertschätzung verbindet sich ein Vertrauen darin, dass die eigenen Leistungen und Fähigkeiten von der Gesellschaft positiv anerkannt werden. Aus diesen Erfahrungen erwächst Selbstschätzung (vgl. ebd.). Das Angewiesensein der menschlichen Selbstentwicklung auf positive Erfahrungen der Anerkennung bedeutet zugleich, dass Erfahrungen der Missachtung „eine psychische Lücke [aufreißen], in die negative Gefühlsreaktionen wie die Scham oder die Wut treten“ (ebd., S. 220). Diese können zum „motivationalen Anstoß eines Kampfes um Anerkennung“ (ebd., S. 224) werden, wenn durch Solidarisierung mit ähnlich missachteten Individuen eine soziale Bewegung entsteht, die über die Erfahrungen Einzelner hinausweist. Honneth arbeitet damit einen Zusammenhang zwischen moralischen Missachtungserlebnissen und dem Entstehen von kollektiven sozialen Bewegungen (vgl. ebd.) heraus, die den Motor gesellschaftlichen Wandels darstellen. Aus Perspektive der Bildungsgerechtigkeit kann gefragt werden, wie beispielsweise sogenannte Bildungsverlierer mit ihren Missachtungserlebnissen umgehen. Bisher kann kein „Kampf“ dieser Gruppe gegen gesellschaftliche Benachteiligung beobachtet werden.

Die Neuformulierung des Anerkennungsansatzes fand in der Folge rasch Eingang in die Bildungswissenschaften. Die Attraktivität des Konzeptes liegt in dessen Vielseitigkeit und Anschlussfähigkeit, insbesondere für pädagogische und bildungstheoretische Fragestellungen. Die Bedeutsamkeit von Anerkennungserfahrungen für die Subjektentwicklung bietet dafür zahlreiche Anknüpfungspunkte. Im Anschluss an Honneth entwickelt Annedore Prengel eine „Pädagogik der Vielfalt“ (PRENGEL 1993), für die sie interkulturelle, feministische und integrative Pädagogik unter einer anerkennungstheoretischen Perspektive vereinigt und die Kategorie Anerkennung in verschiedenen, an Honneth orientierten Sphären für pädagogische Kontexte brauchbar macht: Die Anerkennung des Individuums in intersubjektiven Beziehungen, die Anerkennung gleicher Rechte (besonders institutioneller Zugänge) und die Anerkennung der Zugehörigkeit zu (sub)kulturellen Gemeinschaften (vgl. PRENGEL 1993). Darauf aufbauend entwirft sie siebzehn Elemente einer „Pädagogik der Vielfalt“ (vgl. ebd.).

Michael Winkler stellt 1998 unter Bezugnahme auf Hegel und Honneth fest, dass Anerkennung nicht nur „in Termini strukturell beschreibbarer Beziehungen“ (WINKLER 1998, S. 161) wie Beziehungen in den Sphären Liebe, Recht und Solidarität nachgezeichnet werden darf, sondern dass sie Bildung als Prozess einschließen muss. Schule und Unterricht fungieren bei Hegel als Vermittler von Welt, die bereits die „sittlichen Grundbedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft“ (WINKLER 1998, S. 158) enthalten. Damit wird die Notwendigkeit einer öffentlichen Erziehung und Bildung für die Entwicklung von Selbstbewusstsein herausgestellt. Durch einen mit Hegel begründeten prozesshaften Charakter des Anerkennungsbegriffes kommt Winkler zu dem Schluss, dass der Diskurs um Anerkennung vor allem das Entwicklungspotential von Einzelnen und Gesellschaft im Blick haben muss (vgl. ebd.).

Ein 2002 erscheinender Sammelband „Pädagogik der Anerkennung“ (HAFENEGER u.a. 2002) enthält weitere Positionsmarken zum Verhältnis von Anerkennung und Pädagogik. Alfred Scherr nimmt in seinem Beitrag beispielsweise die pädagogische Relevanz von sozialer Anerkennung und Subjektivität für die organisierte Erziehung und Bildung in den Blick, deren Aufgabe es im Anschluss an die Überlegungen der kritischen Gesellschaftstheorie sei, „gegenseitige Anerkennung und individuelle Autonomie zu ermöglichen“ (SCHERR 2002, S. 29). Wesentlich sei die prozessuale Verbundenheit von Subjektivität und Anerkennung (vgl. ebd., S. 30). In Schulen sind allerdings beispielsweise aufgrund ihrer Selektionsfunktion „die Möglichkeiten der Anerkennung des Schülers als autonomes Subjekt seiner Lebenspraxis eng begrenzt“ (ebd., S. 31).

An den besonderen Gegebenheiten in der schulischen Bildung setzen Werner Helsper, Sabine Sandring und Christine Wiezorek (2005) an. Soziale Anerkennungsverhältnisse in Schulen knüpfen zwar immer an den Selbstbeziehungsmodus der emotionalen Beziehungen an, aber Anerkennung wird zugleich in den Sphären rechtlicher Anerkennung und sozialer Wertschätzung zuteil. Die Autoren sehen in schulischen Anerkennungsverhältnissen eine enge, spezifische Verbundenheit der Anerkennungsmodi des Rechtes und der sozialen Wertschätzung, die in dieser Form nur dort vorkomme (vgl. HELSPER u.a. 2005, S. 191). Dafür entwerfen sie die Kategorie der „institutionellen Anerkennung“ (vgl. ebd.). Ob institutionelle Anerkennungserfahrungen auf die ganze Person ausstrahlen und wie sich die Spannung zwischen Gewährung gleicher Rechte und Berücksichtigung individueller Ausgangslagen der Schüler auf das Lehrerhandeln auswirkt, sind daraus folgende Fragestellungen (vgl. ebd.). Davon ausgehend sei zu überlegen, wie in Schüler-Lehrer-Interaktionen „Übergänge zwischen moralischer Achtung, institutioneller Anerkennung und sozialer Wertschätzung verlaufen“ (ebd., S. 194).

Von der begründeten Annahme einer Verbundenheit der Prozesse Anerkennung, Subjektentwicklung und Bildung ausgehend, entwickelt Krassimir Stojanov (2006) den Ansatz zu einer Bildungstheorie weiter. Stojanov attestiert der Anerkennungskategorie ein „sehr hohes und innovatives bildungstheoretisches und pädagogisches Potential“ (STOJANOV 2011, S. 69f.), weil sie erlaubt, Bildungsprozesse als soziale Prozesse zu analysieren und die sozialen Verhältnisse, in die sie eingebettet sind, auf ihre Normen und Wirkungen hin zu befragen (vgl. ebd., S. 70). Seine Erweiterung zu einer Bildungstheorie enthält die von Honneth vernachlässigte Entwicklung von Weltbeziehungen, die in einem Verständnis von Bildung als „parallele Transformation von Selbst- und Weltbezügen“ (STOJANOV 2006, S. 108) von elementarer Wichtigkeit sind. Die Weltbeziehungen fungieren als Referenz, ohne die die Dynamik von Anerkennungsprozessen nicht nachvollzogen werden kann5 (vgl. ebd.). Stojanov erweitert schließlich die Honneth’sche Zuordnung der drei Anerkennungsformen zu Selbstbeziehungsmodi um die Dimension der Weltbeziehungsmodi Ideale, Propositionen und subjektive Theorien:

Tab. 1: Anerkennung und Beziehungsmodi


(STOJANOV 2006, S. 146)

Gelungene Bildungsprozesse zeichnen sich demnach durch eine anfängliche Entstehung von Selbstvertrauen aus, welches sich zu Selbstachtung und schließlich Selbstschätzung weiterentwickelt, wie von Honneth dargestellt. Die komplementäre Entwicklung der Weltbeziehungsmodi vollzieht sich in der Entstehung von Idealen als Vorform von Weltbezügen, die dann propositional artikuliert werden müssen, um soziale Wertschätzung erhalten zu können. Dies setzt positive Erfahrungen mit der Anerkennungsform des moralischen Respektes voraus. Soziale Wertschätzung führt zu einer Verdichtung von Idealen zu subjektiven Theorien, die wiederum innerhalb der Diskursgemeinschaft als Positionierung wiedergegeben werden und Anerkennung oder Missachtung erfahren können (vgl. STOJANOV 2006; 2011). Für Bildungsprozesse sind also analog zu den Stufen der Selbstbeziehungsmodi auch für die Weltbeziehungsmodi Anerkennungserfahrungen konstitutiv. Erfahrungen der Missachtung wirken sich demnach auch hemmend auf Bildungsprozesse aus. Für die schulische Bildung stellt sich die Frage, welche institutionellen Funktionen, Interaktionsmuster und pädagogischen Praktiken die Anerkennungsformen Empathie (Liebe), moralischen Respekt und soziale Wertschätzung verkörpern. Stojanov resümiert, Anerkennungsverhältnisse seien „Voraussetzung und Triebwerk von Bildung“ (STOJANOV 2006, S. 168f.), nicht deren Zieldimension. Er folgert in Bezug zu Aufgaben institutioneller Pädagogik, dass aus anerkennungstheoretischer Sicht Bildungsprozesse initiiert, ermöglicht und unterstützt werden können, wenn eine „Wahrnehmung der lebensweltlichen Vorstellungen und der ansozialisierten Ideale der Heranwachsenden und der Einbeziehung dieser Vorstellungen und Ideale in die bildungsbezogenen Interaktionen“ erfolgt (ebd., S. 217). Vonnöten sei dafür außerdem die „Anerkennung des Potentials der Heranwachsenden, diese Vorstellungen und Ideale zu konzeptionellen Inhalten durch die Übernahme der Perspektive einer eingrenzten Diskursgemeinschaft im Zuge der Überschreitung der ursprünglich privat-partikularen Horizonte der Selbst- und der Wirklichkeitsdeutung transformierend-propositional zu artikulieren“ (ebd., S. 217). Bildungsfähigkeit in diesem Sinne kann als Fähigkeit, über den jeweils aktuell gegebenen Stand des Wirklichkeitsbezuges und der Selbstwahrnehmung hinauszugehen, verstanden werden. Dabei müssen sich Heranwachsende und Pädagogen in „ihrer reellen oder potentiellen Subjektivität anerkennen“ (STOJANOV 2011, S. 71) – ein sehr wichtiger Punkt, da ja pädagogische Verhältnisse erst auf eine Entfaltung von Mündigkeit und Autonomie abzielen und Pädagogen daher eine antizipierte Subjektivität anerkennen müssen, die als Bedingung der Ermöglichung von Freiheit verstanden wird (vgl. ebd.).

Dieser Aspekt wird von Norbert Ricken aus einer poststrukturalistischen Sicht heraus interpretiert (RICKEN 2006; 2009; BALZER/RICKEN 2010; RICKEN 2013). Dabei stellt er gemeinsam mit Nicole Balzer vor allem die Ambivalenz des Anerkennungsbegriffes aus pädagogischer Perspektive heraus, der eben nicht von reeller oder erwarteter Gleichwertigkeit der Anerkennung in pädagogischen Verhältnissen ausgehe, sondern die Asymmetrie der Verhältnisse betont: Anerkennung wird mit Judith Butler zu einem „paradoxen Ort der Macht“ (BALZER/RICKEN 2010, S. 67). Die Herausforderung sei eine anerkennungstheoretische Reformulierung pädagogischer Antinomien: Wie kann der bestätigende und stiftende Charakter von Anerkennung mit pädagogischem Handeln, dessen Grundzüge Bejahung wie Negation beinhalten, zusammengebracht werden (vgl. ebd., S. 71)? Dies verweist auf die von Kant formulierte Paradoxie „Wie kultivierte ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (KANT 1977, S. 711; A 32) und damit auf ein pädagogisches Grundproblem. Nicole Balzer und Norbert Ricken systematisieren die im gegenwärtigen Diskurs enthaltenen Dimensionen der Anerkennung und versuchen anschließend, die moralische und ethische sowie die kulturelle Praxis ‚Anerkennung‘ in eine analytische Kategorie zu überführen, was unter Bezugnahme u.a. auf Werke Axel Honneths, Charles Taylors, Jessica Benjamins, Judith Butlers, Alexander Garcia Düttmanns sowie Tzvetan Todorovs erfolgt (vgl. BALZER/RICKEN 2010). Sie schlagen vor, Anerkennungshandeln als Adressierungshandeln zu fassen, was den Vorteil hat, die konstitutive und performative Dimension von Anerkennung mitberücksichtigen zu können (vgl. ebd.). In einer solchen Sicht wird die mit Anerkennung einhergehende Selektion eines Adressaten und dessen Reaktion offenbar, des Weiteren die Definition der Situation und eine Normation dessen, was als anerkennbar gilt, weiter eine Positionszuweisung innerhalb des Ordnungsrahmens und das Ins-Verhältnis-setzen zu sich selbst und schließlich eine Valuation, also eine Wertzuschreibung, die der Selektion und Positionierung implizit ist (vgl. RICKEN 2013). Diese Dimensionen können als Grundlage für eine empirische Erforschung dienen (vgl. ebd.). Ein so gefasster Anerkennungsbegriff geht weit über Honneths Begriff von Anerkennung als „Affirmierung positiver Eigenschaften von menschlichen Subjekten oder Gruppen“ (HONNETH 2010, S. 110) hinaus.

Zusammenfassend kann man dem Anerkennungskonzept ein großes Potential als Kategorie in Pädagogik und Bildung zusprechen, wenn auch eine Systematisierung noch nicht zufriedenstellend ist, da hinsichtlich der Bezugstheorien, wie oben dargestellt, von unterschiedlichen Prämissen ausgegangen wird.

Bildung an ihren Grenzen

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