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Einleitung
ОглавлениеBildung an ihren Grenzen zu denken bedeutet ein Ausloten dessen, was unter „Bildung“ in vielfältigen Hinsichten verstanden werden kann, was sie ausmacht und zugleich von anderen Denkfiguren und Erfahrungsbeständen unterscheidet. An Grenzen zu denken heißt dabei immer auch innerhalb ihrer über sie hinaus zu denken. Es ist darin stets ein kritisches Unterfangen, und so steht sie – auch aus den Perspektiven sehr unterschiedlicher Forschungsrichtungen und -traditionen – auf dem Spiel. Bildung ist am Ende ein offener Begriff, der sich der Bestimmtheit und erst recht der Letztbegründung entzieht. Insbesondere im Zwischenraum von Bildungstheorie und Bildungsforschung, zwischen Begriff und gleichsam empirischer Anschauung, sind Grenzverschiebungen, Zusammenschlüsse, gelegentlich territoriale Verteidigungen bis hin zu gewissermaßen wissenschaftstheoretisch fragwürdigen Übergriffen anzutreffen. Doch gerade dieser Zwischenraum erlaubt ein Denken an den eigenen Grenzen, das sich zugleich herausfordern und befragen lässt, vielleicht mit dem Ziel, das zu denken, was im eigenen Denken nicht vorgesehen war. In diesem Sinne und in dieser Anbindung beziehen sich die nachfolgenden Beiträge des Bandes auf ein Symposion, das am 05. Juli 2013 in Dortmund unter dem Titel „Biografie und Bildung. Engagiertes Denken zwischen Bildungsphilosophie und Empirie“ zu Ehren des 60. Geburtstages von Lothar Wigger stattgefunden hat. Neben den dort präsentierten Vorträgen haben weitere Kolleginnen und Kollegen sich aus ihrer Sicht zu den aktuellen Fragen eines engagierten Nachdenkens über Bildung geäußert. Die Beiträge knüpfen in unterschiedlicher Art und Weise an die wissenschaftlichen Arbeiten von Lothar Wigger an, die sich sowohl durch bildungsphilosophisches Denken als auch durch das Bestreben auszeichnen, diese bildungsphilosophischen Überlegungen empirisch wirksam werden zu lassen. Die Schnittstelle zwischen Bildungsphilosophie und Empirie zeigt sich dabei vor allem in den Untersuchungen von Biografien, die unter anderem von den Gedanken der Anerkennung und der Gerechtigkeit getragen sind. In Bezug auf den Begriff der Bildung kommt damit dem Weltbezug als gesellschaftlichem Phänomen eine besondere Bedeutung zu.
Die Beiträge des Sammelbandes zeigen die Vielgestaltigkeit der Zwischenräume von Bildungstheorie sowie Bildungsforschung und ein engagiertes Denken an den Grenzen von Bildung auf. Das Ziel der Klärung des Verhältnisses von Theorie und Empirie verfolgt der Beitrag von Dietrich Benner und Dariusz Stnpkowski, die die Fragestellung international wenden und ein Forschungsvorhaben vorstellen, das am Beispiel von zwei erziehungswissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten von Studierenden der Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego in Warschau und der Humboldt-Universität zu Berlin die Beziehungen von philosophischer Pädagogik und empirischer Forschung erkundet.
Einen anderen Zwischenbereich von bildungstheoretischen Überlegungen und empirischer Prüfung aufgreifend, bezieht sich der Beitrag von Veronika Manitius, Ina Semper, Nils Berkemeyer und Wilfried Bos auf die Bildungsberichterstattung und diskutiert, inwieweit diese Auskunft über Anerkennungsprozesse geben kann. In die Auseinandersetzung um Bildung verschränken sich hier die Begriffe der gesellschaftlichen Teilhabe und der Gerechtigkeit.
Einen strukturellen Zugang zum Thema bietet der Beitrag von Andreas Dörpinghaus, der Bildung als eine begriffliche Fähigkeit beschreibt. Sie stellt sich als eine Fähigkeit zur Distanz dar, die zugleich als empirisch gedacht wird, weil sie an die Erfahrung gebunden ist, als auch als reflexiv, weil sie erst in der verzögernden Überlegung aktiv wird. Eine solche Analyse von Bildung schafft eine Grundlage, um bildungsökonomische Beschleunigungsprozesse zu kritisieren. Eine kritische Konturierung des Bildungsbegriffs erarbeitet der Beitrag von Andreas Gruschka, der ebenfalls auf bildungsökonomische Verflechtungen hinweist. Zur Kritik steht hier der aktuelle Trend zur Vergabe von Preisen in der Pädagogik am Beispiel des Deutschen Schulpreises, um im Anschluss daran die Aussagekräftigkeit solcher Preise zu problematisieren. An der Praxis der Schulpreise bildet sich demzufolge eine bedenkliche Tendenz ab, die Inhalte von Bildung mehr und mehr aus den Augen zu verlieren.
Klaus-Peter Horn greift in seinem Beitrag den Begriff der Biografie auf eine besondere Weise auf, indem er, vor dem Hintergrund der Spezialisierung Lothar Wiggers auf das Gebiet der Biografieforschung, Ausschnitte der Biografie und der Forschungsschwerpunkte Lothar Wiggers selbst darstellt. Dem Text liegt die Laudatio zugrunde, die Klaus-Peter Horn auf dem Festakt gehalten hat. Ebenfalls biografisch orientiert, wenn auch auf eine andere Weise, ist der Beitrag von Toshiko Ito, der anhand der Biografie des japanischen Pädagogen Inazo Nitobe, der maßgeblich an der Modernisierung des japanischen Bildungskonzepts im 19. Jahrhundert beteiligt war, eine Gegenüberstellung von japanischer und deutscher Kultur in den Blick nimmt. Der Bildungsbegriff wird hier insofern konturiert, als er mit Bezug auf die Hegel’sche Vorstellung vom Widerspruch als genuinem Bestandteil von Bildung eine bildungstheoretische Überlegung Lothar Wiggers weiterdenkt.
Eine Perspektive der Wissenschaftsforschung auf den Zusammenhang von Bildungstheorie und -empirie nimmt Peter Kauder in seinem Beitrag ein, indem er sich mit dem Vorwurf gegenüber Alfred Petzelt auseinandersetzt, empiriefeindlich zu sein. Kauder nimmt zu diesem Vorwurf unter anderem auf der Grundlage von Veröffentlichungen Petzelts und unter Berücksichtigung von dessen Biografie kritisch Stellung und arbeitet die Bedeutung und die Auswirkungen des Vorwurfs innerhalb der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren heraus. Anknüpfend an die vielfältigen Arbeiten Lothar Wiggers zu Hegels Bildungstheorie konzentriert sich der Beitrag von Lutz Koch auf eine Erläuterung des Hegelwortes vom „Anfang der logischen Bildung“. Die systematische Herangehensweise an eine solche Bestimmung von Bildung, wie Koch sie hier vornimmt, spiegelt sich in der Vorstellung Hegels, dass eines der edelsten Bildungsmittel das Studium der Grammatik sei.
In dem Zwischenfeld von Bildungstheorie und Bildungsforschung bewegt sich auch der Beitrag von Ulrike Mietzner, der mit dem Medium autobiografischer Fotobücher arbeitet und an diesen die Beobachtungen von Selbst und Welt herausstellt. Anknüpfend an Koller und Waldenfels zeigt sich Bildung hier als fluide, die nicht notwendig in Lösungen endet. „Bildung in biografischen Konfigurationen“ untersucht Hans-Rüdiger Müller in seinem Beitrag, in dem er mit Hilfe eines konkreten Fallbeispiels eines Interviews mit dem Jugendlichen Hakan Salman auf das Verhältnis von Bildung und Biografie reflektiert. Dabei stellt Müller heraus, dass Bildungsbewegungen nicht nur in der Zeit zu fassen seien, sondern auch in sozialräumlicher Perspektive, dass sie die „bildenden Vergemeinschaftspraxen“ in den Blick nehmen sollten und dass der sozialisierenden Funktion von Bildung mehr Aufmerksamkeit zu schenken sei.
Sozialisation spielt in dem Beitrag von Sigrid Nolda insofern eine Rolle, als sie die Bedeutung von Sprache für Bildung an den Anfang ihrer Überlegungen stellt. Spezifischer stellt sie sich die Frage nach der Bedeutung des Fremdsprachenlernens Erwachsener innerhalb der Biografieforschung und erörtert auf der Grundlage zweier Interviews mit erwachsenen Fremdsprachenlernern, ob auch das Fremdsprachenlernen Erwachsener als Bildungserfolg verstanden werden kann. Auch Harm Paschens Überlegungen kreisen um die Frage der Konstruktion von Biografie und der gesellschaftlichen Konstruktion des Biografischen in der wissenschaftstheoretischen Reflexion. Dabei stellt er die Idee des Kontingenten insofern in Frage, als die „Wahrnehmung des Ich“ selbst eine sinnhafte Konstruktion sei, auch wenn dieses Ich nicht einfach als solches existiert, es aber eben doch nur als solches handeln kann. Die Bedingungen solchen Handelns zeigt er dann in der Verhaftung der Gesellschaft und den eigenen Erfahrungen in dieser.
Als literarisch gestaltete Erinnerung und damit einem der Autobiografie ähnlichen Material steht die Berliner Kindheit von Walter Benjamin im Mittelpunkt des Beitrags von Barbara Platzer. An ihr erprobt sie das Konzept einer „erinnernden Bildung“, die einen Raum zwischen der erinnerten Kinderperspektive und der erinnernden Erwachsenenperspektive eröffnet und so selbstverständlich scheinende Urteile erneut zur Disposition stellt. Markus Rieger-Ladich beginnt seine Studie mit der Feststellung von radikalen Geschehnissen im Lebensverlauf, die im Nachhinein von den Biografen in einen sinngebenden Zusammenhang gestellt werden, die Biografie erst erzeugen, statt deren Kontingenz zu akzep tieren. Gleichzeitig stellt er den permanent erzeugten Fortschritt in Frage. Die Werke von Alexander Kluge und Nicholas Baker dienen ihm als Ausgangspunkt, um zu zeigen, dass sich Leben nicht linear oder krisenhaft entwickelt, sondern aus einer „Verkettung kontingenter Ereignisse“.
Der Beitrag von Jörg Ruhloff nimmt das Bildungsdenken Platons, vor allem die Ausführungen des Höhlengleichnisses, zum Anlass, um über den Anfang der Lehre in der Allgemeinen Pädagogik zu reflektieren. Daran anknüpfend stellt Ruhloff einen Bildungsgang vor, der nicht nur das Nichtwissen als solches kenntlich werden lässt, sondern in dem auch „systematisch studiert und gelernt werden müsste“, um schließlich ein Fragen ohne vorgefertigte Lösungen kultivieren zu können. Alfred Schäfer wertet in seinem Beitrag empirische Daten aus, die in zwei DFG-Projekten zu Fremdheitserfahrungen auf Reisen nach Mali und nach Indien erhoben wurden. Dabei untersucht er die Frage, inwieweit überhaupt Selbst-Bildungsprozesse auf solche Erfahrungen zurückgehen und ob sie unterscheidbar sind von „erlebten Erlebnissen“. Zudem stößt er auf die Frage, inwieweit man überhaupt vom Subjekt eines solchen Bildungsprozesses sprechen kann, wenn dieses gar nicht über die Vorgänge selbst verfügen kann und das nicht nur methodologisch relevante Problem besteht, dass die Erfahrung und die Artikulation dieser Erfahrung nicht ineinander aufgehen können.
Die „Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen“ steht in dem Beitrag von Heinz-Elmar Tenorth im Mittelpunkt, und sie wird als eine grundsätzlich unterschiedliche beschrieben. Einen Bogen zwischen empirischer Forschung und bildungstheoretischer Auseinandersetzung spannt der Beitrag insofern, als er an die Notwendigkeit des Einbezugs anderer Disziplinen wie der Sozialisation oder der Biografieforschung in die Bildungstheorie erinnert, um Bildung und Bildungsprozesse erfassen und benennen zu können. Einen Nachbarbegriff der Bildung, nämlich den der Erziehung, unterwirft der Beitrag von Peter Vogel einer eingehenden Untersuchung. Dabei geht es ihm nicht um eine (weitere) Bestimmung des Begriffs, sondern um die Frage, wie er in der Erziehungswissenschaft verwendet werden kann. Dazu beleuchtet er sowohl die metatheoretischen Probleme, die die Auseinandersetzung um Erziehung mit sich bringt, als auch mögliche Folgerungen für die erziehungswissenschaftliche Nutzung des Begriffs.
Das Ziel der hier vorliegenden Auseinandersetzung um Bildung ist es nicht, etwa eine Bildungstheorie zu kreieren, sondern im Sinne eines engagierten, kritischen Denkens ein Bild der sich überlappenden Bildungsdiskurse aufzuzeigen, das das Weiterdenken im Sinne eines Brückenschlages von Theorie und Empirie vorantreibt. Die verschiedenen Beiträge versprechen eine solche Öffnung des Blicks.
Nicht zuletzt sei hier festgehalten, dass eine Festschrift nicht entstehen kann ohne die vielen helfenden Hände, die im Hintergrund agieren. Deshalb sei hier nicht nur den Beiträgern und Beiträgerinnen gedankt, sondern auch Andreas Bachmann, Sarah Fladung, Renate Geudner, Simon Gmeiner und Lena Leimkötter für ihre aufmerksame und engagierte Mitarbeit an der Fertigstellung des Manuskripts.
Andreas Dörpinghaus | Ulrike Mietzner | Barbara Platzer