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Schluss: Kollektives Gedächtnis und die Frage des historischen Unrechts – ihre Bedeutung für heute
ОглавлениеEbenso stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass diese lange Geschichte des Kampfes der Frauen bislang kein Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz ist? Während das kulturelle Gedächtnis nach Jan Assmann vor allem das wissenschaftlich basierte Erinnern in Form von Forschungen, Ausstellungen, Archiven ist, ist das kollektive Gedächtnis eine politisch und medial ausgearbeitete Form des offiziellen Erinnerns in Unterrichtsmaterial, Denkmälern, Reden, Festen und Ritualen.41 Das heisst, das kollektive Gedächtnis stellt die Selbststilisierung und Affirmation einer Gesellschaft mit dem Ziel der Stiftung einer nationalen Identität dar. Um dieses Selbstbild wird gesellschaftlich ständig gerungen: Was, wer und wie erinnert wird oder nicht, ist stets Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse, und es ist bis heute zutiefst vergeschlechtlicht.
Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz zu sein, würde kollektive Formen bedeuten, in denen die Geschichte des Frauenstimmrechts erinnert und seine Errungenschaft öffentlich gefeiert würde. Damit aber könnte sich stets erneut die Frage stellen, ob die wiederholte Verweigerung des Stimmrechts nicht doch Unrecht gewesen ist. Eine Frage, die bislang öffentlich zu stellen vermieden wurde, die aber spätestens mit der Botschaft von 1957 klar mit Ja zu beantworten ist. Denn ab da war die Verweigerung des Frauenstimmrechts – sogar im eigenen Selbstverständnis – ein Verstoss gegen die Demokratie und die Gerechtigkeit und damit Unrecht.
Nach Aleida Assmann hat Verschweigen meist mit «Schuld und Scham» zu tun. Es fehlt «der Wille zur Thematisierung»42 und dient dazu, vor «etwas Irritierendem, Unbewältigtem und Unpassendem» die Augen zu verschliessen.43 Möglicherweise hat also das Schweigen über die späte Einführung des Frauenstimmrechts im kollektiven Gedächtnis der Schweiz etwas mit Schuld und Scham zu tun?
Es kann aber auch sein, dass die Verweigerung des Stimmrechts noch immer nicht wirklich als Unrecht begriffen wird. Man(n) sich nach wie vor im Recht dünkt. Schliesslich waren die patriarchalen Geschlechterverhältnisse doch schlicht selbstverständlich.
Vielleicht aber wird es inzwischen sogar als Unrecht erkannt. Dies offiziell als solches anzuerkennen, wäre jedoch etwas anderes. So gab es bislang noch keinen öffentlichen Akt der Entschuldigung. Eher findet man Versuche, sich und anderen immer wieder zu bestätigen, dass es kein Unrecht war – obwohl es spätestens, wie gezeigt, mit der Botschaft von 1957 als solches gewusst war. Ein solches Eingeständnis würde einen Bruch bedeuten. Doch kollektive Identität lebt von Kontinuität und Selbstgewissheit. Auch gälte es dann, eine andere Geschichte der Schweiz zu erzählen, eine, die nicht nur von Stolz über die eigenen (männlichen) Taten geprägt ist, wie es im Narrativ des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz bislang der Fall ist. Mit der Bewältigung von Unrecht tun sich viele Gesellschaften in ihrem Bedürfnis nach positiver Selbststilisierung schwer; die Schweiz ist da keine Ausnahme. Dies hat sich auch an der Verdrängung des Unrechts im Zweiten Weltkrieg gezeigt oder am langen Schweigen über das Unrecht an den «Verdingkindern» sowie im Zuge der eigenen Kolonialgeschichte.
Aber möglicherweise geht es noch um etwas anderes: An die Geschichte des Kampfes um das Frauenstimmrecht zu erinnern hiesse, aufmerksam zu machen auf die zutiefst männerbündische Struktur der Schweiz. Hiesse, den Blick auf mögliche Reste des patriarchalen Verständnisses in Demokratie und Gesellschaft zu richten sowie auf die tiefsitzende Auffassung natürlicher Geschlechterdifferenzen und der damit verbundenen Legitimierung der Diskriminierung von Frauen*. Die derzeit heftigen Polemiken von konservativen bis rechtsextremen Personen und Gruppen gegen den Feminismus und inzwischen mehr noch gegen die Geschlechterforschung, die sowohl am wissenschaftlichen Erinnern arbeiten als auch am Aufzeigen der nach wie vor heteropatriarchalen Gesellschafts- und Geschlechterordnung, machen nur zu deutlich, wie stark der Wille zur Bewahrung, wenn nicht Reaktivierung traditioneller Geschlechterverhältnisse ist. Schweigen vermeidet solch offizielles Erinnern an ebendiese patriarchale Struktur.
Die Feierlichkeiten 2021 zum 50-jährigen Jubiläum der Gewährung des Stimmrechts für Frauen wäre allerdings eine optimale Gelegenheit, dieses Schweigen zu durchbrechen. Eine Chance, einen (selbst)kritischen Blick auf die – bei allem Wandel – nach wie vor diskriminierenden Geschlechterverhältnisse und das patriarchale Verständnis von Demokratie zu richten. Eine Chance, diese Geschichte des Kampfes zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz werden zu lassen. Mehr noch: Es ist eine Chance, endlich offiziell anzuerkennen, dass die Verweigerung des Stimmrechts Unrecht war. Es ist an der Zeit.
Anmerkungen
1 Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Zürich 2007; Yvonne Voegeli: Zwischen Hausrat und Rathaus. Zürich 1997.
2 Meta von Salis: Die unerwünschte Weiblichkeit. Hg. von Doris Stump. Zürich 1988: 34. Von Salis war die erste promovierte Historikerin der Schweiz und eine bekannte Aktivistin für Frauenrechte.
3 Julie von May von Rued: Frauen-recht; in: Bund, 17. und 24. Oktober 1869: 3.
4 Ebd: 4.
5 Marie Goegg-Pouchoulin: Die Rede von Marie Goegg in Bern 26.9.1868, FrauenMediaTurm, das Archiv und Dokumentationszentrum, www.frauenmediaturm.de/themen-portraets/feministische-pionierinnen /marie-goegg/auswahlbibliografie/rede-in-bern (Zugriff am 10.4.2020).
6 Bundesblatt Nr. 10. Bern. 7.3.1957: 697. Die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten vom 22.2.1957 ist eine ausführliche Stellungnahme des Bundesrates anlässlich zweier Postulate von Ständerat Picot und Grendelmeier zu dieser Thematik (im Folgenden zit. als Botschaft).
7 Siehe Olympe de Gouges [1791]: Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin. In: Schröder, Hannelore (Hg.): Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation. Bd. I 1789–1870, München 1979.
8 Botschaft 1957: 697.
9 Ebd.: 782.
10 Ebd.: 783.
11 Der letzte kantonale Versuch wurde 1989 im Kanton Appenzell unternommen. Vgl. hierzu in diesem Buch den Beitrag von Isabel Rohner.
12 Botschaft 1957: 699.
13 Botschaft 1957: 700.
14 Ebd.
15 Beide Vereine umfassten immerhin fast 40 Prozent der Schweizer Frauen.
16 Botschaft 1957: 727; siehe Yvonne Voegeli: Zwischen Hausrat und Rathaus. Zürich 1997: 333.
17 Iris von Roten: Frauenstimmrechts-Brevier. Basel 1959: 13.
18 Botschaft 1957: 782f.
19 Ebd.: 680.
20 Ebd.: 674.
21 Siehe Botschaft 1957: 733f. zum Selbstbestimmungsrecht und der Frage, ob dies nicht ein Menschenrecht ist, das nun auch den Frauen «als Gebot der Demokratie» (ebd. 734) zugesprochen werden muss.
22 Ebd.: 740.
23 Caroline Arni: Republikanismus und Männlichkeit in der Schweiz. In: Der Kampf um gleiche Rechte. Hg.: Schweizerischer Verband für Frauenrechte. Basel 2009: 20–31.
24 Botschaft 1957: 666.
25 Ebd.: 668.
26 Ebd.
27 Ebd.: 670.
28 Ebd.: 730.
29 Ebd.: 731.
30 Ebd.
31 Ebd.
32 Maihofer: Geschlechterdifferenz – eine obsolete Kategorie? In: Grisard, Dominique/Jäger, Ulle/König, Tomke (Hg.): Verschieden sein. Nachdenken über Geschlecht und Differenz. Sulzbach/Taunus 2013: 27ff.
33 Botschaft 1957: 731.
34 Ebd.: 732.
35 Ebd.
36 Ebd.: 735.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd.: 771.
40 Ebd.: 795.
41 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. München 2018: 35ff.
42 Aleida Assmann: Formen des Schweigens; in A. Assmann/J. Assmann (Hg.): Schweigen. Paderborn 2013: 57.
43 Ebd.: 60.