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2. Die frühe Thematisierung pädagogischer Forschungsfragen in der Bildungstheorie der antiken Paideia

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Der Horizont der antiken Paideia war viel weiter als der der neuzeitlichen Pädagogik. Paideia (paideia) meint Entwicklungsprobleme des Menschen, die das gesamte Leben bis zum Tod umfassen und in denen Kindheit und Jugend noch keine zentrale Rolle spielen (vgl. RUHLOFF 2014). Dies lässt sich bis in die antiken Mythen und die an sie anschließende philosophische und wissenschaftliche Begriffsbildung hinein verdeutlichen.

Von Kindern und Jugendlichen ist weder im griechischen Mythos von der Ausstattung des Menschen noch im jüdischen Mythos von der Erschaffung des Menschen die Rede. Epimetheus, Prometheus und Zeus wirken im griechischen, von Platon im Dialog Protagoras (PLATON: Protagoras 320 d–322 d) reflexiv bearbeiteten Mythos bei der Ausstattung des Menschen zusammen. Dem von Epimetheus zunächst unausgestattet belassenen Menschen verschafft Prometheus die Fähigkeit, Technik zu entwickeln, und verleiht Zeus die weitergehenden Fähigkeiten des Rechtsempfindens (διχη) und der Scham (αιδως) und damit die Möglichkeit, mit deren Hilfe Sitte und Moral hervorzubringen. Die Erziehungstatsache, dass der Mensch nicht als Erwachsener zur Welt kommt, sondern als Kind geboren wird, bleibt im griechischen Mythos von der göttlichen Ausstattung der Menschen ebenso unreflektiert wie in der jüdisch-christlichen Erzählung von der Erschaffung eines ersten Menschenpaares; Adam und Eva sind im Paradies nicht nur kinder-, sondern auch elternlos.

Die im antiken Mythos beschriebenen Phänomene und reflektierten Sachverhalte sind noch in der philosophisch-theoretischen Begriffsbildung wirksam. Kinderlos leben auch noch die Menschen in Platons Kunstmythos von der Höhle als dem Ausgangsort menschlicher Bildung. In der sich im 7. Buch von Platons Staat findenden Höhlenerzählung (Politeia 514 a–521 b) tauschen sich Erwachsene, auf Sitzen so gefesselt, dass sie den Blick nicht wenden können, über Weltdinge aus, die sie auf einer Höhlenwand wahrnehmen. Einer von ihnen wird gewaltsam entfesselt und gezwungen, den Blick von den Schatten ins Licht und von der Höhle zur überirdischen Welt zu lenken und nach dem Wahren und Guten zu fragen. Die Umlenkung des Blicks, die Platon mit Verweis auf das Beispiel des Sokrates beschreibt, ist nicht eine solche in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, sondern dient der Bildung und Legitimation einer philosophischen Klasse im Staat. Sie zielt auf die Begründung der politischen Funktion eines höchsten Standes gegenüber anderen Ständen der Polis, deren Angehörige die Wendung des Blicks von den Tatsachen zur Frage nach den Ursachen und Gründen nicht vollziehen können und auch nicht dazu bestimmt sind, dies zu tun.

Die bildungstheoretischen Folgerungen, die Platon aus dem von ihm selbst konzipierten Kunstmythos zieht, sind nicht nur theoretisch-diskursiver Art, sondern besitzen eine programmatisch-experimentelle Seite. Sie zeigen ein Gedankenexperiment an, das zur Ausführung praktischer Experimente anregen will, die im Rahmen der moralisch-politischen Ordnung der Polis unternommen werden sollen. Deren Leitung und Führung will Platon nicht in die Hände von Liebhabern der Macht geben und auch nicht Glückseligen überlassen, sondern bei einem Stand philosophisch reflektierender Menschen verorten, die nach dem Wahren und Guten fragen und negative Erfahrungen bei der Entwicklung von Antworten erleiden, reflektieren und bearbeiten können (vgl. BENNER/STĘPKOWSKI 2012).

Platons Höhlenerzählung hat nicht nur die angesprochene bildungstheoretische und politische, sondern auch eine erziehungstheoretische und pädagogische Seite, die jedoch in seiner Abhandlung über den Staat auf eigentümliche Weise unausgelegt bleibt. Man könne, so lautet die bildungstheoretische Folgerung, blinden Augen kein Gesicht einsetzen, Bildungsprozesse seien nämlich nicht als Einübung eines bestimmten Blicks, sondern als die Umlenkung des Blicks und die Verarbeitung negativer Erfahrungen angewiesen. Was dies in pädagogischen Kontexten bedeutet, behandelt Platon nicht in der Politeia, sondern lässt er Sokrates im Dialog Menon am Beispiel einer geometrischen Lektion über den Satz des Pythagoras zeigen. In dieser lernt ein Knabe, der sich noch nie mit Sätzen der Geometrie befasst hat, nach dem Doppelten des 2 mal 2=4-füßigen Quadrats zu fragen. Mit Hilfe des Sokrates, der ihn zu einer Lenkung des Blicks von den horizontalen und vertikalen Linien verschiedener Quadrate zur Diagonale auffordert, findet er schließlich das gesuchte 8-füßige Quadrat in dem über der Diagonale des vierfüßigen Quadrats zu errichtenden Quadrat (vgl. BENNER/ENGLISH 2004).

Eine systematische und forschungsbasierte Antwort auf die Frage, was unter der Umlenkung des Blicks zu verstehen ist, findet sich dann in der Metaphysik des Aristoteles und in dessen einzelwissenschaftlichen Abhandlungen, z.B. in der Physik, der Psychologie oder der Politik. Überall interpretiert Aristoteles den von Sokrates und Platon beschriebenen bildenden Blickwechsel teleologisch als Rückgang von der Erfahrung zur Zweck-Ursache, die der Erfahrung, in dieser noch unerkannt, zugrunde liegt. Zweckursachen erkennt Aristoteles nicht nur im Prinzip der Art, das verschiedene Erscheinungsformen von Lebewesen (z.B. Huhn und Ei) als deren Zweckgrund verbindet, sondern auch in physika lischen, moralischen, politischen und nicht zuletzt in für die Kinder- und Jugender ziehung grundlegenden Ordnungen. Die Analyse basaler teleologischer Strukturen baut Aristoteles zu einem Forschungsprogramm aus, das bis zum Beginn der Neuzeit wirkungsmächtig war und heute noch für eine Unterscheidung pluraler Wissensformen und Forschungsparadigmata bedeutsam ist (vgl. BENNER 2009).

Unter dem Rückgang zum Grund versteht Aristoteles in allen Gebieten des Fragens und Wissens einen Rückgang von der Erfahrung zu deren Material-, Form-, Wirk- und Zweckursachen, von denen er insbesondere den Zweckursachen eine bildende Bedeutung zuerkennt (vgl. ARISTOTELES: Physik 190 a–b). Physik ist nach Aristoteles die Wissenschaft von den Zweckursachen der Natur, Psychologie die Wissenschaft von den Zweckursachen seelischer Prozesse, Politik die Wissenschaft von den Zweckursachen eines vernünftigen Lebens in der Polis. Die Ordnung der Zweckursachen des Natürlichen, Psychischen und Politischen stellt nach Aristoteles nicht nur die wissenschaftliche Grundlage für alle Bewegungen und Prozesse in der Natur, im richtigen Denken und vernünftigen gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen dar, sondern bestimmt auch die Bildung und Entwicklung des Menschen selbst. Diese deutet er als einen Prozess, in dem aus einem zunächst ungebildeten Menschen, der die verschiedenen Ursachen noch nicht zu unterscheiden vermag und um die Bedeutung der Zweckursachen noch nicht weiß, ein Mensch wird, der im Bereich der Natur, der Psyche, der Moral und der Polis Zweckursachen erkennen und sein Wissen und Handeln nach diesen ausrichten kann.

In seiner Physik verdeutlicht Aristoteles den teleologischen Zusammenhang am Beispiel eines Einkaufs auf dem Marktplatz. Begegnet dort ein ungebildeter Mensch, der nicht um die Ordnung der handlungsanleitenden Zweckursachen weiß, einem Mitbürger, der ihm Geld schuldet, so wird er die Begegnung als einen willkommenen Anlass zu nutzen suchen, das geliehene Geld einzutreiben. Ein gebildeter, um die Zweckordnung des Marktplatzes wissender Mensch wird dagegen in der zufälligen Begegnung auf dem Marktplatz anerkennen, dass der Markt ein Ort ist, an dem Leute Einkäufe tätigen, diesen Zweck achten und die Begegnung nicht zum Schuldeneintreiben nutzen (vgl. ARISTOTELES: Physik 196 a).

Die angedeuteten Zusammenhänge zwischen der Frage nach der Ordnung der Zweckursachen und der Führung eines guten Lebens suchte Aristoteles durch ein umfassendes Forschungsprogramm zu klären, das in allen Bereichen des Wissens und Handelns Material- von Formal- sowie Wirk- und Zweckursachen unterscheidet und Ort und Zeit als teleologisch bedeutsame Kategorien interpretiert. Das aristotelische Programm zur Klärung der Zweckursachen hat nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern zugleich eine bildungs- und eine erziehungstheoretische Seite. Die bildungstheoretische Seite zeigt sich darin, dass Aristoteles den Zweckursachen eine herausragende Bedeutung für den Sinn und die Orientierung menschlichen Handelns zuerkennt. Die erziehungstheoretische Seite tritt dort hervor, wo er betont, dass nur Menschen, die um die Kategorien wissen, den Blick von der Erfahrung zu den Zweckursachen wenden und andere unterrichten können. Wer die Welt und die Polis nur aus Erfahrung kennt, kann nicht lehren. Über didaktische Kompetenzen verfügt nur der, der den Rückgang von der Erfahrung zu den Gründen hinter sich hat und daher andere auf diesen Weg zu führen versteht (vgl. ARISTOTELES: Metaphysik 980 a–981 b).

Das von Aristoteles konzipierte und realisierte Forschungsprogramm war von Anfang an keines für Lehrer im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, sondern ein Programm für ausgewiesene und angehende philosophische Wissenschaftler. Zwar forderte er eine gemeinsame Erziehung der nachwachsenden Generationen in öffentlichen Schulen, in denen grundlegende Kenntnisse und gemeinsame Handlungsweisen für das Zusammenleben der Bürger erlernt und eingeübt werden sollen (vgl. ARISTOTELES: Politik 1337 a 21ff.). Kinder- und Jugenderziehung definierte er als Vermittlung der elementaren Techniken des Lesens, Schreibens und Zeichnens und als Einführung in die Sitte. Die theoretisch-philosophischforschende Betätigung der Bürger verortete er in einer Zeit nach dem Ende der Erziehung. Unter ihr verstand er eine theoretische Praxis zwischen älteren und jüngeren Erwachsenen, deren Erziehung längst abgeschlossen ist.

Die in der Erkenntnis von Zweckursachen liegende Seite der vernünftigen Rede über die Bildung des Menschen war somit auch bei Aristoteles weniger erziehungstheoretisch motiviert und nicht primär auf das Verhältnis der Erwachsenen zur nachwachsenden Generation ausgerichtet, sondern primär bildungstheoretisch konzipiert. Das Theorieprogramm der Erkenntnis der grundlegenden Zwecke in der Natur, der Psyche und der Gesellschaft war ein teleologisches Forschungsprogramm, das u.a. auch der Fundierung der Paideia, der Bildung des Menschen in dessen ganzer Lebensspanne, dienen sollte.

Bildung an ihren Grenzen

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